Warum der Westen gegenüber China Stärke zeigen muss
China könnte Russland kopieren und schon bald ähnlich provokativ auftreten. Wenn der Westen das autoritäre China in Zukunft in die Schranken weisen will, muss er gegenüber Russland jetzt Haltung zeigen, fordert LibMod-Autor Edward Lucas.
Die enge Freundschaft des Dalai Lama mit Václav Havel versinnbildlichte den optimistischen Idealismus nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Wenn der Eiserne Vorhang fallen und die baltischen Staaten nach 50 Jahren wieder auf die Weltkarte zurückkehren konnten, sollte dann dem besetzten Tibet nicht das gleiche widerfahren können, wenn das kommunistische Regime in Peking bröckelt?
Die Bedrohung, die von China ausgeht, könnte eines Tages die Bedrohung durch Russland bei weitem in den Schatten stellen.
Ein Vierteljahrhundert später sind diese Hoffnungen geschwunden. Der Geist von 1989 ist in Mitteleuropa auf dem Rückzug, während das Regime in Festlandchina die Macht fester in der Hand hat. Der chinesischer Druck macht aus der tibetischen Führung für westliche Politiker Unberührbare. Einst ein geehrter Gast, muss der Dalai Lama jetzt darum kämpfen, in Ländern, die für Freiheit und Demokratie stehen, offiziell überhaupt empfangen zu werden. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagt, er werde das geistige Oberhaupt der Tibeter nicht ohne Zustimmung der chinesischen Regierung treffen. Die Premierminister von Australien und Neuseeland sagen, sie planten keine Begegnung mit ihm. Und sogar in Indien – das die tibetische Exilregierung beherbergt – hat der Außenminister die Amtsträger des Landes davor gewarnt, sich mit Vertretern Tibets zu treffen: aus Angst, die neue Annäherung mit dem riesigen nördlichen Nachbarn könnte ernsthaft gestört werden. In Deutschland liefen chinesische Fußballer aus Protest während einer Regionalligabegegnung in Mainz vom Spielfeld, als ein paar Fans es wagten, eine tibetische Flagge zu schwenken.
Deshalb war es mir eine Freude, Poster zu sehen, auf denen der Dalai Lama mit dem verstorbenen tschechischen Präsidenten zu sehen ist, die Anfang Mai den Stratcom Summit 2018 in Prag zierten, auf dem auch eine tibetische Unterstützergruppe zu Gast war. Die Fachkonferenz wurde von dem Thinktank European Values zusammen mit Partnern aus Deutschland, Schweden und Brüssel veranstaltet.
Die Bilder von Havel und dem Dalai Lama mahnen uns, dass die Bedrohung, die von China ausgeht, eines Tages die Bedrohung durch Russland bei weitem in den Schatten stellen könnte. Von der gegenüberliegenden Seite des Globus aus bestimmt das kommunistische Regime bereits jetzt die Art und Weise, wie wir in Europa und Nordamerika Diplomatie betreiben. Es werden nicht nur der Kontakt zu Tibet sanktioniert, sondern auch die Beziehungen zu Taiwan erschwert. Die jüngste Wendung besteht darin, dass die chinesische Regierung versucht, international operierende Fluggesellschaften zu nötigen, die demokratische Republik China nicht als Land zu bezeichnen, sondern lediglich als Provinz von Festlandchina. Immerhin das sorgte für Protest der US-Regierung.
Chinesische Nötigungsversuche sind – ganz wie die russischen – nur deshalb erfolgreich, weil wir es zulassen. Jeder westliche Politiker, der den Dalai Lama trifft, macht es für alle anderen ein Stückchen einfacher. Jeder, der jetzt vor einem Treffen zurückschreckt, erschwert weitere Treffen. Wenn China es schafft, Länder wie Estland, Norwegen und die Slowakei zu bestrafen (diese hatten in den letzten Jahren allesamt auf diese oder jene Art eine der roten Linien des kommunistischen Regimes überschritten), erhöht das die Hürden für eine eigenständige und selbstbewusste Diplomatie des Westens gegenüber China.
Gegenwärtig ist Russland die drängendere Gefahr. Aber es kann von China dazulernen: Wie würden wir reagieren, wenn Russland kremlkritische Aktivisten auf die gleiche Art kidnappt, wie China seine Kritiker in Hongkong und anderswo festsetzt. Wie würde es uns gefallen, wenn das Regime in Moskau die russische Diaspora als politische Waffe einsetzt, wie das ihre Kollegen in Peking längst tun?
Russland ist im Grunde ein armes Land, daher kommt es im Konflikt mit dem Kreml auf Willenskraft und Koordination an, und nicht auf die Stärke der Mittel. Unsere Verwundbarkeit gegenüber dem Moskauer Cocktail aus Geld, Propaganda, Cyber-Angriffen und Einschüchterung ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil das Regime von Wladimir Putin diese Mittel einsetzt, um uns zu schwächen. Diese Mittel werden bald auch von China eingesetzt werden, und zwar in erheblich größerem Maße als jetzt. Entweder wird Russland jetzt aufgehalten, oder China wird später gewinnen.
Russland kann viel von China lernen und umgekehrt. Es mag eine gewisse Beruhigung für uns sein, dass dies noch nicht geschehen ist. Was uns aber wirklich zu denken geben sollte, ist, dass es geschehen wird.
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