Das stinkt zum Himmel
Müllberge so groß wie Hochhäuser: Russland steckt in einer Müllkrise. Weil sich in ihrem Land der Abfall türmt, begreifen viele Russen, dass sie politische Subjekte sind.
Lesezeit ca. min | Aktualisierte Fassung | zuerst veröffentlicht am 01. Sep 2017
Eigentlich ist Schijes nur der Name einer Haltestelle. Ein kurzer Zwischenhalt auf dem Weg von Moskau in den russischen Norden, zu den Orten Uchta, Petschora und Inta. Einstiges Gulag-Gebiet. Früher hat man in Schijes Holz verladen. Es gibt viel Wald drumherum und viel Sumpf. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es hier wenig zu tun, die Menschen sind längst weggezogen, nur die Haltestelle ist geblieben. Eine, die den wachsenden Müllbergen in Russland einen Namen gibt. Einen zusätzlichen. Denn seit bald zwei Jahren gehen die Menschen überall im Land auf die Straße, weil es ihnen stinkt. Manchmal sind es kleine Grüppchen, die vor den Deponien ausharren, manchmal angemeldete Demonstrationen mit tausenden Protestierenden. „Wir wollen leben, wir wollen atmen“, ist meist das Motto der Protestaktionen, sei es in Jekaterinburg am Ural oder kürzlich in Archangelsk, wo sich die Menschen gegen eine neue Müllanlage in Schijes zu wehren versuchten.
Das Land steckt in einer „Müllkrise“, die Menschen riechen, was in den Deponien gärt. Wie die Mikroorganismen sich mit den Bakterien vermischen, wie die daraus entstehenden Gase entweichen: Methan, Kohlenstoffdioxid, Schwefelwasserstoff. Die Gase sorgen für Krankheiten, für Ausschlag, manchmal auch für Bewusstlosigkeit. „Wir ertragen alles, die schlechte Infrastruktur, die schlechte Bildung, die nicht vorhandene politische Freiheit bei uns im Land. Aber wie sollen wir leben, wenn uns die Luft zum Atmen fehlt?“, fragt da einer, dessen Sohn sich die Haut bis aufs Fleisch aufkratzt, weil sie die Gase nicht erträgt. Solche Probleme treiben die Menschen auf die Straße – fassbare Probleme, bei denen die Menschen begreifen, dass genau sie es sind, auf die es ankommt, wenn sich etwas ändern soll im Land. Der Müll macht sie zu Bürgern, zu politischen Subjekten, weil sie plötzlich nicht mehr alles über sich ergehen lassen, weil sie Mitspracherecht einfordern, weil sie das Problem vor ihrer Haustür nicht länger ignorieren können, ja auch nicht wollen. Sie ersticken ja regelrecht daran.
Die Deponien sind ein Erbe aus der Sowjetzeit. Bis heute landet der Müll aus den Haushalten auf den sogenannten Polygonen, egal, ob Bioabfall, Flaschen oder Windeln. Getrennt wird kaum. Lediglich vier Prozent des Mülls werden in Russland recycelt. Kleinere private Initiativen stellen zwar Müllcontainer für die Mülltrennung auf. Häusergemeinschaften bieten zuweilen an, den Müll zu trennen, Supermarktketten behelfen sich mit Behältern für Batterien und verzichten auf Plastiktüten. Die Stadt Saransk – hier wurden im Sommer 2018 einige Spiele der Fußball-WM ausgetragen – hat sich, mit deutscher Hilfe, gar zur Nummer eins der Mülltrennung im Land gemausert. Das in Nordrhein-Westfalen ansässige Recycling-Unternehmen Remondis lässt mit seinem russischen Partner in Kindergärten der Stadt Ausmalhefte verteilen, um über Mülltrennung aufzuklären. Das Bewusstsein für getrennten Abfall steigt. Doch selbst der so aufbereitete Müll landet am Ende auf einem Polygon und wird festgestampft, um weitere Müllschichten aufzunehmen.
Zwei Jäger haben die Müllanlage in Schijes per Zufall entdeckt
Der Müll bedeckt in Russland eine Fläche, die mittlerweile größer ist als Baden-Württemberg. Allein die russische Hauptstadt, wo knapp 20 Millionen Menschen leben, produziert 11 Millionen Tonnen Abfall jährlich, in ganz Russland sind es offiziellen Angaben zufolge 70 Tonnen jährlich. Er verteilt sich offiziell auf 14.000 Deponien im Land. 90 Prozent des Hausmülls werden auf Müllkippen abgelagert, auf jede legale kommen dabei zwei illegale. Manche Polygone ziehen sich bis in die Wohngebiete hinein. Selbst aus den stillgelegten Deponien tritt gefährliches Gas aus. Was darauf über Jahrzehnte hinweg abgeladen worden ist, wissen die Menschen oft nicht.
Die Strukturen in der Müllbranche sind zuweilen mafiös. Ein Gesetz aus den Neunzigerjahren regelt zwar die Aufsicht über die Deponien und den Schutz der Natur, aber es schafft keine wirtschaftlichen Anreize, um die Müllberge zu reduzieren. Diese Berge, an manchen Orten sind sie so hoch wie ein zehnstöckiges Haus, werden lediglich verschoben. So soll der Moskauer Müll vielfach nicht mehr in Moskau landen und immer weniger auch im Moskauer Umland, sondern einfach weiter weg gebracht werden. Das Land sei ja groß genug, heißt es so manches Mal von den Behörden. Demnächst soll einiges, was in Moskau zusammenkommt, in Schijes ausgeladen werden, dem nicht mehr existierenden Dorf auf dem Weg in den hohen Norden. 1.200 Kilometer von der Hauptstadt entfernt entsteht hier, mitten im Wald, ein Technopark. Zwei Jäger haben die Müllanlage in der Taiga zufällig entdeckt. Die Wut der Menschen, über die wieder einmal hinwegentschieden worden ist, richtet sich nun gegen die Lokalregierung. Die Menschen fordern Informationen und versuchen, den Bau des Technoparks zu behindern.
Russlands Präsident Wladimir Putin, ohnehin mit fallenden Zustimmungswerten konfrontiert, hat auf die immer wieder aufflammenden Müll-Proteste mit einer „Müllreform“ reagiert: In fünf Jahren sollen in Russland mindestens 200 Müllverbrennungsanlagen gebaut werden. Doch auch hier regt sich Widerstand. Das Vertrauen in die staatlich verordnete Müllverbrennungsoffensive ist gering, viele fürchten, die Anlagen würden zu schnell hochgezogen, die Umweltstandards missachtet. Das Verfassungsgericht in Tatarstan hat nach Anwohnerbeschwerden erst kürzlich den Bau einer Verbrennungsanlage in einem Vorort von Kasan gestoppt. Weitere Klagen in Sachen Müll sind noch nicht entschieden. Putins „Müllreform“ schreibt keine Mülltrennung vor. Sie überlässt das Vorgehen den Regionen. Diese verdienen zuweilen gut an den bestehenden Verhältnissen – und wollen sie nicht ändern. Wären da nicht die rebellischen Bürger, die plötzlich anfangen, das System in Frage zu stellen.
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