Als Putin begann, das Chaos in den Westen zu exportieren
Der amerikanische Historiker Timothy Snyder schreibt in seinem neuen Buch „Der Weg in die Unfreiheit“ über den Aufstieg autoritärer Régime. Russland spielte dabei eine entscheidende Rolle – das wissen die Menschen in der Ukraine nur zu gut.
Es gibt Fragen, auf die man nicht so schnell eine Antwort finden kann, wenn man immer nur auf die Gegenwart des Jahres 2018 schaut.
Zum Beispiel: Wie ist es möglich, dass Populisten heute so viel Einfluss auf der Welt haben?
Oder: Weshalb sind die Befürworter von Werten wie Demokratie und Freiheit heute in der Defensive?
Und: Warum war die Ukraine weniger anfällig für Desinformationskampagnen als etwa die USA?
Wer verstehen will, was die politische Gegenwart prägt, in der wir leben, der sollte das neue Buch des amerikanischen Historikers Timothy Snyder zur Hand nehmen. In „Der Weg in die Unfreiheit“, Mitte September im C.H. Beck-Verlag erschienen, schafft Snyder etwas Großartiges: Er verbindet die Erforschung der Vergangenheit mit dem Denken über Gegenwart und Zukunft.
Sowohl den Entwicklungen Ukraine, aber auch denen in Europa und Amerika widmet er dabei ganze Kapitel. Was Snyders Buch so spannend macht, ist, dass er einen Erklärungsansatz dafür bietet, wie sich Populismus und rechter Hass, aber auch die Ereignisse in der Ukraine in den vergangenen Jahren entwickeln konnten.
Warum die politischen Ideen heute von Ost nach West wandern
Im Interview mit der CNN-Journalistin Christiane Amanpour sagte Snyder im April :„Die Grundidee von ‚Der Weg in die Unfreiheit’ ist, dass Ideen nicht zwangsläufig von West nach Ost wandern müssen. Das sind sie eine Zeit lang, aber jetzt nicht mehr. Ideen können auch von Ost nach West wandern: von Russland in die Europäische Union, oder von Russland in die Europäische Union.“
Genau an dieser Stelle beginnt das Buch: Russland sei dabei gescheitert, eine funktionierende politische Ordnung zu etablieren, die dauerhafte Stabilität garantiere. Snyder meint damit das Verhältnis von Politik zur Zeit: Denn selbst etablierte Herrscher wie zum Beispiel der russische Präsident Wladimir Putin können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Regierungsdauer endlich ist. Auch Putin brauche einen Nachfolger – irgendwann muss schließlich auch er aus dem Amt scheiden, auf verfassungsmäßigem Wege oder durch den Tod.
Momentan weiß niemand genau, wer nach Putin in Russland regiert. Ohne eine feste Nachfolgeregelung jedoch werde der Wandel für Menschen laut Snyder nicht planbar. Es entsteht ein diffuses Gefühl von Unsicherheit, dass die Verhältnisse zwischen Bürgern und Staat prägt.
Demokratien haben dagegen eine solche Nachfolgeregelung: In wiederkehrenden Abständen werden neue Regierungen gewählt. Das macht diese Systeme so stabil.
Eine demokratische Ukraine wäre eine Gefahr für Putin
Putin wisse um diesen Wettbewerbsnachteil seines kleptokratischen Regimes, schreibt Snyder. Und deswegen habe Russland begonnen, Instabilität zu exportieren. Damit bediene die russische Regierung auch innenpolitische Ziele: Denn die größte Gefahr für Putin bestehe darin, dass sein Staat, dessen Entwicklung durch die Selbstbedienung seiner Eliten gehemmt wird, durch die Anziehungskraft stabilerer Staatsmodelle in Gefahr gerät.
Die Ukraine war eines der ersten Länder, die das zu spüren bekamen. Die Maidan-Revolution stellte für Putin auch deswegen eine ernsthafte Gefahr dar, weil eine möglicherweise prosperierende, demokratische Ukraine für die russischen Bürger zum Sehnsuchtspunkt werden konnte. Doch sukzessive wanderten die Ideen von Instabilität nach Westen. Und das konnten sie, so Snyder, weil westliche Staaten anfällig wurden für Politikkonzepte aus Russland.
Ein Kern von Snyders Buch ist eine sehr schlüssige Theorie von Zeitwahrnehmung im politischen Raum. Sie ist eine Warnung vor der verführerischen Kraft von Narrationen: Jene politischen Erzählungen also, die uns dazu verleiten, Teile der Realität auszublenden.
Snyder beschreibt zwei vorherrschende Varianten von Politik, die beide gemein haben, dass sie sich nicht an den tatsächlichen Fakten der Geschichte und Gegenwart orientieren, sondern politischen Erzählungen folgen. In beiden Fällen gibt es keine wahrnehmbare Zukunft mehr, über die Menschen frei entscheiden können.
Der Fluch von politischen Narrativen
Einerseits gibt es die „Politik der Unausweichlichkeit“: Gegenwärtige Entwicklungen, so der Glaube, lassen sich quasi alternativlos in die Zukunft fortschreiben. Als Beispiel nennt Snyder unter anderem den europäischen Integrationsprozess: Noch vor 15 Jahren glaubten viele Menschen, dass die Einigung Europas sich unaufhaltsam bis zur Vollendung eines europäischen Staates fortsetzen würde.
Letztlich scheitert die „Politik der Unausweichlichkeit“ an ihren eigenen Widersprüchen: Dann nämlich, wenn der vermeintlich immerwährende Weg in eine bessere Zukunft in krassen Gegensatz zu den tatsächlichen Fakten der Gegenwart gerät.
An ihre Stelle tritt die „Politik der Ewigkeit“. Sie kreist fortwährend um ein Narrativ: Das der ständigen Gefahr und der drohenden Opferrolle. Auch hier gibt es keine Zukunftswahrnehmung mehr, weil alles politische Handeln darauf ausgerichtet ist, die Wiederkehr von vergangenem Leid abzuwehren. Fakten, die der „Politik der Ewigkeit“ widersprechen, werden unterdrückt oder ignoriert.
Europas Populisten sind Ewigkeitspolitiker. Doch auch Russlands Präsident Wladimir Putin ist ein typischer Vertreter dieses Politiktyps. Er benutzt die Vergangenheit, um von der Möglichkeit einer besseren Zukunft abzulenken.
Die Mär von den „ukrainischen Faschisten“
Snyder zeigt detailliert auf, wie Putin sich vermeintliche Bedrohungsszenarien der „russischen Unschuld“ für seine Politik zu Eigen macht. Das gilt nicht nur für die Innenpolitik – sondern für die russische Intervention in der Ukraine ab 2014.
So ist den Russen über die staatlich kontrollierten Medien über Monate vermittelt worden, dass die Maidan-Revolution die Wiederkehr des Faschismus signalisiere. Die Flucht des früheren ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch wurde als „Putsch“ bezeichnet, die Übergangsregierung firmierte als „faschistische Nazi-Junta“. Putins Propaganda weckte damit Erinnerungen an den „Großen Vaterländischen Krieg“ – das Wort „Faschist“ steht auch heute noch synonym für „Feind“.
Viele Russen glaubten tatsächlich, dass Landsleute auf der Krim durch „Faschisten“ bedroht seien. Und Snyder zitiert russische Soldaten in der Ostukraine: Sie sahen in ihrem Kriegseinsatz ein „imaginiertes 1941“. Sie waren fest davon überzeugt, die Gefahr einer zweiten faschistischen Invasion abzuwehren. Das alles korrespondiert mit anderen bekannten Berichten aus der Ostukraine.
Snyder war einer der ersten, die den postmodernen Charakter der russischen Propaganda beschrieben. Diesem Phänomen widmet er auch in diesem Buch ein ganzes Kapitel. Sehr anschaulich zeigt er auf, wie demokratische Meinungsbildung durch die Zerschlagung von Diskursen verhindert wird. Russische Staatsmedien bringen so viele Lügen und Falschinformationen in Umlauf, bis die Auseinandersetzung über wichtige politische Themen unmöglich wird – weil unklar ist, was überhaupt wahr ist und was nicht.
Wie Janukowytsch mit Hilfe von Trumps späterem Berater zum Präsidenten wurde
Doch auch in die jüngsten Entwicklungen der ukrainischen Innenpolitik gewährt das Buch interessante Einblicke.
So wird die Rolle von Paul Manafort beschrieben. Der amerikanische Politikberater erhielt im Jahr 2005, nach der Orangenen Revolution, vom ostukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow einen Beratervertrag und formte den bei der Wiederholung der Präsidentschaftswahl im Jahr 2005 unterlegenen Viktor Janukowytsch zum künftigen Staatschef.
Der Politiker bekam neue Anzüge und einen besseren Haarschnitt verpasst – und orientierte sich ab diesem Zeitpunkt an der so genannten „Südstaaten-Strategie“ für die Ukraine, die an ähnliche Konzepte der amerikanischen Republikaner erinnerte: Auch dort wurden laut Snyder kulturelle Differenzen betont und der Fokus eher auf das Sein der Menschen als auf das Handeln der Politik gelegt. Für die Ukraine hieß das, die Probleme der russischsprachigen Ukrainer zu übertreiben – obwohl Russisch damals in vielen Bereichen des Lebens eine dominante Stellung hatte. Die Identitätsfrage bestimmte fortan auch die politische Auseinandersetzung und war mitverantwortlich dafür, dass Janukowytsch die Möglichkeit hatte, nach seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2010 ein kleptokratisches Régime aufzubauen.
Die Ukrainer haben sich entschieden, Geschichte zu gestalten
Das Scheitern Janukowytschs bei der Einordnung der beginnenden Maidan-Proteste im November 2013 erklärt Snyder mit einer weiteren zentralen These seines Buches.
Er glaubt, dass Nationalstaaten für sich genommen auf Dauer nicht in Europa existieren können. Genauso, wie Staaten durch eine Nachfolgeregelung für Stabilität im Ablauf der Zeit sorgen, brauchen sie auch räumliche Stabilität. Das Zusammenbrechen der alten Imperien, zu denen Snyder klassischen Kolonialreiche, Vielvölkerstaaten wie das Habsburgerreich, die Sowjetunion oder das nationalsozialistische Deutschland zählt, habe die Bürger Europas mit der Frage konfrontiert, wie es mit den übriggeblieben Kernstaaten der alten Imperien weitergehe. Die Lösung dafür war die Europäische Union mit ihrer immer weiter voranschreitenden Integration. Sie wurde zum „neuen Imperium“.
Die EU bietet auch kleineren Staaten Schutz. Denn Snyder glaubt, dass Staaten entweder Imperien ausbilden oder von Imperien absorbiert werden. Als Beispiel führt er unter anderem jene osteuropäischen Staaten an, die nach dem Ersten Weltkrieg unabhängig wurden und im Zweiten Weltkrieg erst von Hitler überfallen und später Teil des Sowjetimperiums wurden.
Europa habe kleinere und größere Länder durch Vernetzung „gerettet“. Genau darin sieht er die historische Rolle der EU.
Derlei Kräfte sieht er auch bei den Maidan-Protesten wirken: Nur die Aussicht auf ein EU-Assoziierungsabkommen und damit die langfristige Rettung des ukrainischen Nationalstaates in ein demokratisches Imperium hätten die Regierung von Wiktor Janukowytsch aus Sicht der Menschen erträglich erscheinen lassen.
An dieser Stelle werden Snyders Erklärungen mitunter etwas umständlich. Einerseits betont er, die Ukrainer hätten mit der Revolution einen Ausweg aus der „Alternative Unausweichlichkeit oder Ewigkeit“ gefunden – in dem sie Geschichte gestaltet hätten. Andererseits ist der Gestaltungsspielraum, wie Snyder ihn beschreibt, äußerst eng: Denn er besteht vor allem darin, die Nationenwerdung unter dem Dach EU-Europas fortzusetzen.
Ein Buch, mit dem man Europa und die Welt besser verstehen lernt
Trotzdem bietet das Buch auch für die gegenwärtige Politik viel Diskussionsstoff. Denn die Debatte darüber, was eigentlich „ukrainisch“ ist, befindet sich immer noch im vollen Gange. Die Affäre um Arkadi Babtschenko hat darauf ein Schlaglicht geworfen, als ukrainische Sicherheitsbehörden die Weltöffentlichkeit 24 Stunden im Glauben ließen, dass der Autor erschossen worden sei. In Europa hatte der Fall für Entsetzen gesorgt, besonders unter Journalisten und Vertretern von Menschenrechtsorganisationen. In der Ukraine fand das Vorgehen des Inlandsgeheimdienstes jedoch viel Zuspruch – hatte der Staat doch vermeintlich gezeigt, dass er sicherheitspolitisch eigenständig agieren und Russland mit den eigenen Mitteln schlagen kann.
Wie viel Zukunft hat eigentlich ein Patriotismus, der das Ukrainische vor allem in Abgrenzung zum Russischen sieht, nicht aber in der Durchsetzung demokratischer Werte? Kann es am Ende sogar sein, dass dies genau jene Form von Instabilität ist, die Russland exportieren wollte?
Eine Schwäche des Buches ist die bisweilen holpernde deutsche Sprachfassung: Das insgesamt 380 Seiten umfassende Werk wurde binnen weniger Monate aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Das merkt man dem Text leider bisweilen an.
Insgesamt ist dieses Werk jedoch eines der wichtigsten politischen Sachbücher, die in diesem Jahr erschienen sind. In Europa tendieren wir immer noch dazu, die drängendsten Politischen Fragen unserer Zeit mit nationalen Erklärungen zu beantworten. Snyder bietet einen glaubwürdigen internationalen Kontext für die Wirrungen der vergangenen Jahre. Das macht sein Werk so wertvoll.
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