Das System Putin und seine Haftlager
Olga Romanowa half russischen Häftlingen, bis sie selbst ins Visier der Justiz geriet und aus Angst vor einer Verhaftung Russland verließ. In ihrer Analyse für LibMod zeigt die Bürgerrechtlerin frappierende Ähnlichkeiten auf zwischen den Gefängnissen unter Putin und den stalinistischen Gulags.
Grausamkeit und Verletzung der menschlichen Würde sind etwas, was moderne Gesellschafen nicht hinnehmen dürften. Leider gibt es in Russland einen ganzen staatlichen Sektor, in dem die Missachtung der menschlichen Würde seit mittlerweile 90 Jahren die Norm ist. Es geht um das russische Strafvollzugssystem, das derzeit den Namen FSIN trägt – der „Föderale Dienst für den Strafvollzug“. Dieses System besteht, sieht man einmal vom offiziellen Namen ab, ohne besondere Veränderung seit 1930, als der GULAG geschaffen wurde, die „Hauptverwaltung der Arbeits- und Besserungslager“. Seither hat sich das Land und die gesellschaftliche Struktur grundlegend verändert, haben die Präsidenten gewechselt und hat sich die Welt gewandelt – nur das Gefängnissystem blieb in seinem Wesen unverändert.
Eine Foltermethode ist die gezielte Ansteckung mit Tuberkulose. Gesunde Häftlinge werden zur Bändigung und Einschüchterung zusammen mit Erkrankten untergebracht.
Im letzten Jahr ist ein Reformkonzept für das russische Justizvollzugssystem ausgearbeitet worden. Zu den Autoren des Konzepts gehörte auch die Verfasserin dieser Zeilen. Als Referenzpunkt für eine Reform wurde übrigens das deutsche Strafvollzugssystem herangezogen, da es unserer Ansicht nach am ehesten für Russland geeignet ist. Zwischen Deutschland, das zwei Diktaturen erlebte, und Russland bestehen Ähnlichkeiten. Etwa die alte Gefängnisinfrastruktur, der Einfluss der Geheimdienste auf Urteile (in der DDR wirkte die Stasi und in Russland wirkt der FSB), die Mentalität des alten Personals, nach der ein Verbrecher nicht Hilfe und Resozialisierung braucht, sondern Grausamkeit und Erniedrigung. Deutschland hat diese Probleme überwunden. Wird auch die russische Regierung den nötigen Willen aufbringen, um sein Straf- und Gefängnissystem hinter sich zu lassen?
Inhaftierungsquote wie unter Stalin
Nirgendwo in Europa werden so viele Haftstrafen verhängt wie in Russland. Die Zahl der Verurteilten pro 100.000 Einwohner stellt sich mit Stand vom 1. Januar 2018 wie folgt dar:
Russland: 419
Polen: 196
Serbien: 142
Großbritannien: 141
Spanien 128
Frankreich: 101
Italien: 96
Griechenland: 93
Schweiz: 82
Deutschland: 78
Kroatien: 78
Norwegen: 74
Slowenien: 64
Niederlande: 59
Schweden: 57
Finnland: 57
Ein kleiner historischer Exkurs dürfte interessant sein. Anfang 1930 gab es in der UdSSR in den Gefängnissen und Strafkolonien 179.000 Häftlinge (bei einer Bevölkerung von damals 220 Millionen). Das bedeutete 81 Häftlinge auf 100.000 Einwohner. Dieser Wert kommt den heutigen Zahlen für Deutschland nahe. Am 1. Oktober 1930 wurde der GULAG geschaffen. Dann geschah in der UdSSR Folgendes: Am 1. Januar 1935 betrug die Zahl der Häftlinge 510.000 (231 Häftlinge auf 100.000 Einwohner), am 1. Januar 1936 waren es 900.000 (409 Häftlinge auf 100.000 Einwohner) und am 1. Januar 1937 betrug die Zahl fast 1,2 Millionen (544 Häftlinge pro 100.000 Einwohner, wobei im Laufe des Jahres weitere 800.000 hinzukamen).
Müttern werden Kleinkinder entrissen
Die Häftlingsquote bezogen auf die Gesamtbevölkerung in Russland kommt heute also der des Jahres 1937 nahe, dem Höhepunkt der stalinistischen Repressionen. Folglich ist es unsere wichtigste Aufgabe, die Zahl der Häftlinge zu reduzieren. Hierzu ist vor allem eine Reform des Gerichtswesens erforderlich, ebenso wie die Bekämpfung der Korruption, denn eine vorzeitige Entlassung ist ohne beträchtliche Bestechungsgelder derzeit kaum möglich.
Am 1. Januar 2018 saßen in den Einrichtungen des russischen Strafvollzugs 602.176 Häftlinge ein, unter denen sich fast 50.000 Frauen befanden. Derzeit gibt es 535 Kleinkinder unter drei Jahren, die sich zusammen mit ihren Müttern in Gefängnissen oder Strafkolonien befinden. Der Staat übergibt sie nach Vollendung des dritten Lebensjahres an Kinderheime.
In Russland gibt es kein System der Bewährung, durch das Gefängnisstrafen durch andere Formen der Strafe ersetzt werden könnten. Ebenso fehlt ein System zur Wiedereingliederung von Haftentlassenen.
Ein Drittel der Todesfälle wegen Aids
Der Haushalt des FSIN beträgt nahezu drei Milliarden Euro. Doch der FSIN wendete für die Verpflegung der Häftlinge im Jahr 2016 im Durchschnitt täglich nur 86 Rubel (1,25 Euro) pro Häftling auf, 2017 waren es 72 Rubel (statt der budgetierten 86) und für 2019 sind bloß noch rund 60 Rubel (0,80 Euro) geplant.
Den Angaben des FSIN zufolge war in den letzten drei Jahren (2014–2017) fast ein Drittel der Todesfälle in Hafteinrichtungen auf HIV-Infektionen zurückzuführen. In den Einrichtungen des FSIN starben 2016 insgesamt 1092 Häftlinge wegen Aids.
Auch Folter ist in russischen Gefängnissen verbreitet und in vielen Fällen dokumentiert. Eine Methode ist die gezielte Ansteckung mit Tuberkulose. Gesunde Häftlinge werden zur Bändigung und Einschüchterung zusammen mit Tuberkulosekranken untergebracht. Das ist der Grund, weshalb in Russland Tuberkulose so stark verbreitet ist und als die häufigste Gefängniskrankheit gilt. Zuverlässige Angaben zur Verbreitung der Tuberkulose gibt es nicht, die Daten gelten als geheim und sind sogar für Fachleute nicht vollständig zugänglich.
Öffentlichkeit wird systematisch ausgesperrt
Zuletzt hat die Regierung die Kontrolle des russischen Justizvollzugssystems und der Haftbedingungen der Öffentlichkeit entzogen. Unter Präsident Medwedew ist ein Gesetz über die sogenannten „Gesellschaftlichen Beobachterkommissionen“ verabschiedet worden, deren Mitglieder eine Zugangsberechtigung für Gefängnisse erhalten. Diese Kommissionen sind praktisch überall mit ehemaligem Gefängnispersonal, Mitarbeitern der Staatsanwaltschaften und Geheimdienste besetzt worden. Unabhängige NGOs, die zur Situation in den Gefängnissen arbeiten, werden nicht mehr in die Haftanstalten hineingelassen, sie sind als „ausländische Agenten“ kaltgestellt.
Unabhängige NGOs konzentrieren ihre Arbeit nun darauf, Wiedereingliederungshilfe nach der Haftentlassung zu organisieren und kostenlose Anwaltsberatung und materielle Unterstützung für die Familien anzubieten. Diese Arbeit wird allerdings nicht vom Staat unterstützt und trifft auf den ernsthaften Widerstand der Justizvollzugsbehörden.
Es liegt auf der Hand, dass die Rückfallquote in Russland äußerst hoch ist. Diese Quote wird in den verschiedenen Ländern auf jeweils eigene Weise ermittelt, daher sind einige Erläuterungen nötig.
Forderung nach Gefängnisreform
Als Wiederholungstat stuft der FSIN jedes Urteil einer Strafkammer ein, das einen Freiheitsentzug mit sich bringt und gegen eine Person ergeht, die zuvor bereits einmal zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Nach dieser Zählweise beträgt der Anteil der Wiederholungstäter 83 Prozent. Das heißt: Fast jeder, der in Russland einmal ins Gefängnis gerät, dürfte nach seiner Freilassung erneut inhaftiert werden.
Hierdurch wird verständlich, warum sich Russland in den letzten Jahrzehnten zu einem Land gewandelt hat, das nicht nur Öl und Gas exportiert, sondern auch Kriminalität.
Eine Gefängnisreform muss die folgenden Ziele verfolgen:
- Demilitarisierung der Justizvollzugsbehörde
- Reduzierung der Häftlingszahlen und Einführung von Bewährungsstrafen
- Wiedereinführung öffentlicher Aufsicht
- Aufbau eines Systems zur Wiedereingliederung Haftentlassener
Wer klagt, wird zum Angeklagten
Darüber hinaus besteht das Problem darin, dass ein unabhängiges Gerichtssystem nicht mehr existiert. Nach Angaben sowohl von Menschenrechtlern wie auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sind 30 Prozent der Freiheitsstrafen unrechtmäßig verhängt worden. Das bedeutet, dass alljährlich 200.000 Personen schuldlos ihre Freiheit entzogen wird. Die Gründe sind vielfältig: Geschäftsleute wandern hinter Gitter, damit ihnen Eigentum und Produktionsmittel entrissen werden können. Politische und zivilgesellschaftliche Aktivisten werden inhaftiert wegen öffentlicher Meinungsäußerungen oder Teilnahme an einer Demonstration. Und gewöhnliche Bürger verlieren ihre Freiheit allein deswegen, weil die Polizei ihre Aufklärungsquote verbessern muss, denn ihr wird nicht zugestanden, weniger Taten aufzuklären als im Vormonat.
In Russland ist Richtern alles erlaubt, was ihnen in den Sinn kommt, solange sie niemals die Interessen der Behörden verletzten, ganz gleich, ob es um Wahlbetrug geht, die Antikorruptionsrecherchen von Alexej Nawalnyj oder beispielsweise um den Einspruch von Bürgern gegen den illegalen Bau eines Einkaufszentrums mitten in einem Park. In Fällen wie diesem geraten die Kläger häufig selbst in die Lage, vor Gericht angegriffen zu werden.
Die Missachtung der bürgerlichen und persönlichen Würde der Menschen in Russland wird ohne eine Reform des Strafvollzugs nicht enden, auch nicht ohne eine tiefgreifende Gerichtsreform, also letztlich nicht ohne den politischen Willen der Staatsführung – den diese aber offensichtlich nicht aufbringt.
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