Klimawandel – ein „Hirngespinst“
Russland hat das Pariser Klimaabkommen ratifiziert. Die Klimaschützer im Land halten das für Augenwischerei.
Erst kamen die Eisbären. Sie liefen über die Hauptstraße der Siedlung, sie suchten nach Nahrung, machten den Menschen Angst. Die Eisbären hätten im Februar dieses Jahres längst tiefer im Norden sein müssen, auf der Jagd nach Robben. Doch das arktische Meereis um die Doppelinsel Nowaja Semlja, das Sperrgebiet im Nordpolarmeer, in dem die Sowjetunion einst Atomwaffen testete, zieht sich seit den Achtzigerjahren immer weiter zurück und bringt die Eisbären immer näher an die Siedlungen heran.
Im Juni dann kam das Wasser. Bei Irkutsk kam es in Fluten. Es riss Häuser mit, Tiere, raubte mehr als 30.000 Menschen die Existenzgrundlage. Tagelang hatte es stark geregnet wie kaum zuvor, Flüsse waren über die Ufer getreten, ein Damm war gebrochen. Die Behörden hatten einen Ausnahmezustand ausgerufen.
Im Juli griff schließlich das Feuer um sich. Ebenfalls im Gebiet Irkutsk. Aber auch im Gebiet Krasnojarsk in Sibirien. Jedes Jahr brennt hier der Wald. Das Ausmaß in diesem Jahr fiel verheerender aus. Knapp drei Millionen Hektar Fläche brannten ab. Ein Gebiet von der Größe Belgiens stand in Flammen. Die Menschen besorgten sich Atemmasken. Der Kreml schickte das Militär, um die Feuer zu löschen.
Putin sagt, der Klimawandel sei nicht vom Menschen gemacht
Auch für russische Wissenschaftler hängen solche extremen Ereignisse mit globalen und regionalen Klimaveränderungen zusammen. Die „anormalen Prozesse in der Atmosphäre“, so sagen es etwa die Klimawissenschaftler vom Staatlichen Hydrologischen Institut in Sankt Petersburg, nähmen zu, Regenfälle und Dürreperioden würden größer. Einen Wendepunkt in der skeptischen Einstellung vieler Russen haben die Überschwemmungen, Feuer und Eisbäreneinfälle in diesem Jahr allerdings nicht bewirkt.
Vor zwei Jahren hatte der russische Präsident Wladimir Putin auf dem Arktisforum in Archangelsk im Norden des Landes gesagt, der Klimawandel sei nicht vom Menschen gemacht. Als Russland vor wenigen Tagen, pünktlich zum Klimagipfel der Vereinten Nationen in New York, das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 ratifizierte, bekräftigte Putins Sprecher Dmitri Peskow dessen Worte von damals. Lange Zeit hatte der Kreml den Klimawandel sogar begrüßt: Schmelze das Eis in der Arktis, würden neue Rohstoffvorkommen entstehen, neue Ressourcen ließen sich erschließen. Knapp die Hälfte des russischen Staatshaushalts basiert auf Rohstoffhandel.
Die Erderwärmung verläuft in Russland 2,5 Mal schneller als im Durchschnitt auf dem Planeten, haben russische Wissenschaftler bereits vor Jahren ausgerechnet. Vor allem in Permafrostgebieten – und Permafrost bedeckt 60 Prozent des Landes – sind die Temperaturen um bis zu 0,9 Grad innerhalb nur eines Jahrzehnts gestiegen. Das Auftauen der Permafrostböden sorgt nicht nur für baufällige Häuser, absinkende Straßen und instabile Öl- und Gaspipelines. Es wird auch Methan freigesetzt, ein 30 Mal klimaschädlicheres Treibhausgas als Kohlendioxid. Für viele im Land, auch für die Menschen in den von Überschwemmungen und Waldbränden betroffenen Gebieten, ist der Klimawandel dennoch ein „Hirngespinst“.
Klimaprotest – eine einsame Angelegenheit
„Es fehlt schlicht und einfach an Information, an Aufklärungskampagnen“, sagt Arschak Makitschjan mit seiner bedächtigen Stimme. Der 25-Jährige spielt Geige – und steht seit März dieses Jahres jeden Freitag, manchmal auch jeden Tag, an zentralen Orten in Moskau, etwa dem Puschkin-Denkmal, der Staatsduma oder der Präsidialverwaltung. Stets sein „Streik fürs Klima“-Schild in der Hand, inspiriert von Greta Thunberg und ihrem Schulstreik vor dem Schwedischen Reichstag in Stockholm. Auch wenn sich Makitschjan in den vergangenen Monaten viele Menschen quer durchs Land angeschlossen haben, bleibt sein Protest eine einsame Angelegenheit.
Das Land lebt von Öl, Gas und Kohle, es lagert seinen Müll, selbst wenn umweltbewusste Bürger ihn trennen, auf riesigen Deponien, gerade einmal vier Prozent der Abfälle werden recycelt. Der Anteil der Erneuerbaren Energien liegt bei nicht einmal einem Prozent. Die Heizung ist selbst in Neubauten oft zentral gesteuert, regulieren lassen sich die auf vollen Touren laufenden Heizkörper im Winter durch das Prinzip „Fenster auf“. Radfahren ist für viele ein lustiger Zeitvertreib in den Parks und kein alltägliches Verkehrsmittel. Die Dichte der Sport- und Geländewagen ist nicht nur in der Hauptstadt groß. In den Läden wird teils jede Banane in Plastik verpackt, und die Verkäuferinnen wundern sich über mitgebrachte Jute-Beutel. Ein Land, das jahrzehntelang zum Verzicht gezwungen war, lebt und liebt den Konsum, über die Auswirkungen denken nur wenige nach. Es sind auch hier vor allem junge, gut ausgebildete Menschen, die um ihre Zukunft bangen. Demonstrieren aber ist Jugendlichen unter 18 Jahren verboten, in den Schulen wird kaum übers Klima gesprochen. Schon allein deshalb gibt es keinen Schülerprotest für Klimaschutz im Land, wie viele europäische Länder ihn kennen.
Es bleiben die Mahnwachen der Jugend. Denn nur Einzelprotest ist in Russland nicht genehmigungspflichtig. Arschak Makitschjan, der Musiker, hatte die Moskauer Stadtverwaltung sieben Mal um eine Versammlungsgenehmigung ersucht, sieben Mal wurde sie ihm verwehrt. Seit bald 30 Wochen geht das so. Enttäuscht? „Jeden Tag, an dem ich hier stehe“, sagt der Klimaschützer in der Moskauer Herbstkälte. Oft werde er von den Vorbeilaufenden für einen Spinner gehalten oder für einen Spion der CIA. „Nur wenige halten an und zeigen echtes Interesse an dem, was ich hier mache.“
Das Weltklima erscheint den Russen, die nach China, den USA und Indien zu den größten Treibhausgas-Erzeugern gehören, als zu abstrakt. Klimaschutz würde das russische Wirtschaftsmodell, das auf Förderung und Export fossiler Energieträger ausgerichtet ist, in Frage stellen. „Es müsste sich praktisch alles ändern, wenn wir eine Zukunft haben wollen“, sagt Makitschjan. Dafür aber müsse die Regierung „erst die Wahrheit über die Klima-Krise aussprechen“. Doch das Land hat wenig Interesse, sich an einer aktiven Klimapolitik zu beteiligen. Die Rohstoffvorräte reichen noch für Jahrzehnte, der Ressourcenreichtum ist ein Stück Identität des Landes. Bei den meisten ist das Thema Klima unpopulär. Unpopuläres aber fasst der Kreml nicht an. Mögen die Kosten für die Folgen des Klimawandels auch steigen.