Faktencheck: War der Westen schuld am Zerfall der Sowjetunion?
Der Westen habe sich schadenfroh als Sieger des Kalten Krieges gefeiert, so lautet eine beliebte Propagandafigur des Kremls. In Wahrheit bemühten sich die USA in den frühen 1990er Jahren, das Sowjetreich vor dem Untergang zu retten. Sie mussten jedoch vor den inneren Fliehkräften des maroden Imperiums kapitulieren. Warum die historischen Fakten der russischen Opfererzählung widersprechen.
Der Kreml rechtfertigt seine aggressive Außenpolitik mit einer angeblichen Einkreisungsangst und dem verletzten Stolz einer „großen Nation“. Beispielsweise behauptet der russische Außenminister Sergei Lawrow in einem Journalartikel, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe ein konziliantes Russland Westeuropa und den USA die Hand gereicht, doch sei brüsk zurückgewiesen worden. Der Westen habe sich nach Ende des Kalten Krieges als Sieger gefeiert und Russland rücksichtslos niedergedrückt, anstatt gemeinsam eine neue Weltordnung zu verhandeln.
Die USA wollten die Sowjetunion bewahren. Dass sie dennoch zerbricht – es sollte nicht die Schuld des Westens sein.
Was Lawrow nicht erwähnt – In den frühen 1990er Jahren ist niemand dringlicher am Fortbestand des geopolitischen Einflusses der Sowjetunion interessiert als der amerikanische Präsident höchstselbst: Um der Stabilität der globalen Ordnung willen, versucht George Bush Senior den Kollaps des Sowjetreichs aufzuhalten. Dafür ist er sogar bereit, die Unabhängigkeit der Republiken – einschließlich der heute umkämpften Ukraine – zu verhindern.
Bushs fulminante Rede im Januar 1992, in der er den Sieg des Kalten Krieges durch den Westen feiert („By the Grace of God, America won the Cold War“), ist allein dem innenpolitischen Druck geschuldet. Der Senat hatte eine Resolution verabschiedet, die ihn aufforderte, die Unabhängigkeit der Ukraine zu unterstützen. Prominente Politiker wie Nancy Pelosi und Newt Gingrich meldeten sich in einem Brief zu Wort. In Pennsylvania hatten die Republikaner einen sicher geglaubten Senatssitz bereits verloren, denn die osteuropäischen Amerikaner wanderten zu den Demokraten ab.
Tatsächlich pflegt Bush einen zurückhaltenden Politikstil. Gegenüber China, das auf dem Platz des Himmlischen Friedens ein blutiges Massaker verübt und dem Apartheidsregime in Südafrika vertritt er die Haltung, dass internationaler Druck den innenpolitischen Spielraum der Regierungen nur verengt.
Weil sich auf Dauer kein Land der Lockung des demokratischen Kapitalismus entziehen kann, seien Interventionen überflüssig. Bush glaubt die Geschichte auf seiner Seite.Diese Haltung prägt auch seine Politik gegenüber der Sowjetunion. Nach anfänglicher Skepsis fasst Bush Vertrauen zu Gorbatschow und unterstützt seine auf Demokratie und Marktwirtschaft ausgerichteten Reformen. Wahlkampfbedingt kann er kaum Geld investieren, doch ventiliert er Milliardenkredite aus Westdeutschland, Japan und Saudi-Arabien. In Gorbatschow sieht Bush einen wichtigen Partner für die Lösung internationaler Konflikte, wie der Invasion Kuwaits durch den Irak. Im Umkehrschluss fürchtete er, ein gewaltsamer Zusammenbruch des atomar bewaffneten Sowjetreichs könnte ungleich katastrophalere Folgen zeitigen als der Kollaps Jugoslawiens zur selben Zeit.
Im August 1991 spricht Bush vor dem Kiewer Parlament. Er empfiehlt den Abgeordneten die Zentralregierung in Moskau weiterhin zu stützen: „In fairness, President Gorbachev has achieved astonishing things, and his policies of glasnost, perestroika, and democratization point toward the goals of freedom, democracy, and economic liberty.“
In dieser kurzen Phase schmieden Bush und Gorbatschow Übereinkünfte über die mittelosteuropäischen Nationen hinweg: sie missachten deren Selbstbestimmungsrechte, was ein historisch-moralischer Fehler war. Doch die Zusammenarbeit von Bush und Gorbatschow beweist, dass der Vorwurf des Kremls, der Westen habe den Zusammenbruch der Sowjetunion als Sieg gefeiert und Russland genüsslich in Richtung weltpolitische Peripherie gedrängt, aus der Luft gegriffen ist. Die USA wollten die Sowjetunion bewahren. Dass sie dennoch zerbricht – es sollte nicht die Schuld des Westens sein.
Im Laufe des Sommers beschleunigt sich die Auflösung des Sowjetreichs. Nach dem Augustputsch sehen sich die USA gezwungen, die Kontakte zu Gorbatschows Rivalen Jelzin zu intensivieren. Zugleich deuten Umfragen in den Republiken darauf hin, dass bei den Referenden eine überwältigende Mehrheit der Bürger für die Unabhängigkeit stimmen könnte.
Am 8. Dezember 1991 einigen sich die Staatspräsidenten von Russland, Weißrussland und der Ukraine in der Regierungsdatscha im Wald von Belowesch ohne Wissen von Gorbatschow und Bush auf die Auflösung der UdSSR und die Gründung der GUS. Um die Sowjetunion ist es geschehen. Dennoch wartet Bush noch bis zum Rücktritt Gorbatschows und zur offiziellen Auflösung der Sowjetunion tags darauf, um die Unabhängigkeit der Republiken – auch die der Ukraine – anzuerkennen.
Von einer unfairen Behandlung durch die USA, die immer zum Schaden Russlands gehandelt haben sollen, kann deshalb keine Rede sein. Im Gegenteil – eine Zeit lang konnte sich die Sowjetunion keinen treueren Verbündeten wünschen als die USA und ihren Präsidenten.
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