„Eine der wenigen ungefährlichen Methoden, seine Meinung zu sagen“
Die Wahlen zur russischen Staatsduma stehen unter keinen guten Vorzeichen. Eingesperrte Oppositionsführer, Internetsperren und die Schließung unabhängiger Medien machen es schwer, die Abstimmung ernst zu nehmen. Stanislaw Andrejtschuk von der Wahlbeobachtungs-Initiative Golos findet, dass die Abstimmung trotzdem wichtig ist.
Die russischen Unterhauswahlen, die an diesem Freitag beginnen und bis Sonntag dauern, finden unter denkbar schlechten Bedingungen statt, jedenfalls aus Sicht aller, denen die Demokratie in Russland am Herzen liegt. Noch nie seit dem Ende der Sowjetunion 1991 ist der Staat so unbarmherzig und konsequent gegen seine Gegner vorgegangen wie in den vergangenen Monaten. Im ganzen Land wurden Oppositionelle eingesperrt, Journalistinnen zu „ausländischen Agenten“ erklärt und freie Medien als „unerwünschte Organisationen“ faktisch verboten.
Und dennoch gibt es Leute, denen diese Wahl am Herzen liegt und die versuchen, einen möglichst fairen und freien Verlauf zu sichern. Zu diesen Leuten gehört Stanislaw Andrejtschuk von der Wahlbeobachtungs-Initiative Golos. Andrejtschuk hofft, dass während der dreitägigen Wahl möglichst viele Menschen beobachten, ob es mit rechten Dingen zugeht.
Die Voraussetzungen dafür sind denkbar schlecht. „Golos“ galt lange als die bedeutendste Wahlbeobachtungsorganisation Russlands und wurde bereits 2012 zum „ausländischen Agenten“ erklärt. Als die Organisation sich weigerte, das anzuerkennen, wurde sie suspendiert und die Golos-Vorsitzende Lilia Schibanowa musste 2013 das Land verlassen. Aber die Golos-Aktivisten gaben nicht auf und formierten sich als Bürgerinitiative. Am 18. August wurde auch diese Initiative zum „ausländischen Agenten“ erklärt.
Dennoch geht die Arbeit von Golos weiter. Wie Andrejtschuk in einem telefonischen Interview erklärte, sollen Bürgerinnen und Bürger in den Wahllokalen beobachten. Interessenten konnten sich auf der Golos-Homepage anmelden und an Online-Workshops teilnehmen. Andrejtschuk wollte keine Zahlen nennen, nur dass bei der Präsidentenwahl 2018 mehr als 10,000 Menschen von den online-Tools Gebrauch gemacht hätten. Außerdem setzt Andrejtschuk auf die Parteien, die das Recht haben, eigene Beobachter zu stellen. Natürlich nicht auf die Kremlpartei Einiges Russland, aber unter den Kommunisten und der erst 2020 gegründeten Partei Neue Leute seien „eine Menge ehrlicher Leute“, sagt er.
Der Kreml hat dieses Mal viel getan, um das Erkennen von Fälschungen zu erschweren. Allein die Länge der Wahl – drei Tage statt einen – bedeutet, dass man mehr Beobachter braucht, die länger arbeiten müssen. Die fast 200,000 Webcams, mit denen man seit der Präsidentenwahl 2012 von praktisch überall in Wahllokale schauen konnte, sind zwar noch da – aber die Video-Übertragungen lassen sich nur aus den Räumen der Gesellschaftskammern beobachten – eine Art Bürgerparlament – was den Sinn der Live-Übertragungen ad absurdum führt, wie Golos in einem Schreiben an Präsident Wladimir Putin beklagte.
Hinzu kommen direkte Angriffe auf die Wahlbeobachter. Das russische Staatsfernsehen verbreitete am 14. und 16. September eine Reihe von offensichtlich inszenierten Videos, in denen angebliche Golos-Mitarbeiter angebliche Wahlbeobachter instruieren, die Wahlen als gefälscht zu diskreditieren.
Internationale Walbeobachter gibt es keine, jedenfalls nicht von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte in Warschau, das die OSZE-Wahlbeobachtung verantwortet, entschied im August, die geplante Beobachtungsmission abzusagen, weil Moskau statt der angeforderten 500 nur 50 Beobachter zulassen wollte – angeblich aus Sorge um deren Gesundheit wegen der Pandemie.
Andrejtschuk betont, dass es trotzdem keinen Grund gebe, an den Wahlen nicht teilzunehmen und dass es sinnvoll und wichtig sei, sie zu beobachten und kritisch zu begleiten. „Die Welle der Repressionen, die wir jetzt beobachten, ist ja das direkte Ergebnis unserer bisherigen Erfolge“, sagt er. Vieles habe sich gebessert im Land: Die Menschen seien eigenständiger, vor allem seitdem soziale Medien das Informationsmonopol des Staates zerstört hätten. Und: „Wahlen sind jetzt eine der wenigen ungefährlichen Methoden, seine Meinung zu sagen“, erklärt er.
Das heißt natürlich nicht, dass die Aussichten rosig sind. Ganz im Gegenteil. Denn bei dieser Duma-Wahl wird erstmals in größerem Stil online abgestimmt. Und hier, da ist sich Andrejtschuk bewusst, hört die Möglichkeiten der Wahlbeobachter einfach auf, weil das in Russland dafür verwendete System „absolut intransparent“ sei. Noch ist die online-Abstimmung auf sieben von 85 Regionen (wenn man die annektierte Krim mit der Stadt Sewastopol mitzählt) begrenzt. Aber schon bei der kommenden Präsidentenwahl 2024 könnte überall online abgestimmt werden. Dann, schlussfolgert Andrejtschuk, ist Wahlbeobachtung nicht mal mehr theoretisch möglich und 2021 wäre die letzte richtige Wahl in Russland.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter
Tragen Sie sich in unseren Russland-Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden. Mit unseren Datenschutzbestimmungen erklären Sie sich einverstanden.