Krise im Kreml: Das System Putin und die Seuche

Wird die Coro­na­pan­de­mie zu Putins Water­loo? Die Infek­ti­ons­zah­len sind besorg­nis­er­re­gend, der Prä­si­dent zieht sich aus der Ver­ant­wor­tung zurück, die Wirt­schaft befand sich schon vor Aus­bruch der Seuche im Taumeln. Jan Claas Beh­rends fasst die Ent­wick­lun­gen zusam­men und fragt, ob diese Periode der Unsi­cher­heit ähn­li­che Folgen zei­ti­gen könnte wie in den 1990er Jahren, als die Sowjet­union in sich zusammenbrach.

Zu Beginn der Coro­na­pan­de­mie waren sich zahl­rei­che Beob­ach­ter sicher: auto­kra­tisch geführte Staaten würden die Gewin­ner der Krise sein. Sie ver­füg­ten über kurze Ent­schei­dungs­wege, eine auto­ri­täre poli­ti­sche Kultur und repres­sive Appa­rate, die Maß­nah­men gegen die Bevöl­ke­rung durch­set­zen könnten. Auch eine kri­ti­sche Öffent­lich­keit behin­dere das Regie­rungs­han­deln kaum. Not­falls würden will­fäh­rige Par­la­mente die Befug­nisse der Exe­ku­tive aus­wei­ten. Corona könnte genutzt werden, um exe­ku­tive Voll­mach­ten aus­zu­bauen und auto­ri­täre Staaten zu kon­so­li­die­ren: Die Bei­spiele Ungarn, wo Viktor Orbán seine Macht erwei­terte und auch Russ­land, wo sich Prä­si­dent Putin per Refe­ren­dum im Früh­jahr weitere Amts­zei­ten sichern wollte, schie­nen in diese Rich­tung zu weisen. Doch nach acht Wochen Coro­na­krise kann man zwei­feln, ob die These trägt. 

Portrait von Jan Claas Behrends

Jan Claas Beh­rends arbei­tet als His­to­ri­ker am Zentrum für Zeit­his­to­ri­sche For­schung in Potsdam

In Russ­land war Wla­di­mir Putin mit Selbst­be­wusst­sein in das Jahr 2020 gegan­gen: er schlug über­ra­schend eine Ver­fas­sungs­re­form vor, die ihm weitere Amts­zei­ten ermög­li­chen sollte. Dann begann er einen inter­na­tio­na­len Kon­flikt um den Ölpreis und düpierte die OPEC und die Ver­ei­nig­ten Staaten. Auch auf das Coro­na­vi­rus reagierte der Kreml zunächst abge­klärt: bereits Ende Januar schloss Russ­land seine Grenze zu China, um Über­tra­gun­gen der Infek­tion zu ver­hin­dern. Die Pan­de­mie passte in das eta­blierte Nar­ra­tiv von äußeren Bedro­hun­gen, vor denen die Führung die Bevöl­ke­rung schützt. Aber die Dinge wurden kom­pli­zier­ter, als sich her­aus­stellte, dass Corona weniger eine äußere als viel­mehr eine innere Her­aus­for­de­rung sein würde.

Die Ver­ant­wor­tung für das Kri­sen­ma­nage­ment lud Putin bei den Gou­ver­neu­ren ab. Doch nach zwei Jahr­zehn­ten des Ausbaus der Macht­ver­ti­kale – und damit der Auto­kra­tie – dürften die zu Befehls­emp­fän­gern degra­dier­ten lokalen Ver­wal­tun­gen durch plötz­li­che Eigen­ver­ant­wor­tung über­for­dert sein. 

In den fol­gen­den Wochen zeigte sich nämlich, dass der auto­ri­täre Staat im Umgang mit einer Pan­de­mie kei­nes­wegs so sou­ve­rän agiert, wie anfäng­lich erwar­tet.  Das Virus lässt sich nicht durch eine Pro­pa­gan­da­stra­te­gie bekämp­fen: es ist ein Teil der realen Welt und reagiert nicht auf vir­tu­elle Spiel­chen des Staats­fern­se­hens. Die Situa­tion in Europa wurde zwar mit Scha­den­freude kom­men­tiert und für Atta­cken genutzt. Doch innen­po­li­tisch geriet der Kreml ins Schlin­gern: Zwar ließ sich – wie auch Trumps USA zeigten – Covid-19 eine Zeit lang her­un­ter­spie­len, doch diese Taktik ver­schlim­mert am Ende die Lage. So zwangen die stei­gen­den Fall­zah­len auch die rus­si­sche Regie­rung, sich dem Problem zu stellen und Gesund­heits­po­li­tik zu betrei­ben – und das führte zu über­ra­schen­den poli­ti­schen Verwerfungen.

Corona: Putin zieht sich aus Ver­ant­wor­tung zurück

Eigent­lich ist Wla­di­mir Putin die All­zweck­waffe der rus­si­schen Politik. Die Medien prä­sen­tie­ren ihn seit zwei Jahr­zehn­ten als kom­pe­ten­ten und omni­prä­sen­ten pater fami­lias, der sich um große wie kleine Pro­bleme kümmert. Doch trotz des pater­na­lis­ti­schen Images bemüh­ten sich rus­si­schen Medien, Distanz zwi­schen dem Prä­si­den­ten und dem Virus auf­zu­bauen: Nicht der Prä­si­dent, sondern Moskaus Bür­ger­meis­ter Sergej Sob­ja­nin wurde zur bestim­men­den poli­ti­schen Figur der Krise. Putin zog sich auf seine Datscha außer­halb Moskaus zurück, bei seinen wöchent­li­chen TV-Anspra­chen gab sich der Prä­si­dent unge­wohnt zurück­hal­tend. Wie in anderen Fällen, etwa dem Unter­gang des Atom-U-Bootes Kursk, zeigt sich, dass Putin der Nation ungern schlechte Nach­rich­ten über­bringt. Die Ver­ant­wor­tung für das Kri­sen­ma­nage­ment lud er gleich in der ersten Video­schalte bei den Gou­ver­neu­ren ab. Konnte die Taktik auf­ge­hen? Nach zwei Jahr­zehn­ten des Ausbaus der Macht­ver­ti­kale – und damit der Auto­kra­tie – dürften die zu Befehls­emp­fän­gern degra­dier­ten lokalen Ver­wal­tun­gen durch plötz­li­che Eigen­ver­ant­wor­tung über­for­dert sein. Früh wurde deut­lich, wer die Rolle des Sün­den­bocks über­neh­men sollte.

Die Popu­la­ri­tät des Prä­si­den­ten Putin schwand bereits vor Beginn der Coro­na­krise. Das Früh­jahr 2020 mit dem Ver­fas­sungs­re­fe­ren­dum und dem 75. Jah­res­tag des Sieges im Zweiten Welt­krieg war darauf zuge­schnit­ten, die Legi­ti­mi­tät seiner Macht zu stärken. Doch es kommt anders: eine Periode der Unge­wiss­heit könnte zu ähn­li­chen Ver­hält­nis­sen wie in den 1990er Jahren führen. Russ­land befin­det sich in der größten Krise seit dem Ende der Ära Jelzin. Die Aura der Unfehl­bar­keit, die Prä­si­dent Putin umgibt, hat Schaden genommen.

Die Bruch­stel­len im System Putin werden sichtbar

Das Virus erweist sich als Stunde der Wahr­heit: plötz­lich zeigt sich, wie groß die Ver­säum­nisse in der Gesund­heits­po­li­tik in den fetten Jahren waren, wie wenig die Öffent­lich­keit den Herr­schen­den ver­traut, wie künst­lich und der Wirk­lich­keit ent­rückt das Image Putins als Super­mann ist. In den kom­men­den Monaten wird sich zeigen, ob der Kreml in der Lage ist, eine Kata­stro­phe abzu­wen­den, ohne auf spru­delnde Roh­stoff­gel­der und äußere Feind­bil­der zurück­grei­fen zu können.

Es wird sich erwei­sen, wie groß die innen­po­li­ti­sche Resi­li­enz des Putin-Regimes ist. Wie in der UdSSR werden in Kri­sen­zei­ten die Bruch­stel­len beson­ders sicht­bar: soziale Ungleich­heit, Kor­rup­tion, Inkom­pe­tenz und eine feh­lende Kultur poli­ti­scher Ver­ant­wor­tung sowie die man­gel­hafte Gesund­heits­ver­sor­gung. Trotz dieser Pro­bleme sollte jedoch nicht über­se­hen werden, dass dem Regime große Res­sour­cen zur Ver­fü­gung stehen. Neben den finan­zi­el­len Rück­la­gen können ein enormer Staats­ap­pa­rat und ins­be­son­dere die Macht­mi­nis­te­rien mit ihrem Per­so­nal mobi­li­siert werden. In den kom­men­den Wochen hängt viel davon ab, ob und wie das gelingt. Russ­land hat eine lange Tra­di­tion gesell­schaft­li­cher Mobi­li­sie­rung in Kri­sen­zei­ten, die sicher auch jetzt zum Tragen kommen wird. Aber das man­gelnde Ver­trauen zwi­schen Staat und Gesell­schaft setzt dieser Mobil­ma­chung zugleich Grenzen.

Außen­po­li­tisch wird Russ­land – wie in den ver­gan­ge­nen Jahren – ver­su­chen, die west­li­chen Staaten und ihre Insti­tu­tio­nen zu unter­gra­ben. Die ver­meint­li­che Hilfe für Italien war hier nur ein erstes Bei­spiel. Weitere Atta­cken auf die Euro­päi­sche Union und ein­zelne Regie­run­gen werden folgen – ins­be­son­dere dort, wo sich Schwä­chen gezeigt haben. Die Krise ver­schärft in Europa nicht nur die sozia­len Span­nun­gen, sondern beför­dert auch den Ruf nach „ein­fa­chen Lösun­gen“ und erhöht die Reso­nanz für Ver­schwö­rungs­theo­rien. Diese Ten­den­zen weiß der Kreml zu bedienen.

Eine Chance für die Ukraine?

Doch zugleich wird Moskau mit seinen Res­sour­cen besser haus­hal­ten müssen. Globale Wirt­schafts­kri­sen treffen Russ­land, das für seinen Haus­halt auf den Verkauf von Öl und Gas ange­wie­sen ist, in der Regel beson­ders hart. Hier liegt eine Chance für west­li­che Politik. Bereits heute fällt es dem Kreml schwer, die erheb­li­chen Kosten für die frozen con­flicts im post-sowje­ti­schen Raum, die Besat­zung der Krim, die Kriege im Donbas und in Syrien sowie die Kon­flikte in Libyen und Vene­zuela zu stemmen. Das rus­si­sches Inter­esse an einem geräusch­lo­sen Rückzug aus einem oder meh­re­ren dieser Kon­flikte dürfte steigen. Da von den USA unter der Trump-Admi­nis­tra­tion wenig zu erwar­ten ist, wäre es klug, wenn hier Europa die Initia­tive ergreift.

Unter Umstän­den eröff­net das auch Chancen für die Ukraine. Mit euro­päi­scher Rücken­de­ckung könnte Kyjiw ver­su­chen, die Kri­sen­si­tua­tion zu seinen Gunsten zu nutzen. Das wird frei­lich nur möglich sein, wenn sich die Ukraine, Frank­reich und Deutsch­land eng abstim­men. Auch in den tur­bu­len­ten 1990er Jahren war Moskau gezwun­gen, zu ver­han­deln und Kom­pro­misse ein­zu­ge­hen. Damals gelang es den Euro­pä­ern, Ost­mit­tel­eu­ropa zu sta­bi­li­sie­ren. Nach sechs Jahren Krieg wären bereits kleine Fort­schritte für die Ukraine auf dem Weg nach Europa ein großer diplo­ma­ti­scher Erfolg.

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