Die Angst des Kremls vor der Zivilgesellschaft
Als das erste Gesetz 2012 eingeführt wurde, beschmierten Unbekannte das Moskauer Büro der Menschenrechtsorganisation Memorial mit „Ausländischer Agent – *Herz* USA“. (Foto: https://memohrc.org/)
Noch in diesem Jahr könnte die russische Staatsduma mehrere Gesetzesinitiativen verabschieden, mit denen die berüchtigten „Agentengesetze“ massiv verschärft würden. Unter dem Vorwand „ausländischen Einfluss“ zu bekämpfen, zielen die Novellen auf eine vollständige Kontrolle unabhängigen gesellschaftlichen Engagements. Dies wäre ein neuer massiver Angriff auf die Zivilgesellschaft, schreibt LibMod-Programmdirektorin Maria Sannikova-Franck.
Der politische Hintergrund für diese neue Welle von Einschüchterung und Kontrolle liegt auf der Hand. Im September 2021 stehen Parlamentswahlen an. In Umfragen liegt die Regierungspartei „Einiges Russland“ derzeit aber bei kaum 30 Prozent. Die Massenproteste in Belarus haben dem Kreml wieder deutlich gemacht, wozu eine starke Zivilgesellschaft fähig ist. Auch in Russland kommt es immer wieder zu lokalen Protesten. Nur wenige davon werden im Westen bekannt – die seit Monaten anhaltenden Demonstrationen im fernöstlichen Chabarowsk sind da eine Ausnahme. Trotz hoher Hürden ist es oppositionellen Gruppen vereinzelt gelungen, „Einiges Russland“ bei Lokalwahlen in die Schranken zu weisen.
Durch Wahlfälschungen ausgelöste Massenproteste gegen autoritäre Herrscher sind spätestens seit der „orangenen Revolution“ in der Ukraine 2004 ein Schreckensszenario für den Kreml. Um solche Entwicklung in Russland im Keim zu ersticken, geht der Kreml seitdem systematisch gegen alle oppositionellen Regungen in der russischen Zivilgesellschaft vor.
Zentrales Element der jetzt geplanten Neuerungen ist die Verschärfung der restriktiven und diskriminierenden Regelungen gegen sogenannte ausländische Agenten. Außerdem sind weitere Einschränkungen von öffentlichen Versammlungen und die Verstärkung staatlicher Kontrolle im Bereich Bildung und politischer Aufklärung geplant.
„Ausländischer Agent“ als Synonym für Verräter
Der Status des „ausländischen Agenten“ wurde bereits 2012 als Reaktion auf Massendemonstrationen gegen Wahlfälschungen und Putins Rückkehr ins Präsidentenamt durch eine Änderung der NGO-Gesetze eingeführt. Der im Stalinismus gebräuchliche Begriff ist in Russland eindeutig negativ konnotiert und wird als Synonym für „Spion“ beziehungsweise „Verräter“ verstanden.
Denn nach offizieller Darstellung sind Proteste und Dissens kein Ausdruck staatsbürgerlicher Unzufriedenheit, sondern eine Folge von auch finanziellem ausländischem Einfluss, der darauf abzielt, dem Land zu schaden.
Nach den derzeitigen Regeln können alle Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) als „ausländische Agenten“ klassifiziert werden, die zum einen finanziell aus dem Ausland unterstützt werden oder von dort Vermögenswerte erhalten und zudem „politisch“ tätig sind.
Verschwommene und widersprüchliche Kriterien
Als ausländische Unterstützung gelten Zuwendungen von anderen Staaten, internationalen oder ausländischen Organisationen, ausländischen Staatsbürgern, Staatenlosen oder deren Bevollmächtigten. Aber auch Zuwendungen russischer Staatsbürger fallen darunter, wenn diese selbst Geld aus ausländischen Quellen bezogen haben oder als Mittler agieren.
Die Kriterien für „politische Tätigkeit“ sind sehr verschwommen und widersprüchlich formuliert. Praktisch jede Einflussnahme auf staatliche Politik, jede Bewertung des staatlichen Handels bis hin zur kommunalen Ebene lässt sich als „politische Tätigkeit“ einstufen. Zwar sollen Bereiche wie Wissenschaft, Kultur, Gesundheitswesen, soziale Fürsorge und Umweltschutz ausgenommen sein. Aber in der Praxis sind auch solche Tätigkeiten als „politisch“ gewertet und die entsprechenden Organisationen zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden.
Die so gebrandmarkten NGOs unterliegen erweiterten Berichtspflichten und können bei Verstößen mit höheren Bußgeldern als andere NGOs belangt werden. Sie müssen zudem die Bezeichnung „ausländischer Agent“ bei allen Veröffentlichungen und Unterlagen hinzufügen.
Die „Agentengesetzgebung“ steht wegen ihrer vagen Formulierungen und willkürlichen Anwendung seit der Einführung 2012 unter dauerhafter Kritik. Sie hatte verheerende Folgen für die russische Zivilgesellschaft.
Mehr als 160 russische NGOs wurden bisher als „ausländische Agenten“ eingestuft. Darunter sind international renommierte Menschenrechts- und Umweltorganisationen wie Memorial, das Sacharow-Zentrum, die Baikal Environmental Wave und die Wahlbeobachtungsorganisation GOLOS. Betroffen sind auch wissenschaftliche Einrichtungen wie das Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum und NGOs, die sich in der AIDS-Prävention oder Diabetes-Hilfe engagieren. In der Folge haben sich die betroffenen Gruppen entweder aufgelöst oder andere Organisationsformen gefunden. Einige verzichteten auf ausländische Unterstützung und konnten ihre Streichung von der Liste erreichen. Anfang Dezember waren knapp 70 russische NGOs auf der Liste der „ausländischen Agenten“ des russischen Justizministeriums.
NGOs, die ihre Arbeit als „ausländischer Agent“ fortgesetzt haben, sind als Wahlbeobachter, auch bei Referenden, ausgeschlossen und dürfen sich nicht an der Überwachung des Strafvollzugs beteiligen. Sie dürfen keine Überprüfungen von Gesetzesentwürfen auf Korruptionsanfälligkeit vornehmen und keine „sozial nützlichen Dienste“ mehr anbieten. Letzteres schränkt ihren Zugang zu russischen Finanzquellen erheblich ein.
Zudem wurden „ausländische Agenten“ immer wieder wegen des Vorwurfs, Veröffentlichungen nicht ausreichend gekennzeichnet zu haben, mit Strafen belegt. Die Menschenrechtsorganisation Memorial wurde deswegen im vergangenen Jahr in dutzenden Gerichtsverfahren zu Geldbußen in Höhe von mehreren Millionen Rubel verurteilt.
Auch Einzelpersonen sollen künftig zu „Agenten“ erklärt werden
Nun soll die Bezeichnung „ausländischer Agent“ auf Einzelpersonen – unabhängig von der Staatsbürgerschaft – und auf nicht registrierte Vereinigungen erweitert werden.
Die Pläne sehen vor, ein spezielles Register für informelle Gruppen einzurichten, die mit Unterstützung aus dem Ausland „politische Tätigkeiten“ ausüben.
Noch einfacher soll die Klassifizierung künftig für Einzelpersonen sein. Über die finanzielle Unterstützung und Übertragung von Vermögenswerten hinaus, soll bei Individuen bereits die Inanspruchnahme von „organisatorisch-methodischer Hilfe“ aus dem Ausland ausreichen, um als „ausländischer Agent“ gelistet zu werden. „Politische Aktivitäten im Interesse von anderen Staaten, ausländischen Organisationen oder Staatsbürgern“ sind als zweites Merkmal nicht einmal zwingend notwendig. Es reicht das Sammeln von Informationen über russische militärische Aktivitäten, die dann von den ausländischen Förderern genutzt werden könnten, um die Sicherheit der Russischen Föderation beeinträchtigen können. Das betrifft ausdrücklich nur solche Informationen, deren Sammlung nicht die Tatbestände „Landesverrat“ beziehungsweise „Spionage“ erfüllen.
Eine Ausnahme soll es für akkreditierte ausländische Journalisten geben, aber nur „im Rahmen ihrer professionellen Tätigkeit“, wie es vage heißt.
Auch für die neuen „Agenten“ sollen umfassende Berichtspflichten gelten, wie bereits für so klassifizierte NGOs. Als „Agenten“ eingestufte Einzelpersonen sollen keinen Zugang zum öffentlichen Dienst und zu Staatsgeheimnissen haben.
Auch müssen sie bei allen Veröffentlichungen und im offiziellen Schriftverkehr umfassend auf ihren „Agentenstatus“ hinweisen. Zusätzlich müssen alle Mitarbeiterinnen und Mitglieder von als „ausländische Agenten“ registrierten NGOs künftig auf ihre Zugehörigkeit zu einem „ausländischen Agenten“ in ihrer Kommunikation nach außen hinweisen.
Für Medien soll die Pflicht gelten, bei der Erwähnung von „ausländischen Agenten“ – egal ob NGOs, Individuen oder informelle Gruppen – auf deren „Agenten-Status“ hinzuweisen. Eine ähnliche Regelung gilt in Russland für extremistische Organisationen.
Darüber hinaus gibt es Änderungsvorschläge für die Wahlgesetzgebung: Kandidaten, die bereits als „ausländische Agenten“ eingestuft wurden, müssen auch als solche kandidieren. Wer binnen zwei Jahren vor der Wahl für eine als „ausländischer Agent“ eingestufte Institution tätig gewesen ist, muss als „mit einem ausländischen Agenten verbundener Kandidat“ kandidieren. Gleiches gilt für diejenigen, die im selben Zeitraum einer politischen Tätigkeit nachgegangen sind und von einem „ausländischen Agenten“ unterstützt wurden.
Die Betroffenen müssen ihren „Agenten-Status“ überall angeben – in Wahlwerbung etwa auf Plakaten soll diese Bezeichnung mindesten 15 Prozent der Gesamtfläche ausmachen.
NGOs müssen künftige Aktivitäten anmelden
Für die bereits als „ausländische Agenten“ eingetragenen NGOs sehen die Gesetzentwürfe vor, dass sie künftig das Justizministerium vorab über geplante Programme und Aktivitäten unterrichten müssen. Das Ministerium kann die gemeldeten Aktivitäten dann verbieten. Die Voraussetzungen für ein solches Verbot werden im Entwurf nicht festgelegt; es gibt auch keine Möglichkeit es vor Gericht anzufechten. Hält sich die betroffene Organisation nicht daran, droht der Organisation die Schließung.
Die vorgesehene Nichtanfechtbarkeit solcher Verbote zwingt Organisationen dazu, diese zu akzeptieren, auch wenn sie klar rechtswidrig sind, oder ihre eigene Schließung zu riskieren.
Die Gesetzesvorhaben sehen auch vor, die Tätigkeiten „ausländischer Agenten“ weiter einzuschränken. So dürfen sie keine öffentlichen Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen finanzieren oder deren Organisation unterstützen.
„Agenten“ sollen keine Veranstaltungen mehr finanzieren dürfen
Auch drohen weitere Beschränkungen der Versammlungsfreiheit. Öffentliche Veranstaltungen sollen künftig nur über ein Bankkonto finanziert werden dürfen, dass den Behörden gemeldet werden muss. Eine Finanzierung mit Bargeld oder anonymen Spenden soll nicht mehr zulässig sein. Ausländischen Organisationen, Ausländern, und als ausländische Agenten eingestuften Organisationen ist die Finanzierung solcher Veranstaltungen künftig verboten.
Verstärkte Kontrolle im Bildungssektor
Schließlich beabsichtigt ein weiteres Gesetzesvorhaben neue Einschränkungen im Bildungssektor . Die vorgeschlagenen Änderungen führen den neuen und sehr breiten Begriff der „aufklärerischen Tätigkeit“ für Bildungsangebote außerhalb des offiziellen Bildungswesens ein. Experten befürchten, dass dadurch jegliche Form der Wissensvermittlung, und jede Verbreitung von Informationen verstanden werden können. Die Änderungsvorschläge stellen diese Aktivitäten unter strenge staatliche Kontrolle. Außerdem zielen sie darauf, internationale Kooperationen im Bildungsbereich genehmigungspflichtig zu machen. Dadurch würde es für Bildungsträger künftig schwerer werden, solche Kooperationen einzugehen.
Diese Neureglungen sollen nach Ansicht der Initiatoren „eine unkontrollierte Umsetzung einer breiten Palette von Propagandaaktivitäten unter Schülern und Studentinnen durch „antirussische Kräfte“ verhindern. Solche – auch aus dem Ausland unterstützte – Aktivitäten zielten darauf ab, „die Staatspolitik Russlands zu diskreditieren, Geschichte zu revidieren und die verfassungsmäßige Ordnung zu untergraben.“
Deutschland darf die neue Unfreiheit nicht verdrängen
Mit diesen Gesetzesinitiativen setzt der Kreml seine Politik der Unterdrückung und der gesellschaftlichen Isolation von all jenen fort, die unabhängig handeln und als potentielle Sammelpunkte für kritische Information, gesellschaftlichen Protest und politische Opposition ausgemacht werden. In ihrer Tätigkeit sieht er die Bedrohung der eigenen Macht.
Sollten die neuen Regelungen verabschiedet werden, würden kritische Stimmen aus Zivilgesellschaft und Medien weiter unter Druck gesetzt. Das ohnehin schon herrschende strafrechtliche Risiko und die Stigmatisierung jeder Art kritischen Engagements würde weiter erhöht. Zensur und Kontrolle würden auf den Bildungssektor ausgedehnt. Die Luft für politische Opposition auf regionaler und kommunaler Ebene, wo sich demokratische Politikerinnen und Politiker noch hier und da behaupten konnten, würde noch dünner.
Bereits mit der Einbringung der Gesetzesinitiativen wurde ein neuerliches Signal an staatliche Stellen im ganzen Land gesandt, dass „ausländische Einflüsse“ das Land existenziell gefährden und bekämpft werden müssen. Wer aber unabhängig und unter Nutzung aller Ressourcen, die ihm die internationale Zusammenarbeit zur Verfügung stellt, öffentlich handeln will, dem wird bedeutet, dass er dafür einen hohen Preis zu zahlen haben könnte.
Für das deutsche Russlandbild und unsere Russlandpolitik ist es elementar, die sich abzeichnenden neuen Dimension der Unfreiheit in Russland nicht zu verdrängen. Die Debatte, wie damit umzugehen ist, muss dringend geführt werden.
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