20 Jahre Putin: Die Verwandlung Russlands in einen Mafiastaat
In den vergangenen Wochen hat Russland einen politischen Coup erlebt, der durch eine Initiative Wladimir Putins ausgelöst wurde: Vorschläge für eine Verfassungsreform, Rücktritt der Regierung, Ernennung eines neuen Kabinetts und Verabschiedung der neuen Verfassung im Eiltempo. Putin hat sich damit die Option geschaffen, ganz legal bis zum Jahr 2036 an der Macht zu bleiben. Die schnelle Abfolge und Dimension der Ereignisse hat einige Kommentatoren von einem „Verfassungsstreich“ sprechen lassen. Folgt man allerdings der Logik des Regimes, stellen die jüngsten Manöver des Präsidenten keine Überraschung dar. Leonid Newslin, Kuratoriumsmitglied des Institute of Modern Russia (IMR), langjähriger Partner von Michail Chordorkowskij bei Jukos und Philanthrop, analysiert 20 Jahre Putin an der Macht: Ergebnis seiner Herrschaft ist die Verwandlung Russlands in einen Mafiastaat.
Am 31. Dezember 1999 verkündete Russlands Präsident Boris Jelzin seinen Rücktritt und übergab das Amt interims-mäßig an den kurz zuvor ernannten Ministerpräsidenten und ehemaligen KGB-Offizier Wladimir Putin. Am 26. März 2000 wurde dieser auch formell zum Nachfolger gewählt. Putins Herrschaft wird oft in scharf kontrastierende Phasen unterteilt. Schauen wir uns jedoch seine Herrschaft als Ganzes an: Was haben die Russen im Ergebnis erhalten?
Die frühen Jahre von Putins Präsidentschaft waren möglicherweise irreführend: Putin setzte Reformen in Gang, verringerte die Barrieren für Unternehmen, und sorgte für eine Wiederbelebung der Verhandlungen über einen WTO-Beitritt Russlands. Dem Wirtschaftswissenschaftler Sergej Gurjew zufolge haben diese Schritte zu einer „dramatischen Beschleunigung des Wirtschaftswachstums, einem Zustrom ausländischer Investitionen und einer Stärkung des Rubels“ geführt. Allerdings war ein Drittel des Wachstums auf einen achtfachen Anstieg der Ölpreise von 1998–2008 zurückzuführen. Letztendlich haben die von Putin versprochenen Reformen nie die erwarteten wirtschaftlichen Resultate hervorgebracht. Es gab zwar 2010–2011 nach der Krise eine rasche Erholung, doch verlangsamte sich das russische Wirtschaftswachstum bald wieder: 2013 stieg das BIP lediglich um 1,8 Prozent. Durch den Rückgang der Ölpreise, die Annexion der Krim, den Krieg im Donbass und eine konsequente Selbstisolierung wurde jede Hoffnung auf Reformen und beschleunigtes Wirtschaftswachstum endgültig begraben. Die ausländischen Investitionen gingen erheblich zurück, die Kapitalflucht nahm zu.
Armutsbekämpfung auf dem Papier
Bei seiner Bestätigung als russischer Ministerpräsident 1999 durch die Staatsduma erklärte Putin, das wichtigsten Ziel seiner Regierung sei die Überwindung der Armut. Als Präsident versprach er, für die soziale Sicherung der Bevölkerung Russlands sorgen. Noch im Dezember 2019 bekräftigte er auf seiner jährlichen Pressekonferenz erneut, das wichtigste Problem des Landes bleibe die Armut. Wie die Lage im Land tatsächlich aussieht, zeigt eine Umfrage des Föderalen Dienstes für Statistik (Rosstat) zu den Lebensbedingungen in Russland. Demzufolge haben 22,6 Prozent der Russen keinen Zugang zu einem zentralisierten Abwassersystem (zwei Drittel dieser Menschen leben in ländlichen Gegenden, die Hälfte nutzen Sickergruben).
Putins jüngste, bemerkenswerte „Leistung“ besteht in der Anhebung des Rentenalters auf 60 Jahre (für Frauen) und 65 Jahre (für Männer). Eines der Argumente für diese Entscheidung war ein Anstieg der Lebenserwartung. Doch selbst offiziellen Daten von 2017 zufolge beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland 72,7 Jahre, weniger als in den meisten postsowjetischen Ländern, ganz zu schweigen von der entwickelten Welt, wo sie normalerweise bei über 80 Jahren liegt. Der erwartete Haushaltsüberschuss von drei Billionen Rubel im Zeitraum 2019–2024 sollte zur Finanzierung der erhöhten Rentenanpassung verwendet werden. Spätere Änderungen an der Rentenreform reduzierten diesen Betrag auf 500 Milliarden Rubel über sechs Jahre.
Am 1. Januar 2019 wurde neben dem Rentenalter auch die Mehrwertsteuer von 18 auf 20 Prozent erhöht, was bei zahlreichen Waren und Dienstleistungen zu Preissteigerungen führte. Gleichzeitig sind seit 2014 die Realeinkommen im Land kontinuierlich zurückgegangen.
Einer der wichtigsten Mythen des Putinschen Systems sind die angeblich erheblich gestiegenen Einkommen. Diese sind zwar gestiegen, doch sollte nicht vergessen werden, dass der größte Anstieg der tatsächlich gezahlten Löhne und Gehälter 2000 stattfand (Rosstat zufolge um 20,9 %). Das wurde durch die wirtschaftliche Erholung nach der globalen Finanzkrise möglich. Im Zuge der Rubelkrise von 1998 waren Löhne und Gehälter dramatisch zurückgegangen. Der Effekt des niedrigen Ausgangsniveaus, der Anstieg der Ölpreise und die Bemühungen des Kremls, sich mit aller Kraft hinter Jelzins „Nachfolger“ zu stellen, um diesen bei den bevorstehenden Wahlen zu unterstützen, hatte diesen beträchtlichen Anstieg der Löhne ermöglicht. Ein Jahr später stiegen die Reallöhne um weitere 20 Prozent. In der Folge verlangsamte sich das Wachstum wieder. Im Krisenjahr 2009 sanken die Löhne um 3,5 Prozent. Im Jahr 2015 gab es den größten Rückgang – um 9%. Mehr als 40% der Einwohner Russlands gaben im Jahr 2019 bei einer Umfrage an, dass sich ihr Lebensstandard verschlechtert hat.
Zu den weiteren „Leistungen“ des Systems Putin gehören das Antisanktions-Programm und das zum Teil damit verbundene Programm zur Importsubstitution. Jedes Mal, wenn die russische Regierung in einem politischen oder diplomatischen Skandal feststeckt, hat die russische Gesellschaft zu leiden. Den Menschen in Russland wurden zweitweise Mineralwasser und Wein aus Georgien genommen, dann Milchprodukte aus Belarus. Seit 2014 sind diverse landwirtschaftliche Produkte aus den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, Kanada und der Ukraine aus Russland verbannt. Das Programm zur Importsubstitution in der Pharmaindustrie wurde mit dem angeblichen Ziel verabschiedet, die „medizinische Sicherheit der Russischen Föderation zu gewährleisten“, doch seit 2013 ist das wichtigste Kriterium bei staatlichen Anschaffungen in diesem Industriebereich nicht Qualität, sondern der Preis. Dadurch verlieren Originalmedikamente den Wettbewerb gegenüber Generika. In der Folge verlassen ausländische Pharmaunternehmen den russischen Markt. Da russische Präparate oft entweder versagen oder Nebenwirkungen haben, sind die Familien vieler schwerkranker Patienten genötigt, weltweit nach den benötigten Medikamenten zu fahnden.
Ausbau des Machtapparats
Wie steht es mit der Ordnung? War das nicht der Grund, weshalb die Menschen in Russland Putin gewählt hatten? In der Tat sind die Kriminalitätsraten in den vergangenen 20 Jahren in Russland offiziell zurückgegangen (um 32,6 %), ganz wie die Zahl der Gefängnisinsassen (um 39,2 %, vor allem durch die Amnestie von 2015). Gleichzeitig ist die Zahl der Gefängnisinsassen zwischen 55 und 60 Jahren fast auf das Vierfache angestiegen, und die der über 60 Jahre um 36 Prozent. Die Frage ist nur: Warum sitzen immer mehr russische Rentner hinter Gittern?
Nach Angaben von Rosstat hat sich die Anzahl der Mitarbeiter der Gerichte und Staatsanwaltschaften in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Der Politologe Nikolaj Petrow schätzt, dass es in Russland gegenwärtig rund 4,5 Millionen Silowiki (Angehörige der Sicherheitsdientste, Polizei und Justiz) gibt, was 6 Prozent der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung entspricht: „[Das] ist mehr als in der Sowjetunion, wo doch Russland nur halb so groß ist.“
Die Zahl der Freisprüche vor Gericht hat einen historischen Tiefstand erreicht. Aus einem Bericht der russischen Menschenrechtsbeauftragten aus dem vergangenen Jahr geht hervor, dass 2018 in nur 0,25 Prozent aller Strafprozesse ein Freispruch erging, das sind 20 Prozent weniger als im Vorjahr. Anders ausgedrückt: Die russische Justiz arbeitet ausschließlich im Interesse der Staatsanwaltschaft: Schon die Idee der Unschuldsvermutung scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
Ungeachtet der angeblichen Bemühungen von Polizei und Justiz zur Herstellung von Ordnung kommt es unter Putin genauso oft zu aufsehenerregenden Attentaten und dubiosen Todesfällen wie in den 1990er Jahren. Während Putins Herrschaft wurden folgende Personen umgebracht: der Politiker Sergej Juschenkow (2003 in Moskau), der Chefredakteur von Forbes Russia, Paul Klebnikow (Pawel Chlebnikow; 2003 in Moskau), die Journalistin Anna Politkowskaja (2006 in Moskau), der ehemalige Abgeordnete der Staatsduma, Ruslan Jamadajew, (2008 in Moskau), der Anwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin Anastassija Baburowa (2009 in Moskau), die Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa (2009 in Inguschetien), der Politiker Boris Nemzow (2015 in Moskau). Das sind nur einige wenige Beispiele. Russische Stellen sind darüber hinaus für die Tode des Anwalts Sergej Magnitskij und des ehemaligen Vizepräsidenten von YUKOS, Wassilij Aleksanjan, verantwortlich, die trotz tödlicher Krankheit in Haft gehalten wurden.
Unter dem Strich hat die Bevölkerung über die vergangenen 20 Jahren hinweg eine gescheiterte Wirtschafts- und Sozialpolitik und die Herrschaft der Silowiki erhalten.
Der ursprüngliche Gesellschaftsvertrag zwischen Putin und der russischen Gesellschaft hatte darauf beruht, dass Putin für wirtschaftliche Stabilität und Ordnung zu sorgen habe, wobei die Bürger im Gegenzug Einschnitte bei politischen Rechten und Freiheiten erfahren würden. Unter dem Strich hat die Bevölkerung über die vergangenen 20 Jahren hinweg eine gescheiterte Wirtschafts- und Sozialpolitik, eine fragwürdige Ordnung und die Herrschaft der Silowiki erhalten. In dieser Zeit wurden ihnen die Grundrechte und Freiheiten genommen, die Bürgern demokratischer Staaten zustehen: Meinungsfreiheit, das Recht, sich friedlich zu versammeln, das Recht auf faire Wahlen und das Recht auf einen unvoreingenommenen Prozess vor Gericht. Darüber hinaus haben sie die Stimmen der Opposition und freier Medien verloren, jener Institutionen, die die Voraussetzung dafür sind, dass die Gesellschaft ihre Regierung kontrollieren kann.
Politische Gleichschaltung
Vor Putins Aufstieg zur Macht hatte es in der 2. Staatsduma (1994–1996) noch sieben Fraktionen und 25 unabhängige Abgeordnete gegeben. Einiges Russland, eine 2001 geschaffene putinfreundliche Partei, konnte bei den Dumawahlen 2003 die absolute Mehrheit und 2007 eine verfassungsändernde Mehrheit erringen (die 2011 für sechs Jahre verloren ging). Das half dem Kreml, sich die volle Kontrolle über die Legislative zu sichern – so konnte jedes beliebe Gesetz verabschiedet werden.
Seit 2000 sind unabhängige Medien zielstrebig zerstört, unter die Kontrolle des Staates bzw. kremlnaher Unternehmen gebracht oder zur Loyalität gegenüber der Regierung gezwungen worden. Parallel dazu ist im Land eine Maschine totaler Staatspropaganda aufgebaut worden, die sowohl auf das inländische wie auf ein Publikum im Ausland abzielt. Eine der Botschaften dieser Propaganda ist der Anspruch Russlands, seinen Status als Großmacht wiederzuerlangen. Doch wie manifestiert sich dieser Status bei näherem Hinsehen?
Er zeigt sich beispielsweise darin, wie Russland fremde Territorien annektiert, Bürger ausländischer Staaten als Geisel nimmt, sich in anderen Ländern in Wahlen einmischt und Dopingsysteme betreibt. Oder in dem Umstand, dass westliche Politiker bestochen sowie Hacker, Spione und Trollfabriken als Werkzeuge einsetzt werden, während Angehörige der russischen Nachrichtendienste quer durch Europa Verbrechen verüben. Putin bietet Schutz für Kriminelle und diktatorische Regime in aller Welt: durch diplomatische und militärische Unterstützung für die Regime von Nicolas Maduro in Venezuela und Baschar al-Assad in Syrien, durch die Dienste illegaler, privater Söldnerfirmen in Syrien, der Zentralafrikanischen Republik und anderen Ländern, durch Asyl für Kriminelle, unter anderem den aus der Ukraine geflüchteten ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch. Diese Aktivitäten werden von einer systematischen Diskreditierung demokratischer Werte durch den Kreml begleitet, während Putin das Ende des Liberalismus verkündet.
Die Nutznießer des Systems Putin
Einer Studie der Wirtschaftswissenschaftler Filip Novokmet, Thomas Piketty, und Gabriel Zucman zufolge (From Soviets to Oligarchs: Inequality and Property in Russia, 1905–2016) beträgt das Offshore-Vermögen von Russen rund das Dreifache der offiziellen Nettoauslandsreserven und kommt dem Volumen nach dem Finanzvermögen aller Haushalte des Landes gleich. Mit anderen Worten: Das Vermögen reicher Russen im Ausland ist so groß wie das der gesamten Bevölkerung innerhalb des Landes. Von 2005 bis 2015 belief sich das Gesamtvermögen der russischen Milliardäre auf 25 bis 40 Prozent des Nationaleinkommens. Dieser Anteil ist viel höher als in westlichen Ländern. Für Russland trifft im besonderen Maße zu, dass die Reichen immer reicher werden, während ein Großteil der Bevölkerung verarmt.
Im Laufe der vergangenen 20 Jahre ist in Russland ein spezieller Typ Elite entstanden, auf Putin persönlich ausgerichtet und abhängig von ihm. Diese Elite hat in Russland ein System neo-feudaler Herrschaft errichtet und betrachtet das Land lediglich als Quelle persönlicher Bereicherung. Im System Putin sind ganze Dynastien großgeworden: die Timtschenkos, Rotenbergs, Kowaltschuks, Patruschews, Murows, Schamalows, Bortnikows, Setschins… Die Wirtschaft Russlands ist so zugerichtet worden, dass es den Interessen dieser Elite dienlich ist. Der Staat und die politischen Institutionen wurden auf eine Art umgestaltet, dass sie zwar die Fassade einer Demokratie wahren, ihrem Wesen nach jedoch das Regime stärken und konservieren. Im Kern besteht das Ergebnis von Putins Herrschaft darin, dass sich Russland zu einem Mafiastaat gewandelt hat.
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