Wenn die Ver­gan­gen­heit kein Vorwort ist

Bild: Chris Friel, http://www.cfriel.com

Wenn wir ver­ste­hen wollen, wohin sich Russ­land bewegt, müssen wir uns fragen, warum wir mit unseren frü­he­ren Vor­aus­sa­gen immer wieder falsch lagen.

Die Coro­na­krise hat genug Chaos, Leid und Schwie­rig­kei­ten gebracht, sie bietet uns aber auch etwas Wert­vol­les, nämlich die goldene Gele­gen­heit nach­zu­den­ken. Das Drama, welches sich vor unseren Augen ent­fal­tet, sollte uns Anlass sein, die beque­men Kli­schees, die aus intel­lek­tu­el­ler Unbe­weg­lich­keit und Selbst­ge­fäl­lig­keit ent­stan­den sind, in Frage zu stellen. Unsere Wahr­neh­mung von Russ­land ist einer der Berei­che, die einen fri­schen Blick benötigen. 

Porträt von Lilija Schewzowa

Lilija Schew­zowa ist eine rus­si­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin und Richard Weiz­sä­cker Fellow bei der Robert Bosch Academy.

Russ­lands Anpassungsspiel

Das Schick­sal einer Zivi­li­sa­tion wird – folgt man Arnold Toyn­bees Challange and Response-Hypo­these – dadurch bestimmt, wie sie auf aktu­elle Her­aus­for­de­run­gen reagiert: Ent­we­der orga­ni­siert sie sich neu und erfährt neue Energie, oder sie ver­küm­mert. Man kann fest­stel­len, dass das sowje­ti­sche System per­so­na­li­sier­ter Macht an der Bewäl­ti­gung neuer Her­aus­for­de­run­gen schei­terte, was dann zu seiner Auf­lö­sung führte. Das sowje­ti­sche System hatte in der Tat Schwie­rig­kei­ten, sich an neue Rea­li­tä­ten anzu­pas­sen, aller­dings hätte es noch jahr­zehn­te­lang dahin­hum­peln können, und wir hätten dieses Kon­strukt auch jetzt noch beob­ach­ten und kom­men­tie­ren können, wenn es nicht Gor­bat­schows Wunsch nach Erneue­rung gegeben hätte. Das System erwies sich offen­sicht­lich als nicht refor­mier­bar. Folg­lich hätte jeder Versuch die Fenster zu öffnen, seinen Zusam­men­bruch provoziert.

Die Auf­lö­sung der Sowjet­union 1991 mar­kierte das Ende einer glo­ba­len Mission der rus­si­schen Zivi­li­sa­tion. Deren Exis­tenz war in der Sowjet­zeit ledig­lich über ihr Ver­falls­da­tum hinaus ver­län­gert worden, durch die bol­sche­wis­ti­sche, mar­xis­ti­sche Inver­sion. Der Zusam­men­bruch des Sowjet­re­gimes war ein betö­ren­des Ereig­nis; es schuf falsche Hoff­nun­gen, Illu­sio­nen und Fehl­wahr­neh­mun­gen, die sich nicht in den bekann­ten Kon­zep­ten der Trans­for­ma­ti­on­for­schung unter­brin­gen ließen. Diese nukleare Welt­macht, immer­hin einer der Archi­tek­ten der inter­na­tio­na­len Ordnung, ist – als wollte sie Toyn­bees Vor­aus­sage erfül­len, der zufolge „selbst­mör­de­ri­sche Staats­kunst“ den Schluss­punkt für Zivi­li­sa­tio­nen bedeu­tet, die nicht bereit sind sich neu zu erfin­den – zu Frie­dens­zei­ten und ohne größere innere oder äußere Bedro­hun­gen kollabiert.

Nun ist die post­so­wje­ti­sche Version des rus­si­schen Systems uner­war­tet der Asche ent­stie­gen und stellt Toyn­bess Theorie auf die Probe. Bis jetzt haben die Her­aus­for­de­run­gen, denen dieses System die ver­gan­ge­nen Jahr­zehnte gegen­über­stand, weder Impulse zur Trans­for­ma­tion gelie­fert, noch es ver­nich­tet. Das post­so­wje­ti­sche System hat eine phä­no­me­nale Fähig­keit bewie­sen, sich neu zu erfin­den, indem der Sowjet­staat fallen gelas­sen und seine Rolle als Alter­na­tive zum Westen ver­wor­fen wurde.

Das rus­si­sche System hat sich in Wirk­lich­keit besser an die Rea­li­tä­ten nach dem Kalten Krieg ange­passt als die libe­rale Zivi­li­sa­tion. Es war die Exis­tenz der Sowjet­union, die zur Mobi­li­sie­rung des Westens, zur Stär­kung seiner libe­ra­len Iden­ti­tät und seinem glo­ba­len Aus­grei­fen geführt hatte, um den ideo­lo­gi­schen Wider­sa­cher in Schach zu halten. Nachdem die Sowjet­union die Bühne ver­las­sen hatte, hat es keine Her­aus­for­de­rung gegeben, die einen derart macht­vol­len Anreiz zu Refor­men geschaf­fen hätte, wie jene durch die UdSSR, selbst die Bedro­hung durch den Ter­ro­ris­mus nicht. Das Fehlen eines ernst­haf­ten Her­aus­for­de­rers erlaubte es der Füh­rungs­macht des Westens, den Ver­ei­nig­ten Staaten, in eine Rück­zugs­po­li­tik abzu­glei­ten. Zurück blieb ein geo­po­li­ti­sches Vakuum.

Gleich­zei­tig führte das System in Russ­land jene, die glaub­ten, es habe die Phase eines finalen Komas erreicht, in die Irre, indem es durch Imi­ta­tion, mit Fakes, mit alten und ein paar neuen Tricks eine neue „Über­le­bens­ma­schine“ schuf. Dieses Kon­strukt erweckt zwar mit­un­ter den Ein­druck eines chao­tis­schen „Zombie“-Staats, hat sich aber als recht wider­stands­fä­hig erwie­sen. Und es zwingt uns, einige Vor­stel­lun­gen über poli­ti­schen Nie­der­gang und Zerfall einer Zivi­li­sa­tion zu überdenken.

Es ist schon frap­pie­rend, wie dieses System, das der libe­ra­len Demo­kra­tie weiter feind­lich gegen­über­steht, nichts­des­to­trotz west­li­che finan­zi­elle und tech­no­lo­gi­sche Poten­ziale nutzte, um sich auf­zu­rich­ten. Ande­rer­seits ist dies seit Peter dem Großen über Jahr­hun­derte hinweg rus­si­sche Praxis gewesen. Die ver­stö­rendste Episode war der west­li­che Beitrag zum Aufbau der Wirt­schaft und des Mili­tärs der UdSSR in den 1930er Jahren.

Heute enthält die rus­si­sche Taktik des „sowohl mit dem wie auch gegen den Westen“ eine his­to­ri­sche Neue­rung, nämlich die per­sön­li­che Inte­gra­tion der rus­si­schen Elite in den Westen. Ist das nicht irr­wit­zig? Einer­seits soll diese Taktik libe­rale Zivi­li­sa­tion auf Abstand halten, ande­rer­seits nutzt sie west­li­che Res­sour­cen und dringt in die Gesell­schaf­ten des Westens ein um diese von innen zu untergraben.

Aller­dings hat die Fra­gi­li­tät des rus­si­schen System in den letzten Jahren zuge­nom­men, weil es in selbst­ge­baute Fallen tappt. Die stärkste Bedro­hung besteht darin, dass die jüngs­ten Maß­nah­men zur Repro­duk­tion des Systems jetzt eine seiner zen­tra­len Säulen ero­die­ren lassen: die per­so­na­li­sierte Macht. Das System kann sich nicht, wie noch das kom­mu­nis­ti­sche Regime, auf ideo­lo­gi­sche Mittel oder mas­sen­hafte Repres­sio­nen stützen. Das post­so­wje­ti­sche System hat sich durch Wahlen mit garan­tier­ten Ergeb­nis­sen legi­ti­miert. Mit der Zeit jedoch haben die mani­pu­lier­ten Wahlen die Sta­bi­li­tät des Systems unter­gra­ben. Die Bemü­hun­gen des Kreml, eine „ewige“ Prä­si­dent­schaft Putins zu recht­fer­ti­gen, gepaart mit Putins Geset­zes­in­itia­tive, die Volks­ab­stim­mun­gen und Wahlen auch per Post oder Inter­net möglich macht, haben das Prinzip der elek­to­ra­len Legi­ti­mie­rung auf den Müll wandern lassen. Allein, es fehlt jetzt ein Ersatz hierfür.

Unter dieser Last bekommt das Rück­grat des per­so­na­lis­ti­schen Systems – Russ­land Rolle als Groß­macht – jetzt Risse. Schwin­dende Res­sour­cen und der Wider­stand exter­ner Mächte, die nicht gewillt sind, Russ­lands Ein­fluss­be­rei­che anzu­er­ken­nen, haben der Groß­macht­mis­sion Russ­lands Grenzen auf­ge­zeigt. Noch wich­ti­ger ist hier, dass die Bevöl­ke­rungs­mehr­heit in Russ­land begon­nen hat, Russ­lands Rolle als Groß­macht eher mit wirt­schaft­li­chem Wohl­stand zu ver­bin­den, denn mit mili­tä­ri­scher Stärke.

Es gibt eine weitere Falle: Einer­seits muss Russ­land – das nahezu ange­bo­ren anti­mo­dern ist – die finan­zi­el­len und tech­no­lo­gi­schen Res­sour­cen des Westens in Anspruch nehmen und die Rolle eines Ener­gie­lie­fe­ran­ten spielen. Ande­rer­seits bezeich­net Russ­land den „kol­lek­ti­ven Westen“ als Feind und ver­sucht ihn zurück­zu­drän­gen. Die Krise um die Ukraine hat es für den Kreml schwer gemacht, diese sich wider­spre­chen­den Pfade auszubalancieren.

Die sys­tem­tra­gen­den Pfeiler dieser rus­si­schen Kon­struk­tion per­so­na­li­sier­ter Macht sind spröde und haben zu Dys­funk­tio­nen geführt. Auf jeden Fall sollte jeder, der hofft, das System werde rasch zugrun­de­ge­hen, sich auf Ent­täu­schun­gen ein­stel­len. Es gibt nämlich keine erkenn­ba­ren Anzei­chen, dass das System das Selbst­be­gräb­nis der Sowjet­union wie­der­holt. Wahr­schein­li­cher ist ein anderes Sze­na­rio: Ein langes und schmerz­haf­tes Ver­rot­ten, das der Gesell­schaft die Energie für eine Revolte nimmt.

Dies bedeu­tet nicht, dass Russ­land einen Zerfall des Regimes oder gar des Systems ver­mei­den kann. Wir können nur ver­mu­ten, welche Folgen diese Unter­strö­mun­gen, die bereits jetzt all­mäh­lich die Ober­flä­che errei­chen, letzt­lich haben werden. Die Krise könnte welt­weit Wellen schla­gen, und zwar so, dass selbst Russ­land Wider­sa­cher dies ver­mei­den wollen. Ganz so, wie die Führer des Westens den Zusam­men­bruch des Sowjet­union zu ver­hin­dern versuchten.

Aller­dings gibt es einen exter­nen Faktor, der das System auf beson­dere Weise stützt, nämlich der poli­ti­sche Zerfall der Demo­kra­tie und die Krise des eurpäi­schen nor­ma­ti­ven Pro­jekts (der EU). Das Fehlen einer robus­ten Alter­na­tive ist für das rus­si­sche System wie eine Ladung Adre­na­lin, die dabei hilft, mit der eigenen Ver­küm­me­rung zurechtzukommen.

 

Aus frü­he­ren Trug­schlüs­sen lernen

Die Coro­na­krise zwingt uns zu einem Pro­gno­sen­spiel. Zukunfts­sze­na­rien zu ent­wi­ckeln ist die natür­li­che Lieb­lings­be­schäf­ti­gung jener, die – zumin­dest vir­tu­ell – der Iso­lie­rung und Unge­wiss­heit des Moments ent­flie­hen wollen. Wenn wir uns aber frü­he­rer Trug­schlüsse bewusst werden, mit denen wir auf her­kömm­li­che Weise die Ver­gan­gen­heit und die Gegen­wart betrach­tet haben, könnten unsere Pro­gno­sen sogar rea­lis­tisch sein.

Ich habe in einem frü­he­ren Essay für The Ame­ri­can Inte­rest einige der Kli­schees über Russ­land dis­ku­tiert, die über den Haufen gewor­fen werden müssen. Es ist frap­pie­rend, mit welch sturer Erge­ben­heit mache an diese Mythen glauben! Etwa die all­ge­gen­wär­tige Puti­niana, also die Ver­su­che, Russ­land mit Putin gleich­zu­set­zen, Putins Hirn zu durch­drin­gen und seine heim­lichs­ten Gedan­ken zu erfah­ren… Wie soll uns das wei­ter­hel­fen, die Politik des Kreml oder gesell­schaft­li­che Stim­mun­gen in Russ­land zu ver­ste­hen? Erstens haben wir keinen Zugang zu Quellen, die uns einen Schlüs­sel zu Putins inners­ten Gedan­ken erlaub­ten. Und zwei­tens hat sich Putins Führung bereits zu einer Art impo­ten­ter Omni­po­tenz gewan­delt, und zwar in einem Maße, dass wir jetzt nach anderen Fak­to­ren als nach Putin suchen müssen, um Russ­lands Puls zu fühlen. Wir müssen wohl ver­mu­ten, dass die Kon­zen­tra­tion auf Putin eine man­gelnde Exper­tise über Russ­land ver­deckt, oder dass Ana­ly­sen dieser Art das popu­läre Bedürf­nis nach Tratsch über Putin bedie­nen sollen.

Russ­land wird als ein auto­ri­tä­rer Staat wahr­ge­nom­men, der sich in Rich­tung einer stren­ge­ren Herr­schaft und einer Dik­ta­tur bewegt. Die Reak­tio­nen des Kreml auf die Pan­de­mie haben jedoch gezeigt, dass die Ein­per­so­nen­herr­schaft nicht in der Lage ist, auto­ri­täre Mittel wirksam ein­zu­set­zen. Ver­su­che, auf tra­di­tio­nelle Weise auf neue Her­aus­for­de­run­gen zu reagie­ren, bringen eine Dys­funk­tion des Systems mit sich. Die poten­zi­el­len Aus­wir­kun­gen des auto­ri­tä­ren Zer­falls müssen unter­sucht werden.

Ein wei­te­res Axiom: „Russ­lands Status als Groß­macht ist der Kern rus­si­scher Iden­ti­tät“. In der Tat wäre es unge­wöhn­lich, wenn Russen ihr Land als nor­ma­len Staat betrach­ten würden. Aller­dings müssen wir berück­sich­ti­gen, wie sich die Hal­tun­gen der Russen zu dem ent­wi­ckeln, was eine „Groß­macht“ aus­macht. Auch verfügt Russ­land wegen seiner begrenz­ten Res­sour­cen nicht über die Kapa­zi­tä­ten, seine Satel­li­ten­staa­ten ewig im gewünsch­ten Orbit zu halten, selbst wenn es ver­su­chen würde, deren Unter­ord­nung zu erkau­fen. Russ­land hat Jahr für Jahr über 100 Mil­lio­nen Dollar für die Loy­li­tät von Belarus aus­ge­ge­ben, die anschei­nend immer noch nur bedingt ist.

Manch­mal erfährt dieses Kon­strukt Hilfe von außen. Während Russ­land nach Wegen sucht, sein Großmacht-„Rückgrat“ zu recht­fer­ti­gen, haben pro­mi­nente US-ame­ri­ka­ni­sche Exper­ten damit begon­nen, die Rück­kehr zum Format eines Kon­zerts der Groß­mächte mit ihren Ein­fluss­sphä­ren anzu­re­gen, mit dem sich globale Sta­bi­li­tät her­stel­len ließe. Eine solche Initia­tive könnte bedeu­ten, dass eher externe als interne Impulse dem Kreml helfen, seine Groß­machts­idee (zumin­dest vor­über­ge­hend) mit Leben zu füllen.

Gleich­zei­tig sucht die die rus­si­sche Elite, die tech­no­lo­gisch clever ist, jetzt nach anderen Inter­pre­ta­tio­nen der Groß­macht­rolle. Dar­un­ter ist das Ver­lan­gen, dass andere Russ­lands Recht aner­ken­nen, globale Regeln und inter­na­tio­nale Normen zu inter­pre­tie­ren. Dieser Kurs erscheint sehr viel kos­ten­spa­ren­der, als sich die Loya­li­tät von Satel­li­ten zu kaufen. Der Westen ist um eine Antwort verlegen.

Eine weitere Über­le­gung wäre, Russ­land als Garant von Frieden und Sou­ve­rä­ni­tät vor­zu­schla­gen, und als Kämpfer gegen „Hege­mo­nie“. Was für eine iro­ni­sche Wendung für einen Staat, der sich sich in die Spiel­chen in der Ukraine und in Syrien ver­strickt hat, wie auch in andere Ver­su­che, Nach­bar­staa­ten unter dem Daumen zu halten. Auf jeden Fall sind neue Inter­pre­te­tio­nen der Groß­macht­rolle Russ­lands zu erwarten!

Russ­land sehnt sich nach der Kon­fron­ta­tion mit dem Westen, meinen die Exper­ten. In Wirk­lich­keit aber wollen zwei Drittel der Russen eine Part­ner­schaft mit dem Westen. Das bedeu­tet, dass die Bevöl­ke­rung es müde ist, in einem Kriegs-Para­digma zu leben. Auch ein großer Teil der Elite ist nicht zu einer Kon­fron­ta­tion bereit. Es stimmt, dass der Kreml seine Kriegs­rhe­to­rik und eska­la­ti­ven Erpres­sun­gen fort­setzt, weil er keine anderen Mittel zur Kon­so­li­die­rung zur Ver­fü­gung hat. Aller­dings ist das eine Politik des Bellens, und nicht des Beißens, eine des jovia­len Zwin­kerns und Rip­pen­sto­ßens, die härtere Ant­wor­ten seiner Wider­sa­cher abwen­den soll.

Das rus­si­sche System braucht Mili­ta­ri­sie­rung, um die Bevöl­ke­rung zu mobi­li­sie­ren. Das haben viele von uns bis vor kurzem noch gedacht. In der Tat ist Mili­ta­ris­mus nicht nur zu einem natio­na­len Hand­werk gewor­den (wie einst in Preußen), sondern zu einer Lebens­weise: Frie­dens­zei­ten sind ledig­lich eine Ruhe­phase, um sich auf den nächs­ten Krieg vor­zu­be­rei­ten. In moder­ner Zeit hat es außer Russ­land (und Nord­ko­rea) kein Land gegeben, das sich als „Kaser­nen­staat“ orga­ni­siert hätte, der die Men­schen und deren Alltag streng dem Sou­ve­rän, dem Ober­kom­mena­die­ren­den unterwirft.

Das Ver­hal­ten des Kreml während der Corona-Pan­de­mie demons­triert aller­dings, dass die herr­schende Klasse nicht weiß, wie sie mili­ta­ris­ti­sche Mecha­nis­men ein­set­zen soll, um mit der aktu­el­len Her­aus­for­de­rung fertig zu werden. Russ­land ist in eine Situa­tion geraten, in der es sich vom Mili­ta­ris­mus (der Teil seines Gen­codes ist) nicht lösen, ihn aber auch nicht weiter ver­stär­ken kann, ohne sein öko­no­mi­sches Über­le­ben zu gefährden.

Es gibt ein wei­te­res popu­lä­res Nar­ra­tiv, nämlich über den Triumph der Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gne Russ­lands und seiner Ein­mi­schungs­ver­su­che im Westen, um diesen dadurch zu schwä­chen. Gewiss fördert der Kreml im Ausland tätige Pro­pa­ganda-Agen­tu­ren (wie auch Troll-Armeen) und ver­sucht eine Ein­mi­schung, wo immer es geht. Doch haben diese Bemü­hun­gen wirk­lich etwas erreicht? War es denn die „Desinformations“-Kampagne und die Ein­mi­schung des Kreml, die zur Krise der libe­ra­len Demo­kra­tie geführt hat? Wann und wie genau haben die Anstren­gun­gen des Kreml west­li­che Politik beein­flusst? Wenn die Ein­mi­schung Russ­lands erfolg­reich gewesen sein soll, warum hat Moskau den Westen dann nicht dazu bringen können, die Sank­tio­nen auf­zu­he­ben? Wenn es begrenzte oder nur ört­li­che Berei­che gab, in denen die Des­in­for­ma­tion erfolg­reich war, dann lässt sich dies leicht durch west­li­che Nai­vi­tät und Igno­ranz erklä­ren, und nicht durch Schläue und Geris­sen­heit des Kreml.

In Wirk­lich­keit hat die rus­si­sche Ein­mi­schung das Miss­trauen des Westens gegen­über Russ­land nur ver­stärkt. In 16 von 33 Ländern, die vom Pew Rese­arch Center unter­sucht wurden, sieht eine Mehr­heit Russ­land negativ. Welt­weit sagen nur wenige, dass sie Putin ver­trauen. In 22 der unter­such­ten 33 Länder gab es mehr Men­schen, die Putin nicht trauen, als jene, die ihm trauen. In diesen Ländern sagen im Schnitt 60 Prozent der Befrag­ten, sie hätten kein Ver­trauen in Putin, wenn es um Welt­po­li­tik geht.

Auch ein anderes Kli­schee – die Behaup­tun­gen von geo­po­li­ti­schen Erfol­gen des Kreml – ist für west­li­che Medien ein belieb­tes Thema. Dabei ist es doch so, dass sich Russ­lands tak­ti­sche Erfolge zu stra­te­gi­schen Desas­tern wandeln. Russ­land hat zwar die Sta­bi­li­tät der Ukraine und deren pro­west­li­chen Kurs unte­gra­ben, aber auch die Nation der Ukraine ver­lo­ren. Russ­lands Spiel in Syrien half zwar, Assad zu retten und sorgte für eine Rück­kehr Russ­lands in den Nahen und Mitt­le­ren Osten. Doch seine Rolle dort bei­zu­be­hal­ten, ist eine schwie­rige Ange­le­gen­heit, da die Bevöl­ke­rung in Russ­land dies nicht unter­stützt. Ebenso hat Russ­land Vene­zuela dazu benutzt, Öl zu bekom­men und Washing­ton zu ärgern, ver­sucht jetzt aber, aus der Situa­tion wieder her­aus­zu­kom­men und die USA davon abzu­hal­ten, gegen Rosneft Sank­tio­nen zu ver­hän­gen, weil es Deals mit dem Maduro-Regime ein­ge­gan­gen ist. Russ­lands Enga­ge­ment in der chao­ti­schen Lage in Libyen, wird kei­ner­lei Divi­dende bringen. Russ­lands Galaxie euro­päi­scher Satel­li­ten ist eben­falls in Bewe­gung, und Belarus ist keck genug, die Pläne des Kreml zur Inte­gra­tion mit Russ­land abzu­leh­nen. Russ­land hat Alb­träume, anstelle einer Allianz auf Augen­höhe Chinas Juni­or­part­ner zu werden. Schließ­lich wäre da noch die schmach­volle Nider­lage des Kreml in seinem „Ölpreis­krieg“ mit Saudi-Arabien, eine Warnung, dass Russ­lands Rolle als Energie-Welt­macht schwin­det. Auf die Welt­bühne als Spiel­ver­der­ber zurück­zu­keh­ren, dürfte Russ­land kaum den Respekt und das Ver­trauen anderer ein­brin­gen, nach dem es sich sehnt.

Die Exper­ten werden ihre alten Nar­ra­tive über die rus­sisch-chi­ne­si­sche Ehe über­den­ken müssen. Wach­sen­des Miss­trauen gegen­über China und der „kalte Krieg“ der USA mit Peking haben den Kreml zum Nach­den­ken gezwun­gen, ob er zu einer wei­te­ren freund­li­chen Umar­mung Chinas bereit ist. Das bedeu­tet nicht, dass der Kreml sich zusam­men mit den Ver­ei­nig­ten Staaten dem Drachen ent­ge­gen­stel­len wird, doch wird eine rus­si­sche Elite, die inten­siv ihr Ver­hält­nis zum Westen nor­ma­li­sie­ren will, einen Weg finden müssen, Russ­land nicht zum Juni­or­part­ner Chinas werden zu lassen.

Und nicht zuletzt haben rus­si­sche wie west­li­che Exper­ten Russ­land und die rus­si­sche Außen­po­li­tik durch das Prisma der Bezie­hun­gen zu den Ver­ei­nig­ten Staaten betrach­tet. Dieser Ansatz steht für eine weitere Fan­ta­sie. Es stimmt, dass die USA für Russ­land einen idealen Feind abgeben, gegen den sich Hass schüren lässt. Und sie sind ein idealer Wider­sa­cher bei geo­po­li­ti­schen Spielen. Haben aber die USA – lässt man jedoch all den angeb­li­chen Groll bei­seite – jemals in der Ver­gan­gen­heit oder der Gegen­wart Russ­lands eine beträcht­li­che Rolle gespielt? Sind sie für Russ­land ein ernst­zu­neh­men­der Faktor? Nicht wirk­lich, oder zumin­dest nicht so sehr wie ein anderer Staat: Deutsch­land hat nämlich über Jahr­hun­derte hinweg einen rie­si­gen Ein­fluss auf Russ­land gehabt, auch wenn weder Russen noch Deut­sche das gern zugeben.

Der „deut­sche Faktor“ hat Russ­land an ver­schie­de­nen Punkten seiner Geschichte beein­flusst. Eine der Weg­schei­den der rus­si­schen Geschichte ist das „Gas-für Röhren“-Abkommen zwi­schen der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und der Sowjet­union. Dieses „Jahr­hun­dert­ab­kom­men“ wurde 1970 abge­schlos­sen und hat Russ­lands Schick­sal auf Jah­zehnte hinaus besie­gelt, indem es der Sowjet­union ermög­lichte, sich zu einer Ener­gie­macht zu wandeln. Gleich­zei­tig machte es Europa von deren Ener­gie­lie­fe­run­gen abhän­gig. Dadurch wurde das Leben eines dys­funk­tio­na­len Modells ver­län­gert, von dem sich Russ­land immer noch nicht befreien kann. Deutsch­land bleibt der aus­schlag­ge­bende Faktor, der ent­we­der mit solchen Ener­gie­ab­kom­men dem tra­di­tio­nel­len rus­si­schen Modell nützen, oder aber dessen Widerst­ans­fä­hig­keit unter­gra­ben kann.

 

Intel­lek­tu­elle und Libe­rale sind dem System dienlich

Es gibt eine Reihe wei­te­rer popu­lä­rer Wahr­neh­mun­gen, die jetzt zum Kern­be­stand der Mythen­samm­lung über Russ­land gehören. Eine von ihnen ist der Grund für die Schwär­me­rei über dieses Land, nämlich der Mythos über Russ­lands Kultur und die Intel­li­gen­zija, die als Beweis für Russ­lands „euro­päi­schen Cha­rak­ter“ dienen. Die Wahr­heit ist hier heim­tü­ckisch. Aus einer bit­te­ren Ironie heraus hat es das System geschafft, die Kultur und die Intel­li­gen­zija in Russ­lands für seine Inter­es­sen ein­zu­span­nen. Die Intel­li­gen­zija hat sich aus­schließ­lich auf ethi­sche und mora­li­sche Werte kon­zen­triert, aber nie das Thema Rechts­staat­lich­keit unf Trans­for­ma­tion ange­spro­chen. Sie hoffte statt­des­sen, es werde ein gütiger Erlöser kommen, der seinen Unter­ta­nen Glück zuteil werden lässt. Der Umstand, dass die Intel­li­gen­zija exis­tierte, hat das System nicht unter­gra­ben. Im Gegen­teil: Sie ließ das System zivi­li­sier­ter, polier­ter erschei­nen. Das Russ­lands Tol­stois und Dos­to­jew­skis konnte unmög­lich ein raub­tier­haf­ter, archai­scher Staat sein, das war einfach undenkbar!

Die Intel­li­gen­zija (die es eigent­lich seit dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union als soziale Gruppe nicht mehr gibt) hat zwi­schen Regime und Gesell­schaft ver­mit­telt und dabei –absicht­lich oder nicht – die rebel­li­schen Impulse der letz­te­ren gemil­dert und sie zu jener stän­di­gen „Ergrün­dung der Seele“ kana­li­siert, die zur tra­di­tio­nel­len Beschäf­ti­gung der Russen wurde (eine weitere „Mys­ti­fi­zie­rung“ der Russen). Die rus­si­schen Exper­ten Lew Gudkow und Boris Dubin schrei­ben, dass die Intel­li­gen­zija „die Büro­kra­tie [war], die zur Repro­duk­tion der tota­li­tä­ren Gesell­schaft bei­getra­gen hat […] Es war oft ihr Inter­esse, ‚die Extreme‘ in dem Ver­hält­nis zwi­schen Regie­rung und Bevöl­ke­rung zu mildern.“ Was für ein hartes – aber zutref­fen­des – Urteil! Bedeu­er­li­cher­weise haben es die intel­lek­tu­el­len Gruppen heute nicht ver­mocht, Archi­tek­ten einer poli­ti­schen Alter­na­tive für Russ­land zu werden.

Was die rus­si­sche Kultur betrifft, so haben deren „geis­tige“ Weg­wei­ser stets Rich­tung Anti-Moderne gezeigt. Sie hat Indi­vi­dua­lis­mus und das Private unter­drückt und sie tran­szen­den­ten und hehren Zielen unter­ge­ord­net – mögen diese nun Land und Staat, dem Him­mel­reich oder dem Kom­mu­nis­mus dienen – und sich zu einer ent­mo­der­ni­sie­ren­den Kraft gewan­delt, die eine archai­sche Lebens­weise legi­ti­miert. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die rus­si­schen Cha­rak­te­ris­tika, die über Jahr­hun­derte hinweg die Welt ange­zo­gen haben und zu den intel­lek­tu­el­len und künst­le­ri­schen Schät­zen der Mensch­heit zählen, ledig­lich das feine Gewand sind, in das sich einer der des­po­tischs­ten Staaten der Welt hüllt.

Auch die rus­si­schen Libe­ra­len, die von Refor­men reden und sich selbst zu Für­spre­chern des Westens erklä­ren, während sie gleich­zei­tig für den Kreml arbei­ten, sind den Bedürf­nis­sen des Systems dien­lich gewesen. Sie fun­gie­ren gleich­sam als Ärzte, die die zuneh­mend schwie­rige Aufgabe erfül­len, das Leben des Kon­strukts durch makro­öko­no­mi­sche Sta­bi­li­tät und ein zivi­li­sier­tes Image zu ver­län­gern. Diese Funk­tion macht die rus­si­schen „Sys­tem­li­be­ra­len“ in Wirk­lich­keit zu einer anti­li­be­ra­len und anti­eu­ro­päi­schen Kraft (man muss geste­hen, dass die rus­si­schen Libe­ra­len in der Regel „libe­rale Impe­ria­lis­ten“ waren, die die Vor­stel­lung von einem rus­si­schen Natio­nal­staat ableh­nen; sie fürch­ten den rus­si­schen Natio­na­lis­mus mehr als den rus­si­schen Imperialismus).

Auf jeden Fall haben die rus­si­schen Libe­ra­len in einem ent­schei­den­den Moment der Geschichte Russ­lands (nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union) die Trans­for­ma­tion des Landes nicht erleich­tert. Sie ver­kör­per­ten die Hoff­nung des Landes auf Ver­än­de­rung, ver­stan­den dies aber eher als Regime- oder Füh­rungs­wech­sel, denn als eine Ände­rung der Regeln oder der Insti­tu­tio­nen. Das half dem Führer, seine Ein­per­so­nen­herr­schaft zu repro­du­zie­ren (Selbst wenn sie dies unwis­sent­lich taten, so tragen sie doch die Ver­ant­wor­tung für den Ausgang). Russ­land kehrte somit zu einem System per­so­ni­fi­zier­ter Macht zurück, diesmal in markt­freund­li­cher Form. Russ­lands „Sys­tem­li­be­rale“ wurden Teil der herr­schen­den Gruppe, legi­ti­mier­ten die neue Inkar­na­tion des Systems und dis­kre­di­tier­ten somit den Libe­ra­lis­mus in Russland.

Sergei Kiri­jenko, der als Libe­ra­ler galt und später stell­ver­tre­ten­der Leiter der Prä­si­di­al­ad­mi­nis­tra­tion wurde, meinte, dass der alte Libe­ra­lis­mus über­holt sei und der neue Libe­ra­lis­mus den Anfor­de­run­gen der „Gene­ra­tion der Sta­tis­ten Groß­macht­ver­fech­ter“ folgen müsse. Libe­rale haben Putin auf­ge­for­dert, ein „rus­si­scher Pino­chet“ zu werden. Anatoli Tschub­ais ver­kün­dete öffent­lich die Idee von Russ­land als einem „libe­ra­len Imperium“.

Pjotr Awen, einst ein füh­ren­des Mit­glied des Refor­mer-Teams von Jegor Gaidar (und heute ein Olig­arch) hat später ein­ge­räumt: „Die Mission, libe­rale Refor­men umzu­set­zen, ist sowje­ti­schen Intel­lek­tu­el­len über­tra­gen worden, die per­sön­lich kaum  dem Libe­ra­lis­mus nahe standen; sie waren ego­zen­trisch, ohne Respekt für andere Mei­nun­gen […] [D]as mar­kan­teste Merkmal unserer Refor­mer [war eine] ganz beträcht­li­che Über­schät­zung der eigenen Fähig­kei­ten und Mög­lich­kei­ten.“ Ein ver­nich­ten­des Geständ­nis, nicht wahr?

Heute sind die Libe­ra­len in der Regie­rung und jene Libe­ra­len außer­halb, die sich zur Zusam­men­ar­beit mit dem Kreml bereit­erklä­ren, Ele­mente eines Systems, dass seine Feind­schaft gegen­über den zen­tra­len Werten der libe­ra­len Demo­kra­tie demons­triert hat. Die Sys­tem­li­be­ra­len ver­schaf­fen dem System zusätz­lich Luft und imi­tie­ren Ent­wick­lung. Indem sie die per­so­na­lis­ti­sche Herr­schaft sta­bi­li­sie­ren, unter­gra­ben sie libe­rale Prin­zi­pien und führen die libe­rale Wäh­ler­schaft in die Irre. Wenn sie Russ­land davor bewah­ren, in eine tiefe Krise zu rut­schen, sta­bi­li­sie­ren sie damit einen kor­rup­ten Ölstaat. Die bittere Ironie ist, dass sie oft mehr zum Über­le­ben des Systems bei­tra­gen als die Silo­wiki, die für die Zwangs­maß­nah­men zustän­dig sind.

Der Umstand, dass Librale im Wirt­schafts- und Finanz­be­reich in der Regie­rung ver­tre­ten sind, wie auch, dass füh­rende Kreml­ver­tre­ter wei­ter­hin libe­rale Wirt­schafts­pa­ro­len ver­wen­den, ver­hin­dert, dass ein echter Libe­ra­lis­mus in Russ­land Fuß fasst. Die Kreml-Libe­ra­len haben gehol­fen, den rus­si­schen Libe­ra­lis­mus zu begra­ben, wenigs­ten bis jetzt.

Wir sollten darauf vor­be­rei­tet sein, dass inmit­ten der der­zei­ti­gen Corona-Krise neue Trug­schlüsse auf­kom­men können. Um das zu ver­hin­dern, müssen wir ver­ste­hen, wie wir die Ver­gan­gen­heit miss­ver­stan­den haben. Die Zeit für eine Wie­der­gut­ma­chung ist gekom­men. Wir alle müssen uns ein wenig Asche aufs Haupt streuen und zu den Illu­sio­nen stehen, die wir geschaf­fen haben.

Dieser Artikel ist am 8. Juni 2020 bei The Natio­nal Inte­rest erschie­nen. Über­set­zung aus dem Eng­li­schen von Hartmut Schröder

 

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