Putin: Gefan­ge­ner der eigenen Großmachtpolitik

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Der Kreml ist im Ver­hält­nis mit dem Westen inzwi­schen um Scha­dens­be­gren­zung bemüht. Poli­tisch wie wirt­schaft­lich braucht Moskau ein Ende der Sank­ti­ons­po­li­tik, um das Über­le­ben der Auto­kra­tie zu sichern. Der Kriegs­herr Putin ver­sucht sich deshalb als Frie­dens­fürst. Die renom­mierte rus­si­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Lilija Schew­zowa sieht Putin deshalb mit meh­re­ren Dile­mata kon­fron­tiert und warnt den Westen davor, die Bedin­gun­gen des Kremls zu akzeptieren.

Sich befein­den oder sich aus­söh­nen? Unter diesem Motto stand das gesamte ver­gan­gene Jahr die Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Russ­land und dem Westen, aller­dings ohne dass eine end­gül­tige Antwort gefun­den worden wäre. Dabei sind die Bezie­hun­gen zum Westen für das System in Russ­land von exis­ten­zi­el­ler Bedeu­tung: Die Blo­ckade finan­zi­el­ler und tech­no­lo­gi­scher Res­sour­cen, die die libe­rale Demo­kra­tie für Russ­land bereit­hält, stellt das Über­le­ben der Kreml-Auto­kra­tie in Frage. Mehr noch: Die Mar­gi­na­li­sie­rung Russ­lands nach der „Befrei­ung der Krim“ bricht den Groß­macht­sta­tus, der das Rück­grat der natio­na­len Allein­herr­schaft des Regimes Putin bildet. Wenn Russ­land eine Groß­macht bleiben will, muss es zu einem Dialog mit den west­li­chen Part­nern zurückkehren.

Russ­land wie­derum ist erst­mals für die Staaten des Westens zu einem Faktor der Innen­po­li­tik gewor­den, ins­be­son­dere für die USA. Heute hat die Haltung der ver­schie­de­nen poli­ti­schen Kräfte zu Russ­land Ein­fluss auf den Macht­kampf in Washing­ton, und das wird sich ent­spre­chend auf die Außen­po­li­tik der west­li­chen Welt über­tra­gen. Natür­lich möchte der Westen keinen kalten Krieg und noch weniger einen „heißen“; der Westen ist nicht gewillt, Moskau zu iso­lie­ren, weil er befürch­tet, dessen Aggres­si­vi­tät dadurch nur zu ver­stär­ken. Jedoch ist unklar, wie sich dieser unbe­re­chen­bare Akteur zügeln ließe und gleich­zei­tig das Gespräch mit ihm fort­zu­set­zen wäre. Der kürz­lich erschie­nene Artikel des ehe­ma­li­gen Vize­prä­si­den­ten der USA, Joseph Biden, und die Rede eines der füh­ren­den Sozi­al­de­mo­kra­ten Deutsch­lands, Sigmar Gabriel, zeigen zwei west­li­che Ansätze zum Vor­ge­hen gegen­über Russ­land auf. Biden fordert Ver­gel­tung für den rus­si­schen „Angriff auf die ame­ri­ka­ni­sche Demo­kra­tie“. Sein Vorstoß zur Ein­rich­tung einer Unter­su­chungs­kom­mis­sion über die rus­si­sche Ein­mi­schung in innere Ange­le­gen­hei­ten der USA (nach dem Vorbild der Kom­mis­sion, die die Ter­ror­an­schläge vom 11. Sep­tem­ber 2011 unter­suchte) könnte dazu führen, dass Russ­land auf lange Zeit zum Feind Ame­ri­kas wird. Gabriel hin­ge­gen fordert, dass Deutsch­land zu einer „prag­ma­tisch-rea­lis­ti­schen Außen­po­li­tik“ zurück­kehrt – so lautet die Analyse von Ralf Fücks, dem Geschäfts­füh­ren­den Gesell­schaf­ter des Zen­trums Libe­rale Moderne. Gabriel lege einen „Abschied vom Men­schen­rechts­idea­lis­mus“ nahe, so Fücks. Das würde bedeu­ten, dass weniger „Demo­kra­tie und Men­schen­rechte in Zukunft [...] ein Maßstab für die deut­sche und euro­päi­sche Außen­po­li­tik sein sollen“, sondern eher eine Auf­recht­erhal­tung “ ‚guter Bezie­hun­gen‘ zu China, Russ­land, dem Iran“. Die Rede Gabri­els bedeu­tete, so Fücks, dass „Gabriel die Sank­tio­nen abwer­fen und endlich wieder zu part­ner­schaft­li­chen Bezie­hun­gen zum Kreml zurück­keh­ren will“. Falls in Deutsch­land eine Regie­rungs­ko­ali­tion aus Union und SPD zustande kommt, würde es ange­sichts solcher Hal­tun­gen in den Reihen der Sozi­al­de­mo­kra­ten für Kanz­le­rin Merkel schwer werden, bei den Sank­tio­nen gegen Russ­land die Geschlos­sen­heit der Euro­päi­schen Union aufrechtzuerhalten.

Wohin bewegt sich im rus­si­schen Estab­lish­ment die Wahr­neh­mung der Bezie­hun­gen Russ­lands zum Westen? Putin hat auf eine Ver­schär­fung der Span­nun­gen ver­zich­tet und ver­sucht bereits mehrere Jahre, die Folgen seines „Krim-Feld­zugs“ zu kor­ri­gie­ren. Dieser hat den Mecha­nis­mus einer auf den Westen gestütz­ten Exis­tenz Russ­lands unter­mi­niert. Jetzt ruft der rus­si­sche Prä­si­dent dazu auf, in den Bezie­hun­gen zum Westen eine „neue Seite auf­zu­schla­gen“. Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow meint: „Wir wollen weder eine Kon­fron­ta­tion mit den USA, noch eine mit der Euro­päi­schen Union oder mit der NATO. Im Gegen­teil. Russ­land steht einer breiten Zusam­men­ar­beit mit den west­li­chen Part­nern offen gegen­über“. Unsere Aufgabe, erklärt Lawrow, sei eine „Moder­ni­sie­rung unter Einsatz der euro­päi­schen Errun­gen­schaf­ten“, aller­dings ohne „einen radi­ka­len Bruch mit den Tra­di­tio­nen“. Kurz gesagt: Der Kreml ver­sucht zu einer Zusam­men­ar­beit mit der libe­ra­len Demo­kra­tie zurück­zu­keh­ren, dies jedoch ohne Gesichts­ver­lust und mög­lichst mit dem Effekt, dass der Westen wenigs­tens einige der rus­si­schen Wünsche erfüllt. Die anti­west­li­che Hys­te­rie, die aus dem „Zom­bie­kas­ten“ quillt, zielt auf das rus­si­sche Publi­kum ab. Nach außen bietet der Kreml einen neuen Deal mit der libe­ra­len Demo­kra­tie an.

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Prä­si­dent Putin zu Besuch in Berlin bei Kanz­le­rin Merkel am 19. Oktober 2016

Ein „Sieg“ in Syrien wäre für den Kreml eine Vor­leis­tung für die Rück­kehr zu einem Dialog mit dem Westen

Nun ist es ja so, dass jeder Deal aus wech­sel­sei­ti­gen Zuge­ständ­nis­sen besteht. Es ist klar, dass Moskau vom Westen eine Auf­he­bung der Sank­tio­nen und die Rück­kehr zu einem Aus­tausch von Res­sour­cen erwar­tet: Wir liefern euch Gas und geben euch die Gele­gen­heit, unsere wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen zu bedie­nen, und ihr gebt uns Kredite, Tech­no­lo­gien und eine Garan­tie, dass sich unsere Eliten ohne Pro­bleme in eure Gesell­schaft inte­grie­ren können. Damit sich der Fall Kerimow nicht wie­der­holt, mit dem Frank­reich für erheb­li­che Ver­stim­mung in der rus­si­schen Elite gesorgt hat. Für den Westen sind solche Bedin­gun­gen schon nicht mehr hin­nehm­bar. Um sein Gesicht zu wahren, bräuchte das west­li­che Estab­lish­ment einen Rückzug Russ­lands aus der Ukraine – über alles andere könnte man dann ver­han­deln. Aller­dings ist die Sache nun die, dass der Kreml sich nur als Sieger aus der Ukraine zurück­zie­hen kann. Das wird nicht etwa durch irgend­eine Laune Putins dik­tiert, sondern durch die Logik der Selbstherrschaft.

Ein „syri­sches Gambit“ würde Putin jetzt einen Anschein von Sieg bringen (eine Art „Ersatz­sieg“, da ja andere Gründe für Triumph nicht zu erken­nen sind), einen Sieg, der als Beweis für die Kraft des ent­kräf­te­ten rus­si­schen Regimes gebraucht wird. Für den Kreml wäre ein „Sieg“ in Syrien eine „Vor­leis­tung“ für die Rück­kehr zu einem Dialog mit dem Westen. Dieser Dialog müsste eine Ent­wir­rung des „ukrai­ni­schen Knotens“ ermög­li­chen. Der ist das größte Hin­der­nis, wenn es darum geht, die Blut­ver­sor­gung des rus­si­schen Systems mit Hilfe des Westens wiederherzustellen.

Es ist jedoch zu spüren, dass sich das Regime in Russ­land nicht sicher ist, wie in den Bezie­hun­gen zum Westen die Balance aus „harter Faust“ (also einer Demons­tra­tion von Stärke) und „Umar­mung“ aus­se­hen soll. Diese Balance wird dadurch bestimmt werden, wie in Russ­land der Zustand des Westens ein­ge­schätzt wird. Allem Anschein nach sind in der rus­si­schen Führung einige der Ansicht, dass Russ­land wieder „oben auf“ ist und der Westen sich als „Ver­lie­rer im stra­te­gi­schen Wett­kampf“ erwie­sen hat. Sergej Kara­ga­now schreibt: „Russ­land reitet auf einer Welle der Geschichte, die das Ende der fünf­hun­dert­jäh­ri­gen (Vor)Herrschaft des Westens erreicht hat und vor­aus­ge­lau­fen ist“. Hmm... Was bedeu­ten dann die west­li­chen Sank­tio­nen? Ein Beweis für eine Nie­der­lage des Westens? Was für eine inter­es­sante Logik! Wjat­sches­law Nikonow ent­wirft ver­zückt das gran­diose Bild einer Rück­kehr Russ­lands in die erste Reihe, indem er die Schaf­fung eines „Kon­zerts der Groß­mächte“ vor­schlägt und von einer „ver­trau­li­chen Part­ner­schaft“ mit den USA träumt. Zwar könnte man den einen oder anderen der Euro­päer mit der Aus­sicht ver­füh­ren, bei dem „Konzert“ mit­zu­spie­len, weil Europa in einem ver­wirr­ten Zustand ver­harrt. Die USA aber kon­so­li­die­ren sich über die Vor­stel­lung „Russia is toxic“ – was also sollte Washing­ton nun dazu bringen, in seinen Bezie­hun­gen zu Moskau zu einer „Ver­trau­lich­keit“ zurückzukehren?

Sollte der Kreml auf die Über­zeu­gungs­kraft von Sie­ges­fan­fa­ren setzen und dann auch noch an Europas Bereit­schaft zur Nach­sicht glauben, stünden die Dinge schlecht. Dann könnte die Füh­rungs­mann­schaft in Russ­land wieder ver­sucht sein zu testen, wie es um die Muskeln des Westens bestellt ist. Dies umso mehr, als der Kreml derzeit das Problem eines neuen Legi­ti­ma­ti­ons­kon­zepts hat: Putin hat bereits etliche Rollen durch­pro­biert, die eines Sta­bi­li­sa­tors, eines Moder­ni­sie­rers, die eines Kriegs­füh­rers. Jetzt ver­sucht er die Rolle eines Frie­dens­stif­ters, der der Welt einen Ausweg aus einem neuen kalten Krieg vor­schlägt. Damit aber diese Rolle nicht die Auto­kra­tie unter­gräbt, braucht er hän­de­rin­gend einen Rück­zie­her des Westens.

Wenn der Westen nicht bereit ist, dem Kreml das Gefühl eines Sieges zu ermög­li­chen, könnte der rus­si­sche Versuch folgen, die west­li­chen Füh­run­gen hierzu zu zwingen, indem man damit droht, ein paar Fens­ter­schei­ben ein­zu­schmei­ßen. Die rus­si­sche Taktik, den anderen zur Zunei­gung zu zwingen, ist bis in die aktu­elle Gegen­wart hinein durch­aus erfolg­reich gewesen. Und das „Instru­men­ta­rium“ des Kreml hält durch­aus noch Zwangs­mit­tel bereit, etwa die Aus­sicht, die rus­si­sche Wirt­schaft aufs „mili­tä­ri­sche Gleis“ zu setzen, oder die Drohung, aus dem INF-Vertrag aus­zu­stei­gen. Im Prinzip würde das aus­rei­chen, die Knie der west­li­chen Elite zittern zu lassen. Sollten sich die Dinge in dieser Rich­tung ent­wi­ckeln, würde sich Russ­land wieder in einem umzin­gel­ten Lager wie­der­fin­den – ent­ge­gen den Wün­schen seiner Elite, die sich selbst lieber im anderen, feind­li­chen Lager ein­rich­ten möchte. Es darf aller­dings nicht ver­ges­sen werden, wo das letzte Kräf­te­mes­sen der Lager endete – im Zusam­men­bruch der UdSSR.

Wenn der Westen wie­derum bei der der­zei­ti­gen Sank­ti­ons­po­li­tik beide Füße auf die Bremse setzt, hieße das, dass die Welt zum „großen Deal“ der letzten beiden Jahr­zehnte zurück­kehrt: Der Westen stellt Russ­land Res­sour­cen zur Ver­fü­gung und Russ­land belie­fert den Westen mit Gas und Kor­rup­tion. Das würde kein Sze­na­rio eines Zusam­men­bruchs bedeu­ten, sondern das eines lang­sa­men Ver­fau­lens; dies aller­dings gemein­sam mit dem Westen, was viel­leicht dem einen oder anderen im Kreml sogar Ver­gnü­gen berei­ten könnte.

Ach ja! Fast hätten wir in diesem Zusam­men­hang die Prä­si­dent­schafts­wah­len ver­ges­sen. Bei der Frage nach dem Weg, den Russ­land ein­schlägt, sind aber heute nicht die Wahlen das Span­nende. Das Span­nende ergibt sich viel­mehr aus der Frage, ob der Westen gewillt sein wird, für die rus­si­sche Auto­kra­tie wei­ter­hin eine Res­source dar­zu­stel­len. Und da spielt es keine Rolle, wer nun im Kreml diese Auto­kra­tie verkörpert.


Der Kom­men­tar von Lilija Schew­zowa ist im rus­si­schen Ori­gi­nal am 22. Dezem­ber 2017 bei Radio Svoboda erschienen.

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