Digitale Dissidenten: Werden Facebook und YouTube zum Samisdat des 21. Jahrhunderts?
Was taugt das Internet als Plattform für die russische Opposition? Eine Online-Diskussion mit Experteninnen und Aktivisten
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Das Video unserer online-Diskussion vom 11. Juni finden Sie auch auf unserem YouTube-Kanal
Von Vladimir Esipov, Deutsche Welle
Der russische Teil des Internets wird immer mehr zum letzten freien Ort der Begegnung für die Zivilgesellschaft. Das ist eines der Ergebnisse der Online-Diskussion Gegenöffentlichkeit und Aktivismus im RuNet.
Wir können nur vermuten, wen sich der Kommunist Nikolaj Bondarenko aus Saratow bei seiner kreativen Arbeit zum Vorbild nahm. Doch die wacklige Kameraführung und die zwanglose Begrüßung „Hallo zusammen!“ sowie dem Zielpublikum vertraute Ausdrücke wie „Was für ein Schwachsinn!“ lassen die Handschrift eines Profis erkennen – die Zahl der Abonnenten seines YouTube-Kanals „Tagebuch eines Abgeordneten“ hat die Millionenmarke überschritten. Durch seine Tätigkeit als Blogger hat Bondarenko – laut Angaben aus dem Jahr 2019 – sein Einkommen verzehnfacht, nachdem er seine altmodische Essig-Firma verkauft und das Geld in die Herstellung von Videos gesteckt hatte.
Dieser Blogger von der Wolga, der liberalen Werten keineswegs nahesteht, wurde auch bei der Online-Diskussion Gegenöffentlichkeit und Aktivismus im RuNet gewürdigt, nämlich als Beispiel für die sich dynamisch entwickelnde digitale Zivilgesellschaft. Die Diskussion am 11. Juni wurde vom Berliner Zentrum Liberale Moderne veranstaltet. Die deutschen Veranstalter wollten der Frage nachgehen, ob das Internet in irgendeiner Form als Gegengewicht zur Propagandamaschine des Staates fungieren und ob das schwunghafte zivilgesellschaftliche Engagement im Internet weg von den Bildschirmen der Computer und Smartphones in eine erfahrbare Realität übergehen könnte.
Verhaftungen und Justiz im Fokus der liberalen Öffentlichkeit
Pjotr Wersilow, Aktionskünstler und Herausgeber der 2014 gegründeten Internetzeitung „Mediazona“ (Medienzone), berichtete, dass für kritisch gesonnene Russen mittlerweile Nachrichten aus Justiz und Sicherheitsbehörden eine zentrale Rolle spielen. Dennoch sei die staatliche Kontrolle von Veröffentlichungen im Internet in Russland ungleich schwächer als in Iran oder China, sagte Wersilow.
Gleichzeitig versicherte Wersilow, dass er keiner Zensur ausgesetzt sei. Hohe Qualitätsstandards im Journalismus seien ein kleiner, aber funktionierender Schutz vor möglichen Klagen. Ein vom Staat unabhängiger Eigentümer stelle die beste Garantie gegen Versuche dar, eine Redaktion zu manipulieren. Eigentümerwechsel waren in den vergangenen 20 Jahren ein zentrales Element beim Vorgehen der russischen Regierung gegen unabhängige Medien – vom Fernsehsender „NTW“ über den Onlinedienst „lenta.ru“ bis zur Finanzzeitung „Wedomosti“.
In dieser Hinsicht ist „Mediazona“ relativ gut geschützt, weil das Projekt rund zur Hälfte durch Zuwendungen ausländischer Stiftungen finanziert wird; die andere Hälfte wird durch monatliche Spenden von rund 5.000 Unterstützern bestritten. Wersilow zählt Mediazona hinsichtlich der Reichweite zu den führenden unabhängigen Medien in Russland – in eine Reihe mit dem Onlineportal „Meduza“, dem TV-Sender Doschd und der „Nowaja Gaseta“.
Fernsehen ist weiterhin das zentrale Medium
Ungeachtet des explosionsartigen Wachstums des Internet-Publikums in Russland, bleibe trotzdem das Fernsehen für die Russen die wichtigste Quelle für politische Informationen, erklärte der Soziologe Denis Wolkow vom unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum. Eine Ausnahme seien junge Menschen bis 24 Jahren, die sich allerdings auch nicht sonderlich für Politik interessierten. Wenn diese etwas erfahren, dann sei es von älteren Familienmitgliedern, die wiederum Fernsehen schauen, sagte er.
Daran ändere auch der Umstand nichts, dass sich in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Internetnutzer verdoppelt hat. Laut Wolkow bedeutet dieses Wachstum nämlich noch nicht, dass auch die Zahl der kritisch denken Bürger zunimmt; längst nicht alle Nutzer sozialer Netzwerke lesen auch politische Nachrichten. Das Interesse an unabhängigen Informationen wachse aber mit dem Bildungsgrad der Nutzer. In dieser Hinsicht habe „Mediazona“ großen Einfluss bei Angehörigen der intellektuellen Elite, meinte Wolkow.
Was das explosionsartige Wachstum der sozialen Netzwerke angeht, so verwies der Soziologe vor allem auf YouTube und Instagram. Die Videoblogs auf YouTube seien in ihrer Reichweite mit dem Radio vergleichbar. Dort hätten besondere politische Figuren ihren Auftritt, und zwar nicht nur Alexei Nawalny oder Juri Dud, sondern auch der Kommunist aus Saratow, Bondarenko.
Die Frage der deutschen Veranstalter, wie der digitale Aktivismus ins reale Leben überführt werden könne, formulierte Wolkow lieber um: „Wie könnten alle zivilgesellschaftlichen Aktivisten, denen es an digitaler Reichweite mangelt, ins Internet gebracht werden?“
Internet-Medien: Keine „vierte Gewalt“, sondern eine Community von Dissidenten
Sergej Lukaschewski, Direktor des Sacharow-Zentrums, rief dazu auf, die russischen Internet-Medien nicht durch das in einer demokratischen Gesellschaft gewohnte Prisma einer „vierten Gewalt“ zu betrachten, die zumindest eine gewisse Wirkung auf das politische Leben hätte.
Seiner Ansicht nach wäre es im heutigen Russland angebrachter, die digitale Zivilgesellschaft als eine Gemeinschaft Andersdenkender und Dissidenten zu betrachten, die hier über ihren eigenen und höchst effektiven medialen Raum verfüge – angefangen von unabhängigen einheimischen Medien bis hin zu russischsprachigen Redaktionen ausländischer Medien und Projekten wie „Mediazona“ oder „OWD-Info“.
Lukaschewski schränkte allerdings ein, dass es anders als in der Sowjetunion, als zwischen staatlichen Propagandamedien und der Welt der Andersdenkenden eine klare Grenze bestand, heute keine klar umrissenen medialen Nischen des Regimes bzw. der Dissidenten gibt.
Dieser Artikel ist zuerst am 12. Juni beim russischen Dienst der Deutschen Welle erschienen. Übersetzung ins Deutsche von Hartmut Schröder.
Die Veranstaltung fand im Rahmen des Projekts „Deutsch-Russische-Gespräche zur digitalen Zivilgesellschaft“ statt.