Luka­shenka in der Klemme

© Shut­ter­stock

Will Wla­di­mir Putin eine Anne­xion von Belarus erzwin­gen? Die wirt­schaft­li­che Abhän­gig­keit des von Dik­ta­tor Aljaksandr Luka­shenka geführ­ten Nach­bar­lan­des spielt ihm in die Karten. Aber der Verlust der bela­rus­si­schen Sou­ve­rä­ni­tät wäre ein wei­te­rer Schlag des Kremls gegen die euro­päi­sche Ordnung.

Der Flug­ha­fen in Minsk begrüßt seine Gäste in drei Spra­chen: Rus­sisch, Bela­rus­sisch und Chi­ne­sisch. Die Bot­schaft ist ein­deu­tig. Hier ver­sucht sich ein auto­ri­tä­rer Führer dem Druck des Nach­barn im Osten durch Anleh­nung an China zu ent­zie­hen. Die Gerüch­te­kü­che über einen vom Kreml gewünsch­ten Anschluss brodelt schon lange. So soll Putin per­sön­lich die Order gegeben haben, das west­li­che Nach­bar­land bis zum Jah­res­ende von einer eura­si­schen Zoll­union in eine poli­ti­sche Union mit Russ­land zu über­füh­ren. Ein solches Manöver würde Spiel­raum für eine Ver­fas­sungs­re­form eröff­nen, die Putin gelegen käme. Die Amts­zeit­be­gren­zung würde fallen und den Weg für einen Prä­si­den­ten Putin auf Lebens­zeit frei machen. 

Portrait von Marieluise Beck

Marie­luise Beck ist Senior Fellow am Zentrum Libe­rale Moderne.

Kein Zweifel, diese Per­spek­tive schmeckt einem Prä­si­den­ten Luka­shenka nicht. Ein Leben als Vasall des großen Nach­barn im Osten? Das hat er sich anders vor­ge­stellt. So blieb Luka­shenka denn auch sperrig, als der Angriff auf die sich von Moskau eman­zi­pie­rende Ukraine begann. Die Anne­xion der Krim hat Belarus bis zum heu­ti­gen Tage nicht aner­kannt. Am 3. Juli ließ Luka­shenka ein sou­ve­rä­nes Belarus mit großem mili­tä­ri­schen Tamtam hoch­le­ben. 75 Jahre Belarus! Die Bot­schaft an Moskau war eindeutig.

Die Macht­mit­tel des Kreml jedoch sind erheb­lich. Seit Jahren gewährt der große Bruder ein ein­träg­li­ches Zubrot für den klammen bela­rus­si­schen Staats­haus­halt. Rus­si­sches Gas und Öl werden zu Inland­prei­sen gelie­fert. Belarus raf­fi­niert das Öl und leitet es zu Welt­markt­prei­sen auf den West­markt weiter. Die fak­ti­sche Sub­ven­tion beläuft sich auf bis zu 6 Mil­li­ar­den US-Dollar pro Jahr. Viel für das arme Belarus. Inzwi­schen aber auch viel für den Kreml, dessen öko­no­mi­sche Lage nicht rosig ist. In Russ­land drücken die Sub­ven­tio­nen, der Ölpreis ist gefal­len, die Bevöl­ke­rung altert, die soziale Lage vieler ist prekär und die geplante Her­auf­set­zung des Ren­ten­al­ters stößt auf mas­si­ven Unmut.

Luka­shenka gilt als der „letzte Dik­ta­tor Europas“

So ist ein Ende der brü­der­li­chen Sub­ven­tion abseh­bar. Sei es, um die rus­si­sche Staats­kasse zu ent­las­ten. Sei es, um Belarus unter Druck zu setzen. Ein Ende der Lie­fe­rung von Gas und Öl zu rus­si­schen Inlands­prei­sen würde nicht nur den lukra­ti­ven Wei­ter­ver­kauf an West­märkte beenden. Auch im Inland würden Gas- und Öl-Pro­dukte teurer werden. Die Kon­se­quen­zen träfen Belarus also in dop­pel­ter Weise.

Auch dem bela­rus­si­schen Agrar­markt kann der Kreml mit wenigen Ver­ord­nun­gen Ärger machen. Fran­zö­si­scher Käse – seit Beginn der EU-Sank­tio­nen und der rus­si­schen Gegen­sank­tio­nen auf wun­der­same Weise aus bela­rus­si­scher Milch gezau­bert – könnte als fake ent­tarnt werden. Belarus würde das lukra­tive Busi­ness ver­lie­ren, bei dem Sank­tio­nen umgan­gen werden, bei dem fran­zö­si­scher Käse in bela­rus­si­schen umeti­ket­tiert wird. Zudem könnte der Kreml dies als Anlass nutzen, Milch­pro­dukte aus Belarus grund­sätz­lich zu unter­sa­gen. Der wirt­schaft­li­che Schaden für Minsk wäre enorm, denn im Agrar­sek­tor ist Russ­land mit Abstand der wich­tigste Absatz­markt. Der Kreml nutzt seit je her hygie­ni­sche Mängel als Anlass, um Lukaschenka mit vor­über­ge­hen­den Import­stopps unter Druck zu setzen.

Das alles sieht Luka­shenka, der sich rühmt, das Land stabil, sauber und ohne west­li­che Spe­renz­chen zu steuern, sehr wohl. Den Preis für diese Politik der Ordnung zahlen derzeit Jugend­li­che, die mit dras­ti­schen Lager­stra­fen für ver­gleichs­weise harm­lo­sen Mari­hua­na­kon­sum bestraft werden. Das Dilemma ist offen­sicht­lich: Von Osten droht der Hunger des ampu­tier­ten Impe­ri­ums, von Westen droht der Ruf nach freien und fairen Wahlen und Menschenrechten.

Durch­aus zeigte sich der „letzte Dik­ta­tor Europas“ beweg­lich, als ein Schau­keln zwi­schen Ost und West noch möglich war. Die EU pil­gerte nach Minsk, sieben Kan­di­da­ten durften zur Prä­si­den­ten­wahl 2010 antre­ten. Doch als die Ergeb­nisse allzu pein­lich für den Prä­si­den­ten aus­fie­len, wurde der Protest nie­der­ge­knüp­pelt. Die oppo­si­tio­nel­len Bewer­ber lan­de­ten im Knast. Der Westen fühlte sich betro­gen – und zog das diplo­ma­ti­sche Per­so­nal ab.

Was heißt das für ein Belarus des Jahres 2019? Was heißt das für den Westen – soweit es ihn als poli­ti­sche Kraft noch gibt?

Rus­si­sche Truppen stünden an der Grenze zu Estland, Lett­land und Litauen

Der Verlust der Sou­ve­rä­ni­tät des Landes wäre ein wei­te­rer Schlag des Kremls gegen die euro­päi­sche Ordnung. Rus­si­sche Truppen stünden an der Grenze zu Estland, Lett­land und Litauen. Auch Polen fände sich als Nachbar der rus­si­schen Föde­ra­tion wieder. Anders als in Deutsch­land ist der Ein­marsch der Roten Armee am 27. Sep­tem­ber 1939, der dem Ein­marsch der Wehr­macht vom 1. Sep­tem­ber folgte, in Polen noch im his­to­ri­schen Gedächtnis.

Und die Bela­rus­sen selbst? Luka­shenka gilt vielen als Fuchs: Rus­si­schen Expan­si­ons­ge­lüs­ten kommt er zuvor, indem er die Bela­rus­sen zu den bes­se­ren Russen erklärt, die, ver­steht sich, ihre Unab­hän­gig­keit nie auf­ge­ben würden. In der Tat: Auch Belarus ist eine Nation im Werden. Ganz langsam blüht die bela­rus­si­sche Sprache wieder auf. Ähnlich wie in der Ukraine hatte Stalin das Land auch auf dem Feld der Sprache gründ­lich russifiziert.

Zudem hat  Luka­shenka offen­bar erfasst, dass seine Chancen, das Land vor Putins Gelüs­ten zu schüt­zen, in erheb­li­chem Maße von einer öko­no­mi­schen Moder­ni­sie­rung des Landes abhän­gen. Kol­chose Luka­shenka ist nicht mehr. Wo er noch 2006 einen erbit­ter­ten Kampf gegen jeg­li­ches Unter­neh­mer­tum führte und selbst Markt­frauen und Klein­un­ter­neh­mer vor staat­li­cher Ver­fol­gung nicht sicher waren, bekommt der private Sektor Luft. Es gibt viele gut aus­ge­bil­dete IT-Fach­leute. Fami­li­en­be­triebe dürfen pro­spe­rie­ren. Selbst dem öko­lo­gi­schen Landbau wurde durch par­la­men­ta­ri­sche Initia­ti­ven, an denen Akti­vis­ten mit­ar­bei­te­ten, ein neuer Raum ein­ge­rich­tet. Wer die Pro­dukt­pa­lette der bela­rus­si­schen Staats­be­triebe kennt, vom Kris­tall der Fünf­zi­ger­jahre bis zur Tisch­wä­sche mit Design aus Groß­mutters Zeiten, der weiß, wie drin­gend nötig Unter­neh­mer­geist und Markt­wirt­schaft für das Land sind.

Wer „Wandel durch Handel“ mit Gazprom preist, ver­kennt, dass der Wandel eher im Westen statt­zu­fin­den droht. Wandel durch Handel mit pri­va­ten, kleinen und mitt­le­ren Unter­neh­men in Belarus jedoch könnte Poten­tial  für eine gewisse Libe­ra­li­sie­rung ent­hal­ten. Nicht die EU, sondern die durch Putin geschaf­fene eura­si­sche Zoll­union stellt Belarus vor ein Ent­we­der-Oder. Hier ist eine krea­tive Antwort der EU gefragt, um Belarus aus der Umklam­me­rung der eura­si­schen Union zu befreien.

Visa­frei­heit und Ryanair wären wie Sau­er­stoff für die bela­rus­si­sche Zivilgesellschaft

Die poli­ti­sche Land­schaft hat sich seit 2010 ver­än­dert. Wo bis 2010 ein zu allen Mitteln berei­ter Staats­chef die poli­ti­sche Oppo­si­tion ver­folgte, ein­sperrte, viele von ihnen ver­trieb oder aufrieb, so tut sich etwas Neues auf. Trotz der blei­er­nen Schwere in Öko­no­mie und Politik – vieles riecht noch nach Kol­chose und homo sovie­ti­cus – gibt es Bewe­gung bei den Jungen. Ihre Stra­te­gie ist geschmei­di­ger als die der alten Oppo­si­tion. Sie betrach­ten Ver­än­de­run­gen in einer aktiven Bür­ger­schaft als poli­tisch. Sie denken in der Öffnung von Räumen, anstatt in die fron­tale poli­ti­sche Kon­fron­ta­tion zu gehen.

Ein „Euro­pean College of Liberal Arts“  bietet ein viel­fäl­ti­ges Angebot in Bildung und Wei­ter­bil­dung. Die Dozen­ten sind gut aus­ge­bil­det, jung und modern. Von Öko­lo­gie bis Phi­lo­so­phie ist das Cur­ri­cu­lum breit gefä­chert. Obwohl nicht staat­lich aner­kannt, werden die Kurse zer­ti­fi­ziert und der Zulauf ist groß, auch von Berufs­tä­ti­gen nach Fei­er­abend. Initia­ti­ven gegen häus­li­che Gewalt haben einen Rück­schlag erlit­ten, nachdem Luks­henka mit dem dummen Spruch, ein Klaps habe noch nie­man­dem gescha­det, ein bereits fer­ti­ges Gesetz wieder kas­sierte. Aber die Frauen sind guten Mutes. Ihre Chancen, Luka­shenka zu über­dau­ern, stehen schon aus bio­lo­gi­schen Gründen gut.

„Sag die Wahr­heit“, eine Ini­ti­taive für bür­ger­li­ches Enga­ge­ment hat über 700 Mit­glie­der. Und das nicht nur in Minsk. Es geht um gesell­schaft­li­che Selbst­or­ga­ni­sa­tion, um ganz prak­ti­sche Initia­ti­ven. Das kann die Stadt­ge­stal­tung sein, die Abwehr öko­lo­gi­scher Schäden im eigenen Umfeld, das Öffent­lich­ma­chen von unter­blie­be­nen Nach­rich­ten. Kein staat­li­cher Nach­rich­ten­sen­der hatte vom Tod einer Frau und meh­re­ren Ver­letz­ten bei dem Feu­er­werk der Mili­tär­pa­rade am Abend des 3. Juli berich­tet. „Sag die Wahrn­eit“ infor­mierte die Öffent­lich­keit. Das Inter­net ist immer noch ein Raum für freie Nachrichten.

Der Westen darf das Debakel von 2010 nicht wie­der­ho­len. Die EU kann Luka­shenka keine Herr­schaft auf Lebens­zeit garan­tie­ren. Aber sie könnte bessere wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche Bezie­hun­gen mit dem Westen anbie­ten – ohne Bedin­gun­gen zu stellen, die auf einen Regime­wech­sel hin­aus­lau­fen. Aber sie muss ver­lan­gen, dass Luka­shenka im Gegen­zug die Zivil­ge­sell­schaft atmen lässt. Demo­kra­tie wächst von unten. Wir sollten Belarus nicht ins Abseits stellen. Es gibt dort viele, die sich als Euro­päer fühlen. Visa­frei­heit und Ryanair wären wie Sau­er­stoff für diese Bewe­gung. Auf nach Belarus: Es lohnt sich.

Dieser Artikel erschien am 2. Sep­tem­ber in gekürz­ter Fassung in der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zeitung (Bezahl­schranke).  

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