Nawalny-Täter: FSB-Geheimdienstmitarbeiter
Die Recherchen eines internationalen Teams legen erdrückende Indizien vor, wer hinter dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen verantwortlich ist: Es sollen acht russische Geheimdienst-Offiziere sein. Der Kreml wiegelt wie gewohnt ab. Alles ein Trick, die CIA stecke dahinter, sagt Präsident Putin.
Ich weiß, wer mich umbringen wollte. Ich weiß, wo sie wohnen. Ich weiß, wo sie arbeiten. Ich kenne ihre Namen. Ich kenne ihre Decknamen. Ich habe Fotos von ihnen.“ Alexej Nawalny spricht forsch. Es ist die gewohnte Tonlage des russischen Oppositionellen, der sich nach einem Anschlag mit dem – nach Erkenntnissen europäischer Experten – international geächteten und eigentlich verbotenen Nervengift Nowitschok seit Wochen in Deutschland zur Reha befindet. Und es ist ein „krasser Krimi“, wie der 44-Jährige in seinem neuesten YouTube-Video erklärt, was sich in seinem Leben in den vergangenen mindestens drei Jahren abgespielt habe – bis zum Versuch, ihn aus diesem Leben zu räumen.
Für Nawalny ist der „Fall“ nun geklärt. Zusammen mit dem Recherchenetzwerk Bellingcat um den britischen Netzaktivisten Eliot Higgins, dem russischen Internetportal The Insider sowie dem Spiegel und CNN hat sein Team ein „Killerkommando“ in den Reihen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB ausgemacht, der für die ungeheuerliche Tat verantwortlich sein soll. Samt dem Auftraggeber dahinter: den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die Recherche liefert keine Beweise, allerdings legt sie zahlreiche erdrückende Indizien vor, was am 20. August in der sibirischen Stadt Tomsk und bereits davor passiert sein könnte.
Skripal als „Vorläufer“
Nawalny, der talentierte und oft selbstironische Erzähler, spricht von den Erkenntnissen als Aufklärer und Opfer zugleich. Er beherrscht das Storytelling und unterlegt das Gesagte mit Infografiken und Filmzitaten. Sein Video hat bereits jetzt mehr als 15 Millionen Aufrufe. Bellingcat erzählt die Geschichte viel nüchterner, ist an technischen Details interessiert. Der Inhalt der akribisch betriebenen Rekonstruktion bleibt derselbe und zeigt zweierlei. Zum einen sollte Nawalny nach seiner Ankündigung im Jahr 2016, er wolle 2018 als Präsident kandidieren, von der politischen Bühne verschwinden. Dafür sollte ihn ein Team aus FSB-Mitarbeitern mit medizinischem und chemisch-technischem Hintergrund eng begleiten und womöglich vergiften. Zum anderen richtet die Recherche den Blick auf Forschungsinstitute innerhalb des FSB, die offenbar auf die Entwicklung chemischer Kampfstoffe spezialisiert sind. Seit dem Beitritt Russlands zur Chemiewaffenkonvention im Jahr 1997 gelten Neuentwicklungen von Chemiewaffen offiziell als eingestellt. Doch als im britischen Salisbury der russisch-britische Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter Julia 2018 wohl ebenfalls mit Nowitschok vergiftet worden waren, hatten die Enthüllungen, auch diese von Bellingcat und The Insider, bereits darauf hingewiesen und die Verantwortlichen im Kreml gesehen. Auch im Fall Nawalny schreiben die Rechercheure den Anschlag dem russischen Staat zu. Wer sonst käme an solche Mittel?
Das Vorgehen
Mittels Telefondaten, Passagierlisten, Melderegistern und GPS-Daten rekonstruierte das Rechercheteam das Geschehen. Das Material kauften sie auf dem Schwarzmarkt, was in Russland – anders als im Westen – nicht besonders schwer ist. Allein dies zeige bereits, so Nawalny, wie korrupt Russlands Beamte seien. Die Journalisten und Netzaktivisten verfolgten Reiserouten und Telefonverbindungen, verglichen diese mit etlichen Datenbanken und kamen dadurch auf mindestens acht FSB-Offiziere, die Nawalny, in unterschiedlichen Formationen auf seinen Reisen folgten.
Das „Killerkommando“
Wladimir Panjajew, ein Sanitäter, 1980 geboren, offenbar seit 2009 beim FSB, an dessen Zentraladresse an der Moskauer Lubjanka er gemeldet ist. Davor war er an derselben Adresse wie Nawalny registriert.
Alexej Alexandrow, Deckname Alexej Frolow, Notarzt, geboren 1981, seit 2013 beim FSB und spielt offenbar die Schlüsselrolle bei der Operation Nawalny in Sibirien.
Iwan Ossipow, Deckname Iwan Spiridonow, Arzt, geboren 1976, seit 2012 in keinen sozialen Netzwerken aufzufinden. Das Rechercheteam geht davon aus, dass er zu diesem Zeitpunkt dem FSB beigetreten ist.
Diese Drei sollen eine wichtige Rolle bei der Vergiftung Nawalnys gespielt haben. Sie waren – wie auch der Politiker – im August, teils im selben Flugzeug, nach Nowosibirsk und Tomsk gereist.
Konstantin Kudrjawzew, Deckname Konstantin Sokolow, Chemiewaffenspezialist, geboren 1979. Er diente in der Militäreinheit in Schichany, einer zu Sowjetzeiten geschlossenen Stadt, in der in den 1970ern das Nervengift Nowitschok entwickelt worden war.
Oleg Tajakin, Deckname Oleg Tarassow, Arzt, geboren 1980, arbeitet am Institut für Kriminalistik des FSB und gilt offenbar als Koordinator des Giftanschlags. Das Institut wurde 1977 vom FSB-Vorgänger, dem sowjetischen KGB, gegründet und gilt als das beste forensische Labor des Landes. Überläufer in den Westen brachten zu Sowjetzeiten das Institut mit Morden an westlichen Diplomaten und Exil-Oppositionellen in Verbindung.
Alexej Kriwoschtschokow, geboren 1979, arbeitete vor seiner Tätigkeit für den FSB beim russischen Verteidigungsministerium.
Michail Schwez, Deckname Michail Stepanow, geboren 1977, gemeldet an der Adresse für das „Zentrum für Spezialoperationen des FSB“.
Stanislaw Makschakow, von Nawalny Oberst genannt, 1966 geboren. Der Militärwissenschaftler soll früher ebenfalls in einem Labor in Schichany gearbeitet haben. Heute ist er offenbar am „Zentrum für Spezialtechnik des FSB“ angestellt. Er gilt als Kopf des Kommandos.
Involviert waren offenbar auch Kirill Wassiljew, der Chef des Instituts für Kriminalistik des FSB, und der FSB-General Wladimir Bogdanow, der das Zentrum für Spezialtechnik leitet.
Das Rechercheteam dokumentiert eine intensive Kommunikation mit verschiedenen FSB-Instituten und eine ebenso intensive Reisetätigkeiten mancher FSB-Offiziere, die sich mit den Reisen Nawalnys decken. Die Zufälle sind so frappant, dass es kaum mehr Zufälle sein können.
Der Marginale
Nawalny verweist erstmals auch auf zwei Vorfälle, die er mit früheren Versuchen, ihn und auch seine Frau Julia zu vergiften, verknüpft. Vermutlich war auch damals, im Gebiet Kaliningrad im Juli 2020 und auf einem Flug Nawalnys 2019 etwas schiefgelaufen. Auch damals sollen einige der besagten FSB-Offiziere vor Ort gewesen sein. Auch Telefonverbindungen deuten darauf hin, dass es ständigen Kontakt zwischen den Mitgliedern des Spezialkommandos gegeben haben muss. Bellingcat dokumentiert 37 Reisen Nawalnys und parallel dazu teils mehrerer Geheimdienstler aus dieser Gruppe.
Offiziell gilt Nawalny, der wie kaum ein anderer Oppositioneller Anhänger im ganzen Land mobilisiert und durch sein Netzwerk an enthusiastischen Mitarbeitern in der Provinz mittlerweile auch die lokale Politik aufmischt, als unbedeutender Blogger und Aufwiegler, der in der Marginalität versinkt. Politisch darf der Jurist wegen seiner Vorstrafen – nach politisch motivierten Prozessen – nichts werden. Wie ernst der Kreml Nawalny dennoch nimmt, zeigt der Aufwand, der seit Jahren von staatlichen Stellen samt hochspezialisierten Labors betrieben wird, um dem Oppositionellen auf Schritt und Tritt zu folgen. Die Beschattung durch den FSB hat bei seiner jährlichen Pressekonferenz schließlich auch Putin zugegeben. Mit einer bizarren Erklärung: Diese gelte zu Nawalnys Schutz, da CIA-Agenten Nawalny beschatteten, weil dieser ohnehin den Diensten fremder Mächte andiene. Der FSB könne gar nicht erst hinter seiner Vergiftung stecken. Wie auch? „Wenn wir gewollt hätten, dann hätten wir es auch zu Ende gebracht“, so die abwiegelnde Antwort des Präsidenten. Und überhaupt: Die Recherche sei keine Recherche von Journalisten, sondern einfach ein Leak westlicher Geheimdienste. Ermittlungen, wie und warum ein russischer Bürger auf russischem Gebiet vergiftet werden konnte, schließt der russische Staat bislang aus. Es dürfte dabei bleiben.
Verwandte Themen
Newsletter
Tragen Sie sich in unseren Russland-Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden. Mit unseren Datenschutzbestimmungen erklären Sie sich einverstanden.