Nawalny – der ernsthafteste Gegner des Kremls
Die Reaktionen des offiziellen Russland auf die Rückkehr von Oppositionsführer Alexej Nawalny zeugen davon, dass der Kreml in ihm eine potentielle Gefahr sieht. Internationale Kritik an der Verhaftung lässt er ungerührt abperlen – weil er darauf setzt, dass den Worten keine ernsten Taten folgen werden.
Wie nach seinem lebensrettenden Flug nach Deutschland versucht der Kreml auch jetzt wieder, Nawalny als ein politisches Nichts darzustellen. So behauptete Putins Pressesprecher Dmitri Peskow kurz nach Nawalnys Festnahme, er wisse nichts davon. Ob denn Nawalny in Deutschland festgenommen worden sei? Später bezeichnete er den Vorgang als innerrussische Angelegenheit. Es ginge um die Nicht-Befolgung von Regeln durch einen russischen Bürger. Mit dem russischen Präsidenten habe dies nichts zu tun. Behauptungen, dass irgendwer vor irgendwem Angst habe, seien „völliger Quatsch“.
Wie der russische Präsident selbst vermeidet es auch sein Sprecher krampfhaft, den Namen des prominenten Kritikers in den Mund zu nehmen. Bezug genommen wird etwa auf „diesen Herrn“, diese Figur“ und nach seiner Vergiftung auch auf den „Berliner Patienten“.
Einer öffentlichen Auseinandersetzung mit Nawalny und seinen Anhängern verweigert sich der Kreml konsequent. Stattdessen ist der angeblich irrelevante Nawalny bereits seit Jahren im Visier des russischen Geheimdiensts.
Auch seine Rückkehr nach Moskau führte zu einer groß angelegten Operation der Staatsorgane. Nawalnys Flugzeug wurde kurz vor der geplanten Landung auf dem Flughafen Wnukowo auf einen anderen Flughafen umgeleitet. Viele von Nawalnys Anhängern, die auf seine Ankunft warteten, wurden zeitweise in Gewahrsam genommen, mehrere Journalisten, die die Ankunft des Politikers begleiten wollten, zeitweise festgenommen oder an der Reise nach Moskau gehindert. Die Zufahrt zum Flughafen Scheremetjewo, an dem Nawalny dann tatsächlich landete, wurde teilweise gesperrt. Unmittelbar nach der Passkontrolle kam es zur Festnahme des Oppositionellen. Bereits am nächsten Tag ordnete ein Gericht in einem auf einer Polizeiwache improvisierten Gerichtsverfahren 30 Tage Haft wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen an.
Binnen zwei Wochen soll über den Widerruf der Bewährung verhandelt werden. Kommt es zum Widerruf, müsste Nawalny eine mehrjährige Haftstrafe verbüßen. Sie war nach einem Prozess verhängt worden, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als unfair und willkürlich gebrandmarkt hat.
Nawalny ist in mehrfacher Hinsicht der ernsthafteste Gegner des Kremls. Als Antikorruptionsaktivist legt er immer wieder offen, wie maßlos sich die Machthabenden in Russland bereichern. Damit hat er sich beträchtliche Popularität erworben – seine Videos werden millionenfach aufgerufen und geteilt. Nur 48 Stunden nach seiner Verhaftung ist das Ergebnis jüngster Recherchen des Nawalny-Teams wie eine Bombe eingeschlagen: Der zweistündige Film erhebt massive Korruptionsvorwürfe gegen Wladimir Putin. Im Zentrum steht ein pompöses Anwesen am Schwarzen Meer, das den Recherchen zufolge für den russischen Präsidenten durch Geschäftsleute aus seinem Freundeskreis finanziert wurde, Kostenpunkt über eine Milliarde Euro.
Auch politisch lässt Nawalny keine Möglichkeit aus, den Kreml und seine Partei „Geeintes Russland“ herauszufordern. Mit seiner „Smart Voting“-Kampagne versucht er der Kremlpartei möglichst viele Stimmen zu entziehen und alternative Kandidat/innen in Wahlämter zu bringen. Das hat ungeachtet aller Einschüchterungen, Hindernisse und Manipulationen bei den jüngsten regionalen Wahlen auch hier und da funktioniert.
Im September 2021 stehen in Russland die Duma-Wahlen bevor. Dabei sind nach allen Erfahrungen Manipulationen vor, während und nach der Wahl vorprogrammiert. Nawalnys Anhänger wollen um Mandate kämpfen. Massenproteste gegen offensichtliche Wahlfälschungen sind für den Kreml ein Schreckensszenario. Ein „Belarus-Szenario“ wollen sie mit allen Kräften verhindern. Deshalb auch die verschärfte Repression gegen NGOs und kritische Journalist/innen, die mit einer ganzen Serie von Gesetzen Anfang des Jahres in Gang gesetzt wurde. Die Techniker der Macht fürchten den Kontrollverlust über die Gesellschaft. Die hartnäckigen Proteste in Chabarowsk gegen die Absetzung des gewählten Gouverneurs lesen sie als Warnsignal.
Verbale Proteste aus dem Westen haben die russische Führung bisher nicht verunsichert. Selbstbewusst wies der russische Außenminister Lawrow sie zurück. Die Geschichte mit Nawalny habe auf eine „künstliche“ und „völlig unangemessene Weise“ eine außenpolitische Dimension angenommen. Der Westen brauche sie, um „von der tiefsten Krise abzulenken, in die das liberale Modell geraten ist“.
Die deutliche Kritik aus europäischen Hauptstädten an dem Mordanschlag auf Nawalny wie an seiner jüngsten Verhaftung war richtig und wichtig. Doch solange der Kreml sicher sein kann, dass es bei verbalen Protesten bleibt, wird sie keine nachhaltige Wirkung erzielen.
Dieser Artikel ist – in gekürzter Fassung – zuerst auf Karenina.de erschienen, der digitalen Plattform des Petersburger Dialogs.
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