Zum Todestag des Juristen: Der Staat gegen Sergej Magnitski
Sergej Magnitski deckte einen Steuerskandal auf, in den der russische Staat verwickelt war – und bezahlte dafür mit seinem Leben. Der Tod des Juristen offenbarte die Ruchlosigkeit des russischen Staates. Er markiert einen Wendepunkt in den Beziehungen des Westens zum Kreml.
Vor genau neun Jahren, am 16. November 2009, ist der Jurist Sergej Magnitski nach 358 Tagen Haft im Moskauer Untersuchungsgefängnis „Matrosskaja Tischina“ gestorben. Er wurde gefoltert, zudem wurde ihm monatelang medizinische Hilfe verweigert. Sein qualvoller Tod sowie die Umstände seiner Inhaftierung sind – bei all ihrer Alltäglichkeit – zu einem game changer im Umgang der westlichen Demokratien mit dem autoritären Russland Wladimir Putins geworden.
Magnitski arbeitete als Wirtschaftsprüfer bei der Kanzlei Firestone Duncan, zu deren Kunden auch die Investmentgesellschaft Hermitage Capital gehörte. Nachdem einige russische Tochtergesellschaften der Investmentgesellschaft mit kriminellen Mitteln übernommen worden waren, wurden die Bilanzen manipuliert. Es sah so aus, als hätten die Tochtergesellschaften enorme Verluste gemacht. So konnten die neuen, unrechtmäßigen Besitzer dieser Aktiva eine Rückerstattung der bereits gezahlten Steuern in Höhe von ungefähr 500 Millionen Dollar veranlassen.
Hermitage Capital hatte bis dahin zu den größten ausländischen Investoren in Russland gehört. Der Firmengründer und Geschäftsführer Bill Browder war einer der prominentesten Unterstützer Wladimir Putins und seiner Wirtschaftspolitik gewesen, auf internationalen Foren hatte er unermüdlich für Investitionen in Russland geworben. Nach der Affäre wurde ihm die Aufenthaltsgenehmigung entzogen, seine Firma musste sich aus dem Land zurückziehen.
Vom Opfer zum Täter gemacht
Magnitski, der sich unter anderem mit den Belangen von Hermitage Capital befasst hatte, kam der Affäre auf die Schliche und stellte fest, dass zahlreiche russische Richter, Finanz- und Polizeibeamte involviert waren. Er brachte seine Erkenntnisse zur Anzeige. Was danach geschah, wurde erst nach seinem Tod umfassend rekonstruiert: Der Fall wurde ausgerechnet den Beamten übertragen, die an der Plünderung von Hermitage Capital Schlüsselrollen eingenommen hatten. Magnitski wurde selbst der Steuerhinterziehung beschuldigt und kam in U‑Haft.
Womit Magnitskis Peiniger offensichtlich nicht gerechnet hatten, waren seine Standhaftigkeit und Prinzipientreue. Magnitski verfolgte keine eigenen Interessen. Weder war er an den geplünderten Firmen beteiligt noch entstanden ihm durch die Plünderung persönliche Nachteile. Den größten Schaden trug die russische Staatskasse davon. Die Ermittler verlangten von Magnitski, Bill Browder zu belasten. Ihr Druckmittel war nicht nur die Inhaftierung, sondern vor allem die Verweigerung medizinischer Hilfe. Im Gefängnis verschlechterte sich Magnitskis Gesundheitszustand, er litt unter anderem an einer Bauchspeicheldrüsenentzündung. Während seiner Haft richtete er ungefähr hundert Beschwerden an verschiedene Instanzen.
Die Folter durch den Entzug medizinischer Versorgung gehört zu den bewährtesten Druckmitteln der russischen Ermittlungsbehörden. Zu den bekanntesten Opfern zählt neben Magnitski der Chefjurist der Firma Yukos, Wassilij Alexanjan, der den Ermittlern Falschaussagen gegen seinen Chef Michail Chodorkowskij verweigerte. In der Haft erkrankte er an Leberkrebs, Aids und Tuberkulose, durfte aber nicht in einem Krankenhaus behandelt werden. Erst nach zweieinhalb Jahren Haft wurde der Harvard-Absolvent gegen eine beispiellos hohe Kaution von 1,4 Millionen Euro freigelassen und starb drei Jahre später, 2011, im Alter von nur 39 Jahren. Sergej Magnitski starb noch jünger, er wurde nur 37 Jahre alt.
Das Geld taucht in den „Panama Papers“ wieder auf
Heute steht Magnitskis Name für die Gesetze, die in den USA, Kanada, Großbritannien und den drei baltischen Staaten zur Bekämpfung von Korruption und Bürgerrechtsverletzungen in Russland verabschiedet wurden. Die so genannte Magnitski-Liste enthielt ursprünglich die Namen der Mitschuldigen an seinem Tod: Polizisten, Richter, Ärzte, Finanzbeamte – sie wurde später um weitere Personen ergänzt, die mutmaßlich an ähnlichen Verbrechen beteiligt waren.
Diese Gesetze und Listen sind ein persönlicher Verdienst von Bill Browder. Browder machte die Gerechtigkeit für Magnitski zu seiner Lebesaufgabe. Ein von ihm unterstütztes Rechercheteam konnte das Geschehen und die Hintergründe minutiös rekonstruieren und die Beteiligten benennen. Die Fäden führen in die obersten Etagen der russischen Macht, zum Beispiel zum späteren Verteidigungsminister Anatolij Serdjukow, der zur fraglichen Zeit Russlands oberster Steuerbeamter war. Das gestohlene Geld tauchte später in den sogenannten „Panama Papers“ wieder auf, in den Transaktionen, die vermutlich im Zusammenhang mit versteckten Finanzen Wladimir Putins stehen.
Der Fall Sergej Magnitski zeigt einerseits, wie gefährlich die Wahrheitsfindung in Russland werden kann. Andererseits illustriert er, wie Rechercheure selbst die bestgehüteten Geheimnisse des russischen Staates aufdecken können. Nicht zuletzt führt der Fall Magnitski vor Augen, dass investigative Arbeit weitreichende politische Konsequenzen haben kann, in Russland wie auf der internationalen Bühne. Die Recherchen des Investigativteams Bellingcat zum Fall Skripal und zum Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs 17 über der Ostukraine sind Beispiele dafür.
Diese Beispiele haben allerdings eine Schattenseite. Sie zeigen, dass Staaten und ihre gewählten Vertreter viel weniger an der Aufklärung und Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen in Russland interessiert sind als zivilgesellschaftliche Institutionen und motivierte Privatpersonen. Die holprige Verabschiedung der Magnitski-Gesetze in den meisten europäischen Ländern belegt das auf bedauernswerte Weise.
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