Warum die NATO eine klügere Abschreckungspolitik braucht
Die Abschreckung potentieller Angreifer ist die Grundlage guten Verteidigung. Besser, man hält den Gegner von vornherein von einem Angriff ab, statt ihn mit hohen Kosten in einem Krieg bekämpfen zu müssen, meint der frühere Moskau-Korrespondent des Economist, Edward Lucas.
Die Abschreckungspolitik der NATO besteht im Wesentlichen darin, dass die Vereinigten Staaten zum Schutz ihrer europäischen Verbündeten das Risiko eines Kernwaffenkrieges eingehen. Während des Kalten Krieges hat diese Strategie funktioniert, wenngleich nur knapp. Jetzt aber steht sie vor dem Aus. Ein baltischer Politiker fragte mich vor Kurzem: „Was genau wird die NATO tun, wenn Russland nur ein paar Quadratzentimeter unseres Territoriums besetzt?“ Idealerweise wäre die Reaktion schnell und einschüchternd. Weit hinausgehend über eine verärgerte Note aus Brüssel, aber immer noch weit entfernt von einem tatsächlichen Krieg.
Mein Vorschlag wäre, finanzielle Überraschungsmanöver in Form von Kriegsspielen zu veranstalten, jedoch ohne den Einsatz tatsächlicher Waffen
Die beste Lösung wäre eine schnelle Abfolge sich verschärfender Sanktionen. Bisher wurden Sanktionen auf die Art verhängt, wie eine Python Beute macht: Als Strafe für die Aggressionen gegen die Ukraine wurde der Druck auf die russische Elite allmählich erhöht. Wir brauchen aber auch Sanktionen nach dem Prinzip der Klapperschlange – eine plötzliche und Furcht erregende Reaktion auf unkluge Maßnahmen.
Würde man russische Vermögen im Ausland einfrieren oder beschlagnahmen, hätte man eine hervorragende abschreckende Wirkung. Das ist jedoch komplizierter als man denkt. Eine Schwierigkeit besteht darin, Kollateralschäden zu vermeiden. Es sei ein Leichtes, den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft zu verursachen, sagte mir ein führender Vertreter Amerikas. Die Schwierigkeit besteht darin zu verhindern, dass in der Folge auch die Wirtschaft der NATO-Verbündeten zusammenbricht. Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich hohe Geldbeträge in Staaten befinden, in denen Gerichte, Behörden und andere Entscheidungsträger langsam oder nur unwillig reagieren. Dazu gehören Länder wie Österreich, Zypern, Liechtenstein oder die Schweiz, die der NATO nicht angehören. Und selbst einige NATO-Mitglieder bereiten in dieser Hinsicht Schwierigkeiten: Die britischen Offshore-Gebiete wie die Virgin Islands sind bekannt für ihre mangelnde Transparenz.
Von russischen Manövern lernen
Man sollte es trotzdem versuchen. Ich schlage „finanzielle Überraschungsmanöver“ vor. Der Begriff spiegelt eine beliebte Taktik des Kremls wieder: „Überraschungsmanöver“ in denen Russland bewaffnete Truppen und Ausrüstung mitten in der Nacht plötzlich in Marsch setzt, als ob sie ihre westlichen Nachbarn angreifen wollten. Manöver dieser Art können einen großen Umfang haben und umfassen sogar simulierte Einsätze von Kernwaffen. Der NATO bereiten sie Kopfschmerzen. Mitten in der Nacht müssen Leute aus dem Schlaf geweckt und Satelliten auf Russland ausgerichtet werden. Obwohl eigentlich nichts geschieht, entsteht Unruhe.
Die NATO-Staaten veranstalten selten Überraschungsmanöver. Unsere Soldaten und Politiker lassen sich äußerst ungern mitten in der Nacht unnötig aus dem Schlaf holen. In einigen NATO-Armeen erhalten die Soldaten sogar große Mengen Freizeit als Ausgleich für die Störungen, so dass die Einsatzbereitschaft beeinträchtigt wird.
Kriegsspiele ohne Waffen
Mein Vorschlag wäre, finanzielle Überraschungsmanöver in Form von Kriegsspielen zu veranstalten, jedoch ohne den Einsatz tatsächlicher Waffen. Wir würden Teams von Entscheidungsträgern zusammenstellen, um das plötzliche Einfrieren und die Beschlagnahmung russischer Vermögenswerte als Reaktion auf gefährliche oder provokative Maßnahmen des Kremls zu üben.
Das würde die schnelle und zielgerichtete Vernetzung von Geheimdiensten, Strafjustizwesen, Finanzbehörden und forensischen Leistungen in vielen Ländern innerhalb und außerhalb der EU und der NATO umfassen. Das allein wäre schon eine gute Übung. Noch nützlicher wäre die damit verbundene Feststellung von Komplikationen, die bis zur nächsten Übung beseitigt werden könnten. Damit würden unsere Fähigkeiten verbessert und gleichzeitig wäre es ein starkes Signal mit abschreckender Wirkung an Russland.
Wie bei allen Übungen bestünde die Schwierigkeit darin, zwar ein solches Signal zu senden, aber gleichzeitig unsere tatsächlichen Absichten zu verschleiern. Die Russen müssten erkennen, dass es sich darum handelt, ihnen unsere finanzielle und rechtliche Macht zu zeigen, jedoch ohne, dass sie verstehen, was wir tun – denn dann könnten sie Gegenmaßnahmen ergreifen. Das ist sicherlich schwierig, doch ohne wirksame Abschreckung leben wir mit einem zu großen Risiko.
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