Twitter, Trump und die russische Opposition
Action-Figuren von Putin und Trump nehmen ein Selfie auf
Die russische Debatte um Meinungsfreiheit und Zensur im Netz folgt ihrer eigenen Logik. Das hat Gründe.
Acht Tage vor seiner Rückkehr nach Russland bekam Alexej Nawalny unerwartet Unterstützung von einem anderen russischen Oppositionellen, der ihm normalerweise in herzlicher Abneigung verbunden ist – Michail Chodorkowski. Der Anlass dafür lag allerdings außerhalb der politischen Tagesordnung Russlands. Der Ex-Chef des Ölkonzerns Jukos schrieb auf Twitter, dass er und Nawalny die gleiche Position zur Meinungsfreiheit hätten, im Gegensatz zu „einigen unserer Freunde”.
Einig waren sich Chodorkowski und Nawalny in der Bewertung des Vorgehens der Firma Twitter, die den Account von noch-US-Präsident Donald Trump gesperrt hatte. Zuvor hatte Nawalny – ebenfalls auf Twitter – geschrieben, dass die Sperrung „einen nicht hinnehmbaren Akt der Zensur darstellt“. Es sei nicht nachvollziehbar, dass Trump für die Verletzung von Twitter-Regeln geblockt werde, solange dort gleichzeitig Accounts von „bestialischen Mördern (Putin oder Maduro)“, beziehungsweise „Lügnern und Dieben (Medwedew)” existierten. Chodorkowski äußerte sich weniger detailliert, dafür emotionaler: “Meinungsfreiheit für alle! Und ja, sie ist vergossenes Blut wert. Gebt dem teuflischen Trump seinen teuflischen Account zurück!”
Vor Nawalnys Ankündigung, nach Russland zurückzukehren, haben russische Politiker und Experten tagelang und leidenschaftlich die Sperrung des amerikanischen Präsidenten diskutiert. Dabei gingen die Meinungen auseinander. Ljubow Sobol, eine enge Mitstreiterin Nawalnys, verteidigte Trumps Sperrung und betonte, dass man gemäß der Twitter-Regeln nicht zu Gewalt anstacheln dürfe, auch wenn man Präsident ist. Jewgenij Roisman, der ehemalige Bürgermeister von Jekaterinburg, unterstützte ebenfalls die Entscheidung: “Gut. Ein Idiot wollte das Land in Brand setzen. Und man hat ihm die Streichhölzer weggenommen. Was ist daran falsch?”, schrieb er.
Zensur oder soziale Verantwortung?
Ähnlich argumentierte der Menschenrechtler Sergei Davidis, der betonte, dass soziale Netzwerke verpflichtet seien, Informationen zu blockieren, die sie für illegal halten. „Am Ende ist das eine Frage der sozialen Verantwortung,“ schrieb er auf Facebook. Viele andere jedoch sahen in der jüngsten Ausweitung der Sperrpolitik bei den BigTech einen Akt der Zensur.
Seit den jüngsten Protesten um Nawalny ist die Diskussion über Meinungsfreiheit und die Grenzen der Zensur in den Hintergrund gerückt. Doch die stürmische Diskussion über Meinsungsfreiheit in den sozialen Netzwerken hat ein großes und komplexes Problem deutlich gemacht – die Abhängigkeit der russischen Opposition von US-Technologiekonzernen.
Zum Schrecken westlicher Beobachter verteidigten viele Vertreter des russischen oppositionellen Mainstreams Trumps Recht auf einen Twitter-Account. Hinzu kommt der Umstand, dass nicht jeder Fall, bei dem die Meinungsfreiheit verletzt wurde, bei der russischen Opposition – die ja in Bezug auf Zensur sehr sensibel ist – für Empörung sorgt.
So gab es keinerlei Reaktion, als Donald Trumps im August 2020 das chinesische soziale Netzwerk TikTok verbieten lassen wollte. Warum nur? Immerhin war dies ein sehr viel klareres Beispiel einer Einschränkung der Meinungsfreiheit als die Sperrung des Präsidenten-Accounts, weil hier der Staat versucht hatte, die Tätigkeit eines privaten Unternehmens zu verbieten, und nicht umgekehrt.
Es ist durchaus wahrscheinlich, dass es jenseits des traditionellen, als liberal geltenden Mainstreams auch jene gibt, die mit dem ehemaligen Präsidenten der USA mitfühlen, aber das ist nicht der Punkt. Denn nicht jeder, der sich für Trumps Recht auf Twitter-Posts einsetzt, ist auch politisch dessen Anhänger. Ich fürchte, dass das Schweigen um den Fall TikTok andere Gründe hatte, nämlich Pragmatik und die Macht der politischen Gewohnheit. Pragmatik, weil TikTok als Messengerdienst für Jugendliche mit unterhaltsamen Inhalten wahrgenommen wurde, und nicht als potenzieller Kanal zu Verbreitung subversiver Informationen. Das hat sich während der jüngsten Proteste geändert. Die Macht der Gewohnheit, weil staatlicher Druck auf Medien zwar nicht als „normal“ angesehen wird, aber eben doch der gewohnten Lage der Dinge entspricht. Weltweit schränken Regierungen die Tätigkeit sozialer Netzwerke oder Internet-Kanäle ein. Die Opposition in Russland lebt täglich in einer solchen Situation und weiß im Großen und Ganzen, was zu tun ist und wie Verbote umgangen werden können.
Zensur durch Unternehmen eine Neuheit in Russland
Die kürzliche Entscheidung der Technologieriesen, Trump den Zugang zu beschränken, bedeutet ein Aufbrechen des gewohnten Schemas, bei dem klar ist, wer Feind und wer Freund der Meinungsfreiheit ist. Niemals zuvor ist in Russland von Zensur durch Unternehmen gesprochen worden, immer nur von einer durch den Staat. Nun sind aber die sozialen Netzwerke sehr viel wichtiger als die traditionellen Medien und können auf ihren Plattformen alles verbieten, was sie für nötig halten. Die Diskussionen über Trumps Account haben Stimmungen aufgezeigt, die vorher unsichtbar waren, auch wenn sie schon da waren.
Viele Kommentatoren, die eigentlich unverdächtig sind, eine staatliche Kontrolle über die Medien zu befürworten (soziale Netzwerke erfüllen de facto die Funktion von Medien), diskutierten jetzt die eigentlich linke Idee einer Kontrolle von Unternehmen. Andrej Werchowski, ein Experte für hate speech, fasste die Diskussion so zusammen: “Einerseits müssen Meinungsfreiheit und die Freiheit von Privatunternehmen vereint werden, andereseits müssen die höchst unterschiedlichen Bedürfnisse nach (De)Regulierung von Inhalten, die in einer demokratischen Gesellschaft bestehen (erinnert sei an die kürzliche Kampagne für einen Facebook-Werbeboykott), mit den Grundprinzipien ihres Funktionierens in Einklang gebracht werden”.
Im übrigen ist es unwahrscheinlich, dass sich der russische oppositionelle Mainstream einer linken Ideologie öffnet. Hier wirkt eher die Erfahrung der Manipulationen in Russland, die als “Konflikte zwischen Wirtschaftssubjekten” dargestellt werden. Der Fall “BigTech gegen Trump” hat vielen Kommentatoren deutlich gemacht, dass auch amerikanische Wirtschaftssubjekte politisiert sind und durch ihre oligopolistische Macht die Politik beeinflussen können.
Hiermit hängt eine weitere unvorhergesehene Entwicklung zusammen, nämlich die Krise der Vorstellungen vom “imaginären Westen” und der amerikanischen Demokratie als Vorbild. Nawalny hat vollkommen Recht, wenn er sagt, dass die russische Propaganda mit Vergnügen auf den Präzedenzfall der Accounts von Trump verweisen wird. Streng genommen geht es auch schon nicht mehr um Trump: Facebook kann Konservative wie auch Sozialisten sperren, Amazon und Google weigern sich, Serverleistungen zur Verfügung zu stellen, und so weiter. Der Kreml wird gern betonen, dass „alle das so machen”. Die Sache ist nur, dass „alle“ in Wirklichkeit das amerikanische BigTech ist.
Wenn wir über die Lage der Meinungsfreiheit in den sozialen Netzwerken sprechen, sind wir alle – egal in welchem Land wir leben und in welcher Sprache wir diskutieren – genötigt, die amerikanische Gesetzgebung zu erörtern, sei es nun der erste Verfassungszusatz oder Paragraf 230 des „Communications Decency Act“. Für russische Kommentatoren sind solche Diskussionen nichts als intellektuelle Übung. Die Unzufriedenheit der russischen Blogosphäre wäre somit darauf zurückzuführen, dass sie sich der eigenen, im Grunde peripheren Stellung bewusst wird. Paradoxerweise könnten hinter den Debatten über Trump nämlich nicht eine Diskussion über amerikanische Politik stecken, sondern eine andere, etwa über russische Politik.
Ist der Ärger über Trump nur vorgeschoben?
Genau das hat der russische Philologe Gassan Gussejnow jüngst in einem Aufsatz formuliert: Der Ärger russischer Blogger über Donald Trump, der nach Meinung einiger Hitzköpfe quasi digital hingerichtet wurde, ist nur ein Deckmantel für den Ärger über ihre eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit.
Wenn aber „der Westen“ in den Debatten über die Grenzen der Zensur eine Unterstützung für Trump sieht, dann exportiert er den Kampf zwischen Republikanern und Demokraten aus Amerika und überträgt ihn auf die innenpolitischen Probleme Russlands und nimmt der russischen Opposition ihren Status als Handelnden. Dadurch würden die westlichen Medien – so eine extreme, fast schon anekdotenhafte Interpretation eines amerikanischen Kommentators – Nawalnyj wegen seiner Hautfarbe unkritisch wahrnehmen.
Wir haben uns daran gewöhnt, das Internet als Raum der Freiheit aufzufassen, dabei ist es doch nicht nur vom amerikanischen militärisch-industriellen Komplex geschaffen worden, sondern hat dank der US-Technologiekonzerne seine gewohnte Gestalt bewahrt. Ein großer Teil der uns zugänglichen englischsprachigen Inhalte ist amerikanisch. Und amerikanische Unternehmen mögen aus Bürgerpflicht auf die amerikanische Innenpolitik so viel Einfluss nehmen wie sie wollen, doch für die übrige Welt können ihren Entscheidungen eine völlig andere Bedeutung bekommen. Und diese will eben von der übrigen Welt manchmal diskutiert werden.
Das Video von Nawalnys Recherche zu Putins Palast hat bei YouTube Ende Januar die Grenze von 100 Millionen Zugriffen überschritten. Ein phänomenales Ergebnis. Falls jedoch der Zugang zu diesem Film aus irgendeinem Grund gesperrt werden sollte, dann trüge dafür nicht nur die russische Zensur die Verantwortung, sondern auch dieser Videohosting-Dienst, der Google gehört. Das Problem der russischen Opposition, ja jeder Opposition gegen autoritäre Regime, welche die Medien unter Kontrolle halten, besteht darin, dass sie keine andere Wahl hat, als Informationsinstrumente zu verwenden, die ihr nicht gehören und deren Vorgehen sie nicht beeinflussen kann.
Dieser Artikel ist im Rahmen des Projekts „Deutsch-Russische Gespräche zur digitalen Zivilgesellschaft“ erschienen. Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder.
Verwandte Themen
Newsletter
Tragen Sie sich in unseren Russland-Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden. Mit unseren Datenschutzbestimmungen erklären Sie sich einverstanden.