Russland: Echte Zensur für eine unechte Demokratie
Weltweit nutzen autoritäre Regierungen die Coronakrise als Vorwand, um ihre Gegner noch stärker zu bekämpfen. Russland ist da keine Ausnahme. Seit Anfang April kann man dort für die Verbreitung von „Fake News“ im Zusammenhang mit der Pandemie mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Der russische Experte Damir Gajnutdinow von der Menschenrechtsorganisation Agora fasst zusammen, wie es dazu kam.
Die erste richtig globale Krise im Zeitalter der sozialen Netzwerke fällt in eine Phase, in der mehr denn je über wahrheitsgetreue Informationen und die Verantwortung der Medien diskutiert wird. Das Problem „Fake News“, das im Zuge der versuchten Einmischung Russlands in die US-Wahlen 2016 zum weltweiten Topthema aufstieg, erfährt durch die Coronaviruskrise eine Fortsetzung.
Das russische Gesetz über Falschmeldungen wurde zusammen mit einem Gesetz über „Respektlosigkeit gegenüber der Regierung“ im Frühjahr 2019 verabschiedet. Im Gegensatz zu letzterem wurde es aber zunächst praktisch nicht angewandt. Bis Ende 2019 haben wir lediglich 13, sehr unterschiedliche Fälle gefunden. Darunter waren Berichte über angeblich kontaminierte Böden, über Proteste gegen eine Grenzverschiebung zwischen Inguschetien und Tschetschenien und ein Beitrag über Folter durch Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB.
Die Rechtsanwendung entwickelte sich eher spontan. Das Gesetz wurde von kommunalen und regionalen Regierungen sowie einigen Sicherheitsorganen eindeutig eingesetzt, um Gegner zu verfolgen und lokale Krisen zu vertuschen. Das Vorgehen der Gerichte, die über keine Handhabe verfügen, wie solche Fälle zu behandeln wären, ist von „inneren Überzeugungen“ und dem Gesetz geleitet.
So wurde beispielsweise Tatjana Woloschina, eine Journalistin des Onlineportals Bloknot Rosssosch im Gebiet Woronesch, wegen eines Facebook-Posts über die Qualität von Schulessen mit einem Ordnungswidrigkeitsverfahren überzogen: „Familienangehörige eines Schülers hatten demnach der Redaktion ein Foto aus der Schulkantine geschickt, auf dem eine Kakerlake in einer Boulette zu sehen war. Die Polizei behauptete dagegen, dass eine Überprüfung durch Staatsanwaltschaft und der Verbraucherschutz-Behörde Rospotrebnadsor die Darstellung nicht bestätigt hätten. Allerdings befand ein Gericht dass die Gegendarstellung schlampig zusammengestellt wurde und gab das Verfahren an die Polizei zurück. Übrigens wurde mindestens 6 der 13 Verfahren von 2019 entweder vor Gericht oder durch die Polizei eingestellt.
Seitdem die Pandemie Russland erreicht hat, haben sich sowohl die Gesetze wie auch deren Anwendung verändert. Das erste Verfahren zu einem „Corona-Fake“ fand in Lipezk statt, einer Stadt knapp sechs Autostunden südlich von Moskau. Am 25. März verhängte dort ein Gericht eine Geldstrafe gegen eine Frau, die in einem Elternchat die Vermutung geäußert hatte, dass die Regierung die tatsächliche Zahl der Erkrankten verheimliche.
Eine Woche später verabschiedete das russische Parlament Gesetzesänderungen, wonach Falschinformationen, die das Leben und die Sicherheit der Bürger gefährden, sowie Falschinformationen über behördliche Maßnahmen zur Sicherheit der Bevölkerung strafrechtlich verfolgt werden können. Falls die Tat den Tod eines Menschen oder andere schwerwiegende Folgen hat, drohen bis zu 5 Jahre Gefängnis.
Es versteht sich von selbst, dass es darüber keinerlei öffentliche Diskussion in Russland gegeben hatte: Die Verabschiedung der Gesetzesänderungen erinnerte – wie schon die Einführung anderer repressiver Normen – an eine Spezialoperation: Zunächst wurde ein Gesetzentwurf zur Verfolgung von Verstößen gegen Seuchenschutzmaßnahmen, etwa eine Missachtung der Quarantänevorschriften, in die Staatsduma eingebracht. Nachdem das Oberste Gericht und die Regierung in obligatorischen Gutachten keinerlei Kritik übten , wurde der Entwurf in erster Lesung gebilligt. Erst in der darauffolgenden Phase des Gesetzgebungsverfahrens, in der Korrekturen nicht mehr abgestimmt werden müssen, tauchten Ergänzungen im Strafgesetzbuch auf – die Paragrafen 207.1 und 207.2.
Das Gesetz trat umgehend am 1. April in Kraft. Nur zwei Tage später wurde das erste Strafverfahren eröffnet. Die Petersburger Aktivistin Anna Schuschpanowa wurde wegen eines Beitrages in einer öffentlichen Gruppe des sozialen Netzwerks vk.com verhört. Dort war berichtet worden, dass ein mit COVID-19 diagnostizierter Patient nach dem Arztbesuch mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fuhr.
Im gleichen Zug wurde das russische Ordnungswidrigkeitsgesetzbuch um einige Paragraphen erweitert, wonach juristische Personen (Redaktionen und Herausgeber sowie Besitzer von Internetportalen) mit Strafen von bis zu 5 Millionen Rubel (65.000 Euro) sowie mit Beschlagnahmen etwa einer Zeitungsauflage oder des Servers belangt werden können. Für unabhängige Medien könnte dies ein Todesurteil sein.
Die Tatbestände der Paragraphen des Strafgesetzbuches und des Ordnungswidrigkeitsgesetzbuches sind einander zum Verwechseln ähnlich – es dürfte nahezu unmöglich sein, im Voraus zu erraten, nach welchem Paragraph ein Verfahren eröffnet wird. Ein und dieselbe Meldung (etwa über die Zahl der Personen, die an einer Infektion gestorben sind), kann sowohl als Straftat wie auch als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.
Das juristisch unglaublich niedrige Niveau der gesetzlichen Formulierungen führte dazu, dass sich Russlands Oberstes Gericht einschaltete. Die Richter unternahmen zwei Versuche, die Straftatbestände abzugrenzen. Beide blieben erfolglos, da es unmöglich war, die fundamentalen Auslegungsmängel zu beheben. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Verfahren weiterhin von der Behörde eingeleitet werden, die die entsprechende Veröffentlichung entdeckt. Das staatliche Ermittlungskomitee wird Straftaten verfolgen, während die Polizei gegen Ordnungswidrigkeiten vorgeht.
Das einzige, was die obersten Richter tun konnten, war ein Erlass, wonach der unmittelbare Vorsatz, Falschinformationen verbreiten zu wollen, bewiesen werden muss. Allerdings haben solche Erläuterungen des höchsten Gerichts bisher keinerlei Auswirkungen auf die Praxis von Extremismus-Verfahren gehabt. Daher ist nicht zu erwarten, dass sie jetzt von niedrigeren Gerichtsinstanzen, von Polizei und Ermittlungsbehörden berücksichtigt werden.
In den zwei Monaten seit Ausbruch der Pandemie in Russland sind 50 Ordnungswidrigkeitsverfahren und mehr als ein Dutzend Strafverfahren wegen der Verbreitung von Falschinformationen eröffnet worden. Das Coronavirus ist das einzige Thema, das Polizei und Sicherheitsdienste jetzt interessiert. Sämtliche Kräfte der Ermittler und Staatsanwaltschaften wurden mobilisiert, um die Verbreitung von Informationen und Meinungen zu verhindern, die den offiziellen Behauptungen widersprechen, wonach der Höhepunkt der Epidemie überschritten ist, die Regierung effektiv handelt und Russland – entgegen anderslautender Erklärungen westlicher Verleumder – die Epidemie weltweit am besten bewältigt.
Es ist riskant, über den Mangel an persönlicher Schutzausrüstung in den Krankenhäusern zu schreiben, die Gesamtzahl der Infizierten zu melden, die Sterbezahlen anzuzweifeln oder die Maßnahmen gegen die Epidemie zu diskutieren – also etwas zu unternehmen, was die Erfolge der russischen Regierung in Zweifel ziehen könnte. Bemerkenswert ist, dass dies vor dem Hintergrund der Veröffentlichung journalistischer Recherchen über Manipulationen medizinischer Statistiken erfolgt. Auch die Statistiken zu Todesfällen beim medizinischen Personal, die ganz erheblich über dem weltweiten Durchschnitt liegen, sollen verfälscht worden sein. Dabei ist bekannt, dass staatliche Krisenstäbe in den Regionen Falschinformationen über Bürger verbreitet haben und dass offizielle Stellen persönliche Patientendaten durchsickern ließen.
Ärzte hingegen, die von einem Mangel an Schutzkitteln und ‑masken berichten, werden von der Staatsanwaltschaft vorgeladen. Und Bürger, die Vermutungen über die Anzahl der Erkrankten anstellen, werden von der Polizei festgenommen. Als Anlass zur Einleitung eines Verfahrens kann auch dienen, dass jemand die Rechtmäßigkeit der Beschränkungen bestreitet und die Bestimmungen der „Corona-Gesetze“ eigenwillig auslegt. Ein Bewohner der sibirischen Stadt Surgut etwa wurde zur Verantwortung gezogen, weil er behauptete, dass Geldstrafen für eine Missachtung der Social-Distancing-Vorschriften rechtswidrig seien, da nur ein Verstoß gegen Zwangsquarantäne eine Rechtsverletzung darstellt.
Nicht einmal wenn sich nachträglich bestätigt, dass eine Information stimmt, sind die Urheber geschützt. Das Innenministerium der sibirischen Region Kemerowo erklärte einen Bericht über Strafen für das Nichttragen von Masken auf öffentlichen Plätzen zur Falschmeldung; der Urheber wurde mit einer Geldstrafe belegt. Wenige Tage später wurde jedoch tatsächlich eine Maskenpflicht eingeführt. Und in Moskau verlangte die Generalstaatsanwaltschaft die Sperrung von Meldungen über ein Passierscheinsystem, einen Tag, bevor der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin einen Erlass über deren Einführung unterzeichnete.
Klar ist, dass es für Eingriffe in die Meinungsfreiheit weder für die Polizei noch für die Gerichte einer notwendigen Begründung bedarf. Sie versuchen nicht einmal festzustellen, dass Äußerungen eindeutig falsch sind. Für eine Anklage genügt es vollauf, dass Äußerungen der offiziellen Position der zuständigen Behörden zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung widersprechen. Das unterstreicht wiederum ganz klar das wichtigste Ziel der russischen „Fake-News“-Gesetze – mit ihnen sollen Kritiker und Zweifler zum Schweigen gebracht werden.
Dieser Artikel ist im Rahmen des Projekts „Deutsch-Russische Gespräche zur digitalen Zivilgesellschaft“ erschienen. Aus dem Russischen übersetzt von Hartmut Schröder.
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