Das System Putin und seine Haftlager

Quelle: Flickr/​BBC World Service

Olga Roma­nowa half rus­si­schen Häft­lin­gen, bis sie selbst ins Visier der Justiz geriet und aus Angst vor einer Ver­haf­tung Russ­land verließ. In ihrer Analyse für LibMod zeigt die Bür­ger­recht­le­rin frap­pie­rende Ähn­lich­kei­ten auf zwi­schen den Gefäng­nis­sen unter Putin und den sta­li­nis­ti­schen Gulags.

Grau­sam­keit und Ver­let­zung der mensch­li­chen Würde sind etwas, was moderne Gesell­scha­fen nicht hin­neh­men dürften. Leider gibt es in Russ­land einen ganzen staat­li­chen Sektor, in dem die Miss­ach­tung der mensch­li­chen Würde seit mitt­ler­weile 90 Jahren die Norm ist. Es geht um das rus­si­sche Straf­voll­zugs­sys­tem, das derzeit den Namen FSIN trägt – der „Föde­rale Dienst für den Straf­voll­zug“. Dieses System besteht, sieht man einmal vom offi­zi­el­len Namen ab, ohne beson­dere Ver­än­de­rung seit 1930, als der GULAG geschaf­fen wurde, die „Haupt­ver­wal­tung der Arbeits- und Bes­se­rungs­la­ger“. Seither hat sich das Land und die gesell­schaft­li­che Struk­tur grund­le­gend ver­än­dert, haben die Prä­si­den­ten gewech­selt und hat sich die Welt gewan­delt – nur das Gefäng­nis­sys­tem blieb in seinem Wesen unverändert.

Eine Fol­ter­me­thode ist die gezielte Anste­ckung mit Tuber­ku­lose. Gesunde Häft­linge werden zur Bän­di­gung und Ein­schüch­te­rung zusam­men mit Erkrank­ten untergebracht. 

Im letzten Jahr ist ein Reform­kon­zept für das rus­si­sche Jus­tiz­voll­zugs­sys­tem aus­ge­ar­bei­tet worden. Zu den Autoren des Kon­zepts gehörte auch die Ver­fas­se­rin dieser Zeilen. Als Refe­renz­punkt für eine Reform wurde übri­gens das deut­sche Straf­voll­zugs­sys­tem her­an­ge­zo­gen, da es unserer Ansicht nach am ehesten für Russ­land geeig­net ist. Zwi­schen Deutsch­land, das zwei Dik­ta­tu­ren erlebte, und Russ­land bestehen Ähn­lich­kei­ten. Etwa die alte Gefäng­nis­in­fra­struk­tur, der Ein­fluss der Geheim­dienste auf Urteile (in der DDR wirkte die Stasi und in Russ­land wirkt der FSB), die Men­ta­li­tät des alten Per­so­nals, nach der ein Ver­bre­cher nicht Hilfe und Reso­zia­li­sie­rung braucht, sondern Grau­sam­keit und Ernied­ri­gung. Deutsch­land hat diese Pro­bleme über­wun­den. Wird auch die rus­si­sche Regie­rung den nötigen Willen auf­brin­gen, um sein Straf- und Gefäng­nis­sys­tem hinter sich zu lassen?

Inhaf­tie­rungs­quote wie unter Stalin

Nir­gendwo in Europa werden so viele Haft­stra­fen ver­hängt wie in Russ­land. Die Zahl der Ver­ur­teil­ten pro 100.000 Ein­woh­ner stellt sich mit Stand vom 1. Januar 2018 wie folgt dar:

Russ­land: 419
Polen: 196
Serbien: 142
Groß­bri­tan­nien: 141
Spanien 128
Frank­reich: 101
Italien: 96
Grie­chen­land: 93
Schweiz: 82
Deutsch­land: 78
Kroa­tien: 78
Nor­we­gen: 74
Slo­we­nien: 64
Nie­der­lande: 59
Schwe­den: 57
Finn­land: 57

Ein kleiner his­to­ri­scher Exkurs dürfte inter­es­sant sein. Anfang 1930 gab es in der UdSSR in den Gefäng­nis­sen und Straf­ko­lo­nien 179.000 Häft­linge (bei einer Bevöl­ke­rung von damals 220 Mil­lio­nen). Das bedeu­tete 81 Häft­linge auf 100.000 Ein­woh­ner. Dieser Wert kommt den heu­ti­gen Zahlen für Deutsch­land nahe. Am 1. Oktober 1930 wurde der GULAG geschaf­fen. Dann geschah in der UdSSR Fol­gen­des: Am 1. Januar 1935 betrug die Zahl der Häft­linge 510.000 (231 Häft­linge auf 100.000 Ein­woh­ner), am 1. Januar 1936 waren es 900.000 (409 Häft­linge auf 100.000 Ein­woh­ner) und am 1. Januar 1937 betrug die Zahl fast 1,2 Mil­lio­nen (544 Häft­linge pro 100.000 Ein­woh­ner, wobei im Laufe des Jahres weitere 800.000 hinzukamen).

Müttern werden Klein­kin­der entrissen

Die Häft­lings­quote bezogen auf die Gesamt­be­völ­ke­rung in Russ­land kommt heute also der des Jahres 1937 nahe, dem Höhe­punkt der sta­li­nis­ti­schen Repres­sio­nen. Folg­lich ist es unsere wich­tigste Aufgabe, die Zahl der Häft­linge zu redu­zie­ren. Hierzu ist vor allem eine Reform des Gerichts­we­sens erfor­der­lich, ebenso wie die Bekämp­fung der Kor­rup­tion, denn eine vor­zei­tige Ent­las­sung ist ohne beträcht­li­che Bestechungs­gel­der derzeit kaum möglich.

Am 1. Januar 2018 saßen in den Ein­rich­tun­gen des rus­si­schen Straf­voll­zugs 602.176 Häft­linge ein, unter denen sich fast 50.000 Frauen befan­den. Derzeit gibt es 535 Klein­kin­der unter drei Jahren, die sich zusam­men mit ihren Müttern in Gefäng­nis­sen oder Straf­ko­lo­nien befin­den. Der Staat über­gibt sie nach Voll­endung des dritten Lebens­jah­res an Kinderheime.

In Russ­land gibt es kein System der Bewäh­rung, durch das Gefäng­nis­stra­fen durch andere Formen der Strafe ersetzt werden könnten. Ebenso fehlt ein System zur Wie­der­ein­glie­de­rung von Haftentlassenen.

Ein Drittel der Todes­fälle wegen Aids

Der Haus­halt des FSIN beträgt nahezu drei Mil­li­ar­den Euro. Doch der FSIN wendete für die Ver­pfle­gung der Häft­linge im Jahr 2016 im Durch­schnitt täglich nur 86 Rubel (1,25 Euro) pro Häft­ling auf, 2017 waren es 72 Rubel (statt der bud­ge­tier­ten 86) und für 2019 sind bloß noch rund 60 Rubel (0,80 Euro) geplant.

Den Angaben des FSIN zufolge war in den letzten drei Jahren (2014–2017) fast ein Drittel der Todes­fälle in Haft­ein­rich­tun­gen auf HIV-Infek­tio­nen zurück­zu­füh­ren. In den Ein­rich­tun­gen des FSIN starben 2016 ins­ge­samt 1092 Häft­linge wegen Aids.

Auch Folter ist in rus­si­schen Gefäng­nis­sen ver­brei­tet und in vielen Fällen doku­men­tiert. Eine Methode ist die gezielte Anste­ckung mit Tuber­ku­lose. Gesunde Häft­linge werden zur Bän­di­gung und Ein­schüch­te­rung zusam­men mit Tuber­ku­lo­se­kran­ken unter­ge­bracht. Das ist der Grund, weshalb in Russ­land Tuber­ku­lose so stark ver­brei­tet ist und als die häu­figste Gefäng­nis­krank­heit gilt. Zuver­läs­sige Angaben zur Ver­brei­tung der Tuber­ku­lose gibt es nicht, die Daten gelten als geheim und sind sogar für Fach­leute nicht voll­stän­dig zugänglich.

Öffent­lich­keit wird sys­te­ma­tisch ausgesperrt

Zuletzt hat die Regie­rung die Kon­trolle des rus­si­schen Jus­tiz­voll­zugs­sys­tems und der Haft­be­din­gun­gen der Öffent­lich­keit ent­zo­gen. Unter Prä­si­dent Med­we­dew ist ein Gesetz über die soge­nann­ten „Gesell­schaft­li­chen Beob­ach­ter­kom­mis­sio­nen“ ver­ab­schie­det worden, deren Mit­glie­der eine Zugangs­be­rech­ti­gung für Gefäng­nisse erhal­ten. Diese Kom­mis­sio­nen sind prak­tisch überall mit ehe­ma­li­gem Gefäng­nis­per­so­nal, Mit­ar­bei­tern der Staats­an­walt­schaf­ten und Geheim­dienste besetzt worden. Unab­hän­gige NGOs, die zur Situa­tion in den Gefäng­nis­sen arbei­ten, werden nicht mehr in die Haft­an­stal­ten hin­ein­ge­las­sen, sie sind als „aus­län­di­sche Agenten“ kaltgestellt.

Unab­hän­gige NGOs kon­zen­trie­ren ihre Arbeit nun darauf, Wie­der­ein­glie­de­rungs­hilfe nach der Haft­ent­las­sung zu orga­ni­sie­ren und kos­ten­lose Anwalts­be­ra­tung und mate­ri­elle Unter­stüt­zung für die Fami­lien anzu­bie­ten. Diese Arbeit wird aller­dings nicht vom Staat unter­stützt und trifft auf den ernst­haf­ten Wider­stand der Justizvollzugsbehörden.

Es liegt auf der Hand, dass die Rück­fall­quote in Russ­land äußerst hoch ist. Diese Quote wird in den ver­schie­de­nen Ländern auf jeweils eigene Weise ermit­telt, daher sind einige Erläu­te­run­gen nötig.

For­de­rung nach Gefängnisreform

Als Wie­der­ho­lungs­tat stuft der FSIN jedes Urteil einer Straf­kam­mer ein, das einen Frei­heits­ent­zug mit sich bringt und gegen eine Person ergeht, die zuvor bereits einmal zu einer Frei­heits­strafe ver­ur­teilt worden ist. Nach dieser Zähl­weise beträgt der Anteil der Wie­der­ho­lungs­tä­ter 83 Prozent. Das heißt: Fast jeder, der in Russ­land einmal ins Gefäng­nis gerät, dürfte nach seiner Frei­las­sung erneut inhaf­tiert werden.

Hier­durch wird ver­ständ­lich, warum sich Russ­land in den letzten Jahr­zehn­ten zu einem Land gewan­delt hat, das nicht nur Öl und Gas expor­tiert, sondern auch Kriminalität.

Eine Gefäng­nis­re­form muss die fol­gen­den Ziele verfolgen:

  • Demi­li­ta­ri­sie­rung der Justizvollzugsbehörde
  • Redu­zie­rung der Häft­lings­zah­len und Ein­füh­rung von Bewährungsstrafen
  • Wie­der­ein­füh­rung öffent­li­cher Aufsicht
  • Aufbau eines Systems zur Wie­der­ein­glie­de­rung Haftentlassener

Wer klagt, wird zum Angeklagten

Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass ein unab­hän­gi­ges Gerichts­sys­tem nicht mehr exis­tiert. Nach Angaben sowohl von Men­schen­recht­lern wie auch des Euro­päi­schen Gerichts­hofs für Men­schen­rechte sind 30 Prozent der Frei­heits­stra­fen unrecht­mä­ßig ver­hängt worden. Das bedeu­tet, dass all­jähr­lich 200.000 Per­so­nen schuld­los ihre Frei­heit ent­zo­gen wird. Die Gründe sind viel­fäl­tig: Geschäfts­leute wandern hinter Gitter, damit ihnen Eigen­tum und Pro­duk­ti­ons­mit­tel ent­ris­sen werden können. Poli­ti­sche und zivil­ge­sell­schaft­li­che Akti­vis­ten werden inhaf­tiert wegen öffent­li­cher Mei­nungs­äu­ße­run­gen oder Teil­nahme an einer Demons­tra­tion. Und gewöhn­li­che Bürger ver­lie­ren ihre Frei­heit allein des­we­gen, weil die Polizei ihre Auf­klä­rungs­quote ver­bes­sern muss, denn ihr wird nicht zuge­stan­den, weniger Taten auf­zu­klä­ren als im Vormonat.

In Russ­land ist Rich­tern alles erlaubt, was ihnen in den Sinn kommt, solange sie niemals die Inter­es­sen der Behör­den ver­letz­ten, ganz gleich, ob es um Wahl­be­trug geht, die Anti­kor­rup­ti­ons­re­cher­chen von Alexej Nawal­nyj oder bei­spiels­weise um den Ein­spruch von Bürgern gegen den ille­ga­len Bau eines Ein­kaufs­zen­trums mitten in einem Park. In Fällen wie diesem geraten die Kläger häufig selbst in die Lage, vor Gericht ange­grif­fen zu werden.

Die Miss­ach­tung der bür­ger­li­chen und per­sön­li­chen Würde der Men­schen in Russ­land wird ohne eine Reform des Straf­voll­zugs nicht enden, auch nicht ohne eine tief­grei­fende Gerichts­re­form, also letzt­lich nicht ohne den poli­ti­schen Willen der Staats­füh­rung – den diese aber offen­sicht­lich nicht aufbringt.

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