Russland verstehen
Ein übergelaufener russischer Agent wird in der englischen Provinz mit einem militärischen Kampfstoff attackiert. Premierministerin May macht Moskau für den Anschlag verantwortlich. Sind wir zurück im Kalten Krieg oder sind wir unversehens in einen James-Bond-Film geraten?
Der Fall Skripal steht nicht allein. Im November 2006 stirbt der ehemalige russische Geheimdienstoffizier Alexander Litwinenko, ein vehementer Kritiker Putins, in London an einer Polonium-Vergiftung. Hauptverdächtiger ist der Ex-KGB-Offizier Lugowoi. Bei seinem London-Besuch hinterlässt er eine regelrechte Polonium-Spur. Lugowoi sitzt heute als Mitglied der nationalistischen LDPR-Partei des Rechtspopulisten Wladimir Schirinowski in der Duma. Seine Auslieferung an die britische Justiz wurde von den russischen Behörden abgelehnt.
In den letzten Jahren wurden zahlreiche Gegenspieler Präsident Putins ermordet oder starben an mysteriösen Krankheiten. Im Oktober 2006 wurde die Journalistin Anna Politkowskaja im Fahrstuhl ihres Moskauer Wohnhauses erschossen. Ihre Recherchen zu den Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien hatten die rote Linie überschritten. Schon im Jahr 2000 kamen fünf oppositionelle Journalisten ums Leben, die über Gräueltaten der russischen Armee in Tschetschenien berichtet hatten. Der Wirtschaftsprüfer Sergej Magnitzky, der ein groß angelegtes Betrugsmanöver staatlicher Stellen aufdeckte, starb im Gefängnis, nachdem ihm mit einer fingierten Anklage der Prozess gemacht wurde. Im Februar 2015 wurde Boris Nemzow, ehemaliger Vizepremier und Galionsfigur der Opposition gegen Putin, in Sichtweite des Kremls auf offener Straße erschossen. Die Liste ließe sich verlängern.
Die Morde an abtrünnigen Geheimdienstoffizieren, Oppositionellen und Journalisten haben eine Signalfunktion: Wer den Mächtigen in die Quere kommt, lebt gefährlich. Von Polizei und Justiz kann er sich keinen Schutz erhoffen, im Gegenteil: sie sind Instrumente der Macht. Wie einst der Sage nach das Elend russischer Dörfer mit schönen Fassaden verziert wurde, um Katharina der Großen den Blick auf die triste Wirklichkeit zu ersparen, stehen im heutigen Russland die Kulissen einer Demokratie in der Landschaft. Es gibt Parteien, Parlamente, Gerichte, private Medien und sogar Menschenrechtsbeauftragte. Tatsächlich handelt es sich um bloße Simulationen. Die Duma ist eine Akklamationsmaschine für die Politik des Kremls, die Parteien stehen wie die Medien unter Kontrolle der Macht, Richter und Staatsanwälte unterliegen den Weisungen von oben. Auch die Provinzgouverneure hängen am Gängelband Putins – sie werden seit 2012 zwar wieder gewählt, und nicht mehr wie 2005–2012 direkt vom Kreml eingesetzt; aber mithilfe diverser „administrativer Ressourcen” wird alles dafür getan, dass die richtigen, sprich kremltreuen Kandidaten die Wahlen gewinnen. Putin nannte dieses Regime einst eine „gelenkte Demokratie“ – eine vornehme Umschreibung für ein autoritäres Herrschaftssystem, das auf absolute Kontrolle zielt.
In einem solchen System sind Präsidentschaftswahlen nur eine Übung zur Bestätigung des obersten Machthabers. Wenn es weder einen offenen politischen Wettbewerb noch eine freie Presse gibt, wenn oppositionelle Kandidaten erst gar nicht zugelassen werden und massiver Druck auf Staatsangestellte ausgeübt wird, den richtigen Kandidaten zu wählen, sind Wahlen nur eine Farce. Für Putin gab es zwei ernsthafte Herausforderer: Boris Nemzow, den Kopf der liberalen Opposition, und Alexei Navalny, der mit seiner Antikorruptions-Kampagne vielen Russen aus der Seele spricht. Der eine wurde ermordet, der andere von der Kandidatur ausgeschlossen.
Wir tun uns bis heute schwer, die passenden Begriffe für das „System Putin“ zu finden. Das Regime erinnert an einen modernen Feudalismus, bei dem hohe Staatsämter als Pfründe an loyale Gefolgsleute vergeben werden. Gleichzeitig trägt es die Züge einer Kleptokratie, bei der politische Macht und persönliche Bereicherung Hand in Hand gehen. Putin gilt als einer der reichsten Männer der Welt, der sein Vermögen mittels Strohmännern und Scheinfirmen tarnt. In den „Panama Papers“ wurde ein Zipfel dieses Schattenreichs sichtbar. Der Cellist Roldugin, ein alter Freund Putins, firmierte als Inhaber diverser Konten, über die zwei Milliarden Dollar verschoben wurden. Regierungsfunktionäre, die offiziell nur ein bescheidenes Salär erhalten, besitzen Wohnungen in London oder an der Cote d’Azur und schicken ihre Kinder auf kostspielige Privatuniversitäten. Politische Macht dient als Hebel zur Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Wer als Privatunternehmer erfolgreich ist, muss mit der feindlichen Übernahme seiner Firma durch staatliche Cliquen rechnen. Wo es keine Rechtssicherheit gibt, gibt es auch keine Garantie des Privateigentums. Wer sich einen Eindruck von dieser Atmosphäre der Willkür und Gewalt machen will, möge sich den Film „Leviathan“ des russischen Regisseurs Andrei Swjaginzew zu Gemüte führen.
Weitgehend unstrittig ist der zentrale Einfluss der Geheimdienste. Die „Silowiki“ bilden eine informelle Bruderschaft, die weite Teile des Staatsapparats und der Wirtschaft kontrolliert. Putin kommt aus dem KGB, sein persönlicher Aufstieg ist eng mit der Transformation der Geheimdienste zur stärksten Macht im Staat verknüpft. Wer in dieser Welt groß geworden ist, für den gibt es nur Hammer oder Amboss – entweder man schlägt oder wird geschlagen. Wer für die große Sache Russlands kämpft, ist an kein Recht und Gesetz gebunden. Das gilt nach innen wie nach außen. Im offiziellen Russland gibt es keinerlei Zweifel, dass die gewaltsame Übernahme der Krim rechtens war. Es gibt auch keine Kritik an der Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern in Syrien, kein Erschrecken über die Verwüstung ganzer Städte. Im Gegenteil: Es herrscht patriotische Genugtuung, dass Russland endlich wieder als starke Militärmacht auftritt, die von ihren Gegnern gefürchtet wird.
Spätestens mit der Annexion der Krim und der verdeckten Intervention in der Ostukraine ist klar, dass sich der Kreml an kein internationales Recht, an keine Verträge mehr gebunden sieht. Wen kümmert es, dass Russland zu den Garantiemächten der Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit der Ukraine gehört? Es gilt wieder das Recht des Stärkeren. Putins Botschaft lautet: Wir spielen nicht mehr nach euren Regeln. Dazu passt auch die systematische Vermischung von Wahrheit und Lüge. Putin bestritt anfänglich die Besetzung der Krim durch russische Truppen, bevor er ihnen Orden für diese vaterländische Großtat umhängte. Außenminister Lawrow findet nichts dabei, öffentlich zu behaupten, dass Russland mit dem Krieg in der Ostukraine nichts zu schaffen habe. Was scheren ihn Fakten? Wahrheit ist, was dem Kreml nützt. Die russische Regierung hat diese Taktik zur Meisterschaft entwickelt. Man lässt eine Armee von Internet-Trollen und Computer-Bots los, die unter der Tarnkappe falscher Identitäten Hass und Zwietracht im Westen säen, aber offiziell hat Moskau mit alledem nichts zu tun.
Weshalb stößt Putin trotz alledem in Deutschland auf so viel Verständnis, während man sich kaum für die demokratische Opposition in Russland interessiert? Ist es das Schuldgefühl angesichts der Grausamkeit, mit der Nazi-Deutschland in der Sowjetunion wütete? Dann müsste die Empathie mit den Opfern auch für Polen, die Ukraine, Weißrussland und die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken gelten. Davon ist wenig zu spüren. Ist es die vermeintliche Seelenverwandtschaft mit einem Russland, das als Gegenbild zum Individualismus und der Konsumkultur des Westens erscheint? Weichen wir jedem Konflikt aus Angst vor den militärischen Drohgesten der russischen Führung aus? Oder sind es die verlockenden Aussichten auf die Rohstoffreserven und Absatzmärkte Russlands? Vermutlich eine Mischung aus allem.
Jede realistische Russland-Politik beginnt mit der Erkenntnis, dass der Kreml sich wieder als Gegenspieler zum Westen versteht. Die heutigen Machteliten sehen ihr Land nicht mehr auf dem langen Weg nach Westen. Mit Demokratie haben sie nichts am Hut, im Gegenteil: Sie sehen sie als Gefahr für ihre Macht und ihre Pfründe. Sie begnügen sich nicht damit, Russland gegen die „bunten Revolutionen“ in ihrer Nachbarschaft abzuschirmen, sondern sind zum Angriff übergegangen. Die Ukraine soll zurück unter russische Vorherrschaft, die Spaltungslinien in NATO und Europäischer Union vertieft werden. Nicht von ungefähr unterstützt der Kreml überall in Europa nationalistische, fremdenfeindliche und antiwestliche Kräfte. Es hilft nichts, Putin mit Nachgiebigkeit besänftigen zu wollen. Das vergrößert nur seinen Appetit. Gewaltverzicht, Menschenrechte und gleiche Souveränität aller Staaten sind das Fundament der europäischen Friedensordnung. Auf dieser Grundlage ist eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland willkommen. Solange der Kreml aber als Gegner der liberalen Ordnung auftritt, ist Festigkeit gefragt.
Der Text erschien am 18. März 2018 in der Welt am Sonntag
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