Fak­ten­check: War der Westen schuld am Zerfall der Sowjetunion?

Quelle: Shut­ter­stock

Der Westen habe sich scha­den­froh als Sieger des Kalten Krieges gefei­ert, so lautet eine beliebte Pro­pa­gan­da­fi­gur des Kremls. In Wahr­heit bemüh­ten sich die USA in den frühen 1990er Jahren, das Sowjet­reich vor dem Unter­gang zu retten. Sie mussten jedoch vor den inneren Flieh­kräf­ten des maroden Impe­ri­ums kapi­tu­lie­ren. Warum die his­to­ri­schen Fakten der rus­si­schen Opfer­er­zäh­lung widersprechen.

Der Kreml recht­fer­tigt seine aggres­sive Außen­po­li­tik mit einer angeb­li­chen Ein­krei­sungs­angst und dem ver­letz­ten Stolz einer „großen Nation“. Bei­spiels­weise behaup­tet der rus­si­sche Außen­mi­nis­ter Sergei Lawrow in einem Journ­al­ar­ti­kel, nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union habe ein kon­zi­li­an­tes Russ­land West­eu­ropa und den USA die Hand gereicht, doch sei brüsk zurück­ge­wie­sen worden. Der Westen habe sich nach Ende des Kalten Krieges als Sieger gefei­ert und Russ­land rück­sichts­los nie­der­ge­drückt, anstatt gemein­sam eine neue Welt­ord­nung zu verhandeln.

Die USA wollten die Sowjet­union bewah­ren. Dass sie dennoch zer­bricht – es sollte nicht die Schuld des Westens sein. 

Was Lawrow nicht erwähnt – In den frühen 1990er Jahren ist niemand dring­li­cher am Fort­be­stand des geo­po­li­ti­schen Ein­flus­ses der Sowjet­union inter­es­siert als der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent höchst­selbst: Um der Sta­bi­li­tät der glo­ba­len Ordnung willen, ver­sucht George Bush Senior den Kollaps des Sowjet­reichs auf­zu­hal­ten. Dafür ist er sogar bereit, die Unab­hän­gig­keit der Repu­bli­ken – ein­schließ­lich der heute umkämpf­ten Ukraine – zu verhindern.

Bushs ful­mi­nante Rede im Januar 1992, in der er den Sieg des Kalten Krieges durch den Westen feiert („By the Grace of God, America won the Cold War“), ist allein dem innen­po­li­ti­schen Druck geschul­det. Der Senat hatte eine Reso­lu­tion ver­ab­schie­det, die ihn auf­for­derte, die Unab­hän­gig­keit der Ukraine zu unter­stüt­zen. Pro­mi­nente Poli­ti­ker wie Nancy Pelosi und Newt Ging­rich mel­de­ten sich in einem Brief zu Wort. In Penn­syl­va­nia hatten die Repu­bli­ka­ner einen sicher geglaub­ten Senats­sitz bereits ver­lo­ren, denn die ost­eu­ro­päi­schen Ame­ri­ka­ner wan­der­ten zu den Demo­kra­ten ab.    

Tat­säch­lich pflegt Bush einen zurück­hal­ten­den Poli­tik­stil. Gegen­über China, das auf dem Platz des Himm­li­schen Frie­dens ein blu­ti­ges Mas­sa­ker verübt und dem Apart­heids­re­gime in Süd­afrika ver­tritt er die Haltung, dass inter­na­tio­na­ler Druck den innen­po­li­ti­schen Spiel­raum der Regie­run­gen nur verengt. 

Portrait von Felix Stoßmeister

Felix Stoß­meis­ter ist Poli­tik­wis­sen­schaft­ler mit dem Schwer­punkt Nordamerika.

Weil sich auf Dauer kein Land der Lockung des demo­kra­ti­schen Kapi­ta­lis­mus ent­zie­hen kann, seien Inter­ven­tio­nen über­flüs­sig. Bush glaubt die Geschichte auf seiner Seite.

Diese Haltung prägt auch seine Politik gegen­über der Sowjet­union. Nach anfäng­li­cher Skepsis fasst Bush Ver­trauen zu Gor­bat­schow und unter­stützt seine auf Demo­kra­tie und Markt­wirt­schaft aus­ge­rich­te­ten Refor­men. Wahl­kampf­be­dingt kann er kaum Geld inves­tie­ren, doch ven­ti­liert er Mil­li­ar­den­kre­dite aus West­deutsch­land, Japan und Saudi-Arabien. In Gor­bat­schow sieht Bush einen wich­ti­gen Partner für die Lösung inter­na­tio­na­ler Kon­flikte, wie der Inva­sion Kuwaits durch den Irak. Im Umkehr­schluss fürch­tete er, ein gewalt­sa­mer Zusam­men­bruch des atomar bewaff­ne­ten Sowjet­reichs könnte ungleich kata­stro­pha­lere Folgen zei­ti­gen als der Kollaps Jugo­sla­wi­ens zur selben Zeit.

Im August 1991 spricht Bush vor dem Kiewer Par­la­ment. Er emp­fiehlt den Abge­ord­ne­ten die Zen­tral­re­gie­rung in Moskau wei­ter­hin zu stützen: „In fair­ness, Pre­si­dent Gor­ba­chev has achie­ved asto­nis­hing things, and his poli­cies of glas­nost, pere­stroika, and demo­cra­tiza­tion point toward the goals of freedom, demo­cracy, and eco­no­mic liberty.

In dieser kurzen Phase schmie­den Bush und Gor­bat­schow Über­ein­künfte über die mit­tel­ost­eu­ro­päi­schen Natio­nen hinweg: sie miss­ach­ten deren Selbst­be­stim­mungs­rechte, was ein his­to­risch-mora­li­scher Fehler war. Doch die Zusam­men­ar­beit von Bush und Gor­bat­schow beweist, dass der Vorwurf des Kremls, der Westen habe den Zusam­men­bruch der Sowjet­union als Sieg gefei­ert und Russ­land genüss­lich in Rich­tung welt­po­li­ti­sche Peri­phe­rie gedrängt, aus der Luft gegrif­fen ist. Die USA wollten die Sowjet­union bewah­ren. Dass sie dennoch zer­bricht – es sollte nicht die Schuld des Westens sein.

Im Laufe des Sommers beschleu­nigt sich die Auf­lö­sung des Sowjet­reichs. Nach dem August­putsch sehen sich die USA gezwun­gen, die Kon­takte zu Gor­bat­schows Rivalen Jelzin zu inten­si­vie­ren. Zugleich deuten Umfra­gen in den Repu­bli­ken darauf hin, dass bei den Refe­ren­den eine über­wäl­ti­gende Mehr­heit der Bürger für die Unab­hän­gig­keit stimmen könnte.

Am 8. Dezem­ber 1991 einigen sich die Staats­prä­si­den­ten von Russ­land, Weiß­russ­land und der Ukraine in der Regie­rungs­dat­scha im Wald von Belo­wesch ohne Wissen von Gor­bat­schow und Bush auf die Auf­lö­sung der UdSSR und die Grün­dung der GUS. Um die Sowjet­union ist es gesche­hen. Dennoch wartet Bush noch bis zum Rück­tritt Gor­bat­schows und zur offi­zi­el­len Auf­lö­sung der Sowjet­union tags darauf, um die Unab­hän­gig­keit der Repu­bli­ken –  auch die der Ukraine –  anzuerkennen.

Von einer unfai­ren Behand­lung durch die USA, die immer zum Schaden Russ­lands gehan­delt haben sollen, kann deshalb keine Rede sein. Im Gegen­teil – eine Zeit lang konnte sich die Sowjet­union keinen treue­ren Ver­bün­de­ten wün­schen als die USA und ihren Präsidenten.

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