Corona in Russland: Überwachen und Strafen
Aus dem Dossier Corona weltweit: In der Krise werden autoritäre Staaten noch autoritärer. Die Eindämmung von Covid-19 bietet Russland auch eine Chance, seine Überwachungsinstrumente auszutesten. Der Staat verschärft die Kontrolle.
März 2020, die Rede Nummer 1: Russlands Präsident Wladimir Putin – in weißem Hemd, schwarzem Blazer, mit dunkelblauer Krawatte – sitzt seitlich angelehnt und geradezu entspannt in seinem Arbeitszimmer in der Residenz Nowo-Ogarjowo am Rande Moskaus und sagt: „Das Virus kann jeden treffen. Bleiben Sie zu Hause.“ Russland hat zu diesem Zeitpunkt offiziell 658 Infizierte. Putin, der reichlich entrückt wirkt, verordnet eine „arbeitsfreie Woche“ und spricht aus, wogegen sich der Kreml lange gewehrt hatte: Die Abstimmung zur Änderung der Verfassung am 22. April wird verschoben. Mit dem Coup, seine Amtszeiten auf Null zu setzen, will sich Putin die Möglichkeit verschaffen, noch bis zum Jahr 2036 im Amt zu bleiben. Es ist das wichtigste politische Projekt im Land. Verschoben. Genauso wie die Militärparade am 9. Mai, Russlands ganzer Stolz zur Stärkung der Nation.
Acht Tage später die Rede Nummer 2: Russlands Präsident Wladimir Putin – in weißem Hemd, blauem Blazer, mit dunkelblauer Krawatte – sitzt aufrecht in seinem Arbeitszimmer in der Residenz Nowo-Ogarjowo am Rande Moskaus und sagt: „Im Ganzen schaffen wir es, die Risikogruppen zu schützen. Aber: Die Gefahr bleibt.“ Russland hat zu diesem Zeitpunkt offiziell 3548 Infizierte und 30 Tote. Putin verlängert die „arbeitsfreien Wochen“ bis Ende April, wiederholt noch einmal seine Zusagen für die finanziellen Hilfen für Familien, Unternehmer, Arbeitslose. Das Krisenmanagement überlässt er den Regionen. So als wäre er nicht der Präsident, der sich in den vergangenen 20 Jahren zum Zentrum eines Systems gemacht hatte, das auf einer Machtvertikale beruht.
Auch die Verbreitung vermeintlich falscher Nachrichten soll stärker geahndet werden. Nun soll auf das Verbreiten von „Fake News“ und vor allem dem, was die Behörden dafür halten, das Strafrecht angewandt werden. Bislang hatte es als Ordnungswidrigkeit gegolten.
Sechs Tage später die Rede Nummer 3: Russlands Präsident Wladimir Putin – in weißem Hemd, schwarzem Blazer, mit dunkelblauer Krawatte – sitzt in seinem Arbeitszimmer in der Residenz Nowo-Ogarjowo am Rande Moskaus und sagt: „Wir werden auch diese Seuche besiegen.“ Zu diesem Zeitpunkt hat Russland offiziell 8672 Infizierte und 63 Tote. Putin erteilt Anweisungen an die Regionalverantwortlichen, klingt zupackend. Immer wieder verweist er darauf, dass unterschiedliche Maßnahmen bis mindestens Juni gelten werden. Es ist die Rede, bei der klar wird, dass die Coronapandemie nun Chefsache ist. Das Zaghafte, die Planlosigkeit, die den Präsidenten seit dem Ausbruch der Infektion und der Krise im Land begleitet hatten, sind seinem üblichen forschen Aufruf nach Zusammenhalt gewichen.
Corona: Maßnahmen kommen spät und sind drastisch
Dieser Zusammenhalt ist auf einem System des Zwangs aufgebaut. Bereits vor der Coronakrise hatte Russland die Freiheitsrechte jedes Einzelnen nicht besonders geschätzt. Eigenverantwortung traut der Staat seinem Volk nicht zu. Die Krise verschärft das Vorgehen noch. Der autoritäre Staat wird noch autoritärer. Erst hatte Russland die Bedrohung klein geredet. Die Grenzen zu China seien schnell geschlossen, der Kontrollmechanismus der Einreisenden aus Europa sei ausgebaut worden, wiederholte die Führung immer wieder. „Die Gefahr für Russland ist minimal“, sagte Russlands Regierungschef Michail Mischustin noch Anfang März. Ärzte und Bürgerrechtler hatten da längst die niedrigen Zahlen der Infizierten angezweifelt. Nur wenige Menschen wurden auf das Coronavirus getestet, die Kontrollen an den Grenzen hatten stets Lücken. Bereits im Januar hatte die russische Statistikbehörde einen hohen Anstieg von Lungenentzündungen im Vergleich zum Vormonat gemeldet. Die Gesundheitsbehörde dementierte sofort. Die Fragen häuften sich, die Unsicherheit der Menschen wuchs, zumal das Vertrauen in die staatliche Gesundheitsversorgung, vor allem auf dem Land, seit jeher kein großes ist.
Als so manche Verantwortlichen die Gefahr einer immer schnelleren Ausbreitung des Virus nicht mehr abstreiten konnten, griffen sie zu umso drastischeren Mitteln. Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, der sich in den vergangenen Wochen das Image des durchgreifenden Krisenmanagers erarbeitet hatte, schickte nahezu alle Moskauer in Hausarrest. Spaziergänge im Freien sind untersagt. Nur das Gassigehen mit dem Hund ist erlaubt, aber auch das nur 100 Meter vom eigenen Haus entfernt. Sich in der Stadt zu bewegen, funktioniert nur noch mit Passierscheinen. Ein „smartes System“ – Kameras entlang der Straßen, Ticketprüfgeräte in Bussen und Bahnen – überwacht die Bewegungen. Andere Regionen zogen schnell mit ähnlichem Vorgehen nach.
Für viele Russen kam der Stillstand abrupt. Hatten Fernsehsender nicht gerade noch von einer „Sache der anderen“ gesprochen? Das Virus als amerikanische Erfindung dargestellt? Wenn eben noch nichts war, warum sollte plötzlich jetzt alles sehr schlimm sein? Die Beamten klärten von Anfang an wenig über die Sicherheitsmaßnahmen auf. Stattdessen peitschte das russische Parlament, die Duma, in einem Schnellverfahren ein Gesetzespaket durch, wie diejenigen, die das Selbstisolationsregime verletzen, zu bestrafen seien. Bis zu sieben Jahren Haft sind angedroht. Auch die Verbreitung vermeintlich falscher Nachrichten soll stärker geahndet werden. Mit Sperrungen der Inhalte im Netz, Löschungen sowie Geldbußen hatten die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor und der Generalstaatsanwalt bereits früher oft reagiert. Nun soll auf das Verbreiten von „Fake News“ und vor allem dem, was die Behörden dafür halten, das Strafrecht angewandt werden. Bislang hatte es als Ordnungswidrigkeit gegolten. Russlands unabhängige Organisation Roskomswoboda, die sich für die Freiheit im Netz einsetzt, hat eine interaktive Karte veröffentlicht, mit der sie Einschränkungen der Bürgerrechte dokumentiert. Russland erscheint in Rot darauf. „Es steht zu befürchten, dass viele einschränkende Maßnahmen – überall auf der Welt – auch nach der Pandemie bleiben werden“, sagt Artjom Kosljuk, einer der Gründer von Roskomswoboda.
Überwachung der Quarantäne
Russland hat bereits jetzt ein gut ausgebautes Videoüberwachungssystem, samt Gesichtserkennung. Gerade in der russischen Hauptstadt gehören Kameras zum Alltag. Selbst in Hauseingängen hängen oft welche. Smarte Systeme sollen nach dem Willen des Nationalen Corona-Koordinationsrates – der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin spielt neben dem Ministerpräsidenten Michail Mischustin die zweitwichtigste Rolle darin – russlandweit eingesetzt werden, um die Menschen zur Einhaltung des Isolationsregimes zu zwingen. Bereits jetzt müssen Infizierte eine App herunterladen, Mobilfunkdaten werden überwacht. Auf den Straßen können die Kameras jederzeit die Kennzeichen der vorbeifahrenden Autos melden. Die Coronakrise ist für Russland auch eine Chance, seine Überwachungsmechanismen auszutesten. Die Sicherheitsbehörden nutzen das Virus als Vorwand, ihre Kontrollen zu verschärfen. Eine öffentliche Debatte über die Maßnahmen findet nicht statt, weil das politische System keine Debatten duldet, die das Vorgehen des Staates kritisiert. Nicht erst seit das Coronavirus ausgebrochen ist.
Auch die wirtschaftlichen Einbrüche, die durch den Lockdown im Land noch mehr nach außen treten, dürfte der Staat in seinem Sinne nutzen. Die Einkommen der Menschen waren bereits seit Längerem eingebrochen, die Wirtschaft stagniert seit Jahren, an Reformen traute sich die Regierung kaum heran. Versprochen wird seit jeher eine helle Zukunft. Unpopuläres aber packt der Kreml selten an, weil es die Popularitätswerte des Präsidenten stört. Die wirtschaftliche Not, die weiter zunehmen wird, dürfte Putin in Zukunft mit dem Virus erklären. Schließlich hätten andere Länder ähnliche Schwierigkeiten.
Dieser Artikel ist im Rahmen des Projekts „Deutsch-Russischen Gespräche zur digitalen Zivilgesellschaft“ erschienen.
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