Wie sich der Kreml mit Nebelkerzen unglaubwürdig macht
Seit Jahren hantiert der Kreml mit einem Feuerwerk an widersprüchlichen Erklärungen, wenn er in die Klemme gerät. An Beispielen mangelt es nicht.
Die Demonstranten auf dem Kiewer Majdan? Alles Faschisten und Antisemiten, die vom CIA gesteuert und vom State Department bezahlt waren, so die Behauptungen des Kremls. Dass Hunderttausende Menschen wochenlang friedlich gegen das kleptokratische Janukowytsch-Regime protestierten, bis immer mehr Demonstranten von den staatlichen Sicherheitskräften brutal zusammengeschlagen, verschleppt, gedemütigt und gar erschossen wurden, passt jedoch nicht in die Lesart aus Moskau.
Die Besetzung der Krim im Februar 2014? Damit hat Russland nichts zu tun, das waren „höfliche Menschen“ und uniformierte lokale Selbstverteidigungskräfte, die, wie aus dem Hut gezaubert, die gesamte Halbinsel inklusive strategisch neuralgischer Punkte besetzten. Eine russische Beteiligung wiegelte Putin in einem Interview mit dem Hinweis ab, solche Uniformen könne man ja in jedem Geschäft besorgen. Erst nachdem die Krim in dem orchestrierten „Referendum“ Mitte März ohne echte Wahlmöglichkeit einverleibt wurde – zwischen Besetzung, „Referendum“ und Einverleibung der Krim lagen gerade einmal drei Wochen – brüstete sich Putin der professionellen Arbeit seiner Spezialeinheiten. Er zeichnetet sie dafür später mit Medaillen aus.
Ab April 2014 eskalierte die Lage im Donbas: Laut russischer Darstellung handelte es sich um einen Aufstand bedrängter Bürger und Bergarbeiter, die sich der russischen Sprache beraubt und von den „Kiewer Faschisten“ bedroht sahen. Doch nicht diese angeblich faschistische Bedrohung, die es nie gab, sondern erst das militärische Eingreifen Russlands hat bis zum heutigen Tage mehr als 10.000 Menschenleben gekostet und Hunderttausende in die Flucht getrieben.
Zentrale Figur bei der Besetzung im Donbas war nicht irgendein ostukrainischer Bergarbeiter, sondern bezeichnenderweise der russische Geheimdienstoberst Igor Girkin, der bereits an der Okkupation der Krim beteiligt war. Er führte die Besetzung von Slowjansk an und war mehrere Monate „Verteidigungsminister“ der Donezker Separatisten. Später gab er zu Protokoll, dass der „Aufruhr“ im Donbas mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner resultierte und ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.
Wladimir Antjufejew war 20 Jahre KGB-Chef und Sicherheitsminister in der von Russland gesteuerten abtrünnigen Region Transnistrien in Moldau und später in Donezk selbsternannter „Ministerpräsident“ und Sicherheitschef. Igor Besler, genannt „Bes“ (Teufel), kämpfte in Afghanistan und Tschetschenien, war beim russischen Militärgeheimdienst GRU und bei der Besetzung der Krim beteiligt. Von ihm ging ein Video um die Welt, wie er im ostukrainischen Gorliwka noch vor Gewaltausbruch das Kommando über die örtliche Polizeistation an sich riss. Russland tat ihn als „Hauptmann von Köpenick“ ab. Spätere kommandierte er Einheiten der Separatisten und war in den Abschuss von MH17 involviert.
Im August 2014 gerieten Girkins Truppen aus Freischärlern und russischen Soldaten „auf Urlaub“ durch ukrainische Geländegewinne unter Druck. Nun mussten auch reguläre russische Truppenverbände eingreifen. Offiziell hatten die sich schlicht „verfahren“. Die renommierte russische Zeitung „Kommersant“ deckte hingegen auf, dass professionelle russische Soldaten im Kampf eingesetzt wurden. Nach dem Abflauen der Kampfhandlungen wurden sie zurückgezogen und der Presse stattdessen lokale Rebellen präsentiert. Die beteiligte russische Einheit wurde ein Jahr später durch einen Ukas von Putin persönlich belobigt.
Nach dem Abschuss von Malaysia Airlines MH17 im Juli 2014 über der Ostukraine behaupteten russische Stellen, das Flugzeug sei von ukrainischen Kampfjets abgeschossen worden. Zunächst war von einer SU-25 die Rede, dann von einer MiG 29. Dann soll das Flugzeug mit einer BUK-Luftabwehrrakete von ukrainisch kontrolliertem Gebiet abgeschossen worden sein. Der russische Hersteller des Raketensystems arrangierte hierfür eigens eine gezinkte Untersuchung, die dies belegen sollte. Der Sender RT-Deutsch zahlt einem Spanier 48.000 USD, damit er sich als spanischer Mitarbeiter der ukrainischen Luftverkehrsüberwachung ausgab und in Interviews und via Twitter die Ukraine verantwortlich machte. Eine weitere Theorie war, dass MH17 versehentlich von der Ukraine abgeschossen worden sei. Eigentlich habe man die russische Präsidentenmaschine treffen wollen, die gleichzeitig die Ukraine überflog. Schließlich wurde behauptet, der Absturz sei durch Bomben an Bord verursacht worden, die der CIA ins Flugzeug gebracht habe. Das Flugzeug sei bereits mit Leichen gefüllt gewesen. So sollen Ergebnisse des internationalen Ermittlungsteams, das einen Abschuss mit einer russischen Waffe vom Gebiet der Separatisten nachwies, regelmäßig in Zweifel gezogen werden.
2015 wurde der Bundestag gehackt, später das Wahlkampfteam von Hillary Clinton und Manuel Macron. Zuletzt wurde das Intranet der deutschen Bundesbehörden und des Auswärtigen Amts angegriffen. Stets wurden die Hackergruppen APT 28 und 29 identifiziert, bekannt als Cozy Bear und Fancy Bear bzw. Sofacy,. Der Kreml stritt seine Verantwortung ab. Putin sah allenfalls unabhängige patriotische „Künstler“ am Werk. Inzwischen konnte in zwei Fällen beim Angriff auf die US-Demokraten nachgewiesen werden, dass die Spur der Hacker direkt in russische Geheimdienstgebäude führt.
Auch beim 2006 durch radioaktives Polonium vergifteten russischen Geheimdienstüberläufer Alexander Litwinenko wurden zahlreiche Nebelkerzen geworfen, hinter denen die Wahrheit verschleiert werden sollte: Mal hieß es, es handle sich um ein westliches Komplott zur Diskreditierung Russlands. Mal wurde der damals im britischen Exil lebende Oligarch Boris Beresowsky beschuldigt. Inzwischen wurde sogar Litwinenkos Vater dazu gebracht, im russischen TV zusammen mit dem mutmaßlichen Mörder seines Sohnes die CIA verantwortlich zu machen. Die britischen Behörden, die in rechtsstaatlichen Verfahren jahrelang an dem Fall gearbeitet haben, sehen hingegen eine eindeutige russische Täterschaft.
Nach dem Anschlag auf Sergej Skripal hieß es, Russland verfüge nicht über das verwendete Nervengas Nowitschok. Dies könne aus Laboren in Großbritannien, Tschechien, Schweden oder dem Baltikum stammen. Der Anschlag sei außerdem eine getarnte Operation Großbritanniens, um Russland zu schaden, beziehungsweise die Ukraine habe Skripal vergiftet. Nachdem die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) den Einsatz von Nowitschok bestätigte, wurde von Russland behauptet, Großbritannien manipuliere die unabhängige Organisation. Der russische Außenminister Lawrow sagte zudem, ein Schweizer Labor haben das vom Westen produzierte Nervengift BZ am Tatort nachgewiesen, was von der OPCW verheimlicht werde. Diese haltlose Behauptung stellte sich als glatte Lüge heraus. Die Einsatzstelle des Europäische Auswärtige Dienst zur Bekämpfung von Desinformation zählte binnen drei Wochen 25 unterschiedliche, sich zum Teil widersprechende Theorien zum Fall Skripal.
Das Muster gleicht einer Blaupause: Sobald der Kreml, die Geheimdienste GRU und FSB oder das russische Militär in den Verdacht geraten, legt die Verwirrmaschinerie los. Das jüngste Beispiel dieser Taktik erleben wir derzeit im Umgang mit dem Giftgaseinsatz in Syrien. Nicht eine Alternative wird in den Raum geworfen, sondern möglichst viele. Nicht verschiedene mögliche Alternativen werden aufgezeigt, sondern die größten Absurditäten werden von Regierungssprechern, dem Außenminister, der Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, russischen staatlichen Medien oder Präsident Putin selbst in Umlauf gebracht. Je mehr – auch unwahrscheinliche – Theorien existieren und von staatlichen Stellen verbreitet werden, umso weniger glaubhaft erscheinen die naheliegenden Indizien.
Und der Westen? Der verliert sich in der Suche nach justiziablen Beweisen, wo politische Plausibilitäten gefragt sind. Er wartet auf Bekennerschreiben oder das Auftauchen von Befehlen der russischen Staatsführung, die mit Brief und Siegel bestätigt sind. Dabei besteht der Charakter von Geheimdienstoperationen darin, die Täterschaft zu verschleiern und nur Spuren zu setzen, die als Botschaften für alle verständlich aber eben nicht gerichtsfest sind.
Wir aber meinen, ohne Putins Unterschrift keine Gewissheit haben zu dürfen. Wir stellen die unterschiedlichen Aussagen nebeneinander, vollkommen unbeteiligt und ohne eigenes Urteilsvermögen. Das führt zum ständigen Konjunktiv und dem “Vermeintlichen”.
Politik ist kein Gerichtssaal. Sie muss sich notgedrungen von möglichst hoher Plausibilität leiten lassen, wenn sie nicht handlungsunfähig sein will. Der Kreml lacht sich sonst ins Fäustchen vor so viel Dekadenz des Westens, der offenbar selbst zwei und zwei nicht mehr zusammenzählt.
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