Ein wichtiger Prozessbeginn in Berlin
Der Prozess im sogenannten Tiergarten-Mord könnte wertvolle Aufklärungsarbeit leisten. Der Auftakt findet ausgerechnet am Jahrestag des Mordes an Anna Politkowskaja vor 14 Jahren statt, schreibt unsere Programmdirektorin Maria Sannikova-Franck.
Am 7. Oktober soll im Berliner Kammergericht der Prozess zum „Tiergarten-Mord“ beginnen. Es geht um den Mord an Selimchan Changoschwili, der in Deutschland Asyl gesucht hatte. Der Georgier aus der mit den Tschetschenen eng verwandten Minderheit der Kisten hatte im zweiten Tschetschenienkrieg gegen die russischen Streitkräfte gekämpft und in den Folgejahren mit georgischen Geheimdiensten und der ukrainischen Regierung zusammengearbeitet. Angeklagt ist der russische Staatsbürger Wadim Sokolow. Er soll im August 2019 Changoschwili mitten in Berlin per Kopfschuss ermordet haben. Dabei erheben die deutschen Ermittlungsbehörden schwerwiegende Vorwürfe gegen das System Putin. Der Generalbundesanwalt wirft dem Angeklagten vor, das Attentat im Auftrag von „staatlichen Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation“ begangen zu haben.
Der Prozesses beginnt genau an dem Tag, an dem vor 14 Jahren die prominente russische Journalistin und Menschenrechtlerin Anna Politkowskaja im Fahrstuhl ihres Hauses in Moskau erschossen wurde. Sie arbeitete beharrlich daran, Verbrechen der Geheimdienste, des russischen Militärs und des von Präsident Wladimir Putin eingesetzten Statthalters Ramsan Kadyrow in Tschetschenien aufzuklären. Sie tat das, obwohl sie genau wusste, wie hoch der Preis für die Wahrheit sein kann. Dem kaltblütigen Mord gingen mehrere Morddrohungen und ein Giftanschlag voraus.
Anna Politkowskaja hat immer wieder ihr Recht behauptet, die Öffentlichkeit über die Brutalität und die Unverfrorenheit zu informieren, mit der der Kreml seine Macht durchsetzt und seine Gegner verfolgt. Auch heute, unter immer schwieriger werdenden Bedingungen, gibt es mutige Journalistinnen und Journalisten, Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler, die diesen Weg gehen. Sie berichten über Korruption in der nächsten Umgebung von Präsident Putin, Verbrechen russischer Söldner in Syrien oder der Verfolgung von LGBTI in Tschetschenien. Auch Informationen zur möglichen Verwicklung russischer Geheimdienste in den Tiergarten-Mord sind dank der Arbeit russischer und internationaler Recherche-Teams, wie „The Insider“ und „Bellingcat“ publik geworden. An Anna Politkowskaja zu erinnern bedeutet, dort hinzuschauen, wo die kühnen Recherchen ihrer Kolleginnen und Kollegen die Wahrheit ans Licht bringen.
Eine vollständige juristische Aufarbeitung politischer Verbrechen ist im und mit dem heutigen Russland kaum möglich. Sie setzte voraus, dass die russische Seite unabhängig ermittelt und international kooperieret. Die dafür zuständigen Behörden sind aber selbst fester Teil des Unterdrückungsapparats.
Das befreit uns nicht von der Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen, die Taten soweit möglich außerhalb Russland aufzuklären und politische Konsequenzen daraus zu ziehen. Der Prozess, der morgen beginnt, wird hoffentlich dazu beitragen.
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