Andrej Sacharow und die Ostpolitik
Andrej Sacharow ist ein Miterfinder der Ostpolitik, weil er die Unteilbarkeit von internationaler Politik und Menschenrechten formulierte. Allerdings aus dem Standpunkt, dass einem autoritären Staat wie der Sowjetunion nicht zu trauen sei, weil er Verträge nicht als einen Teil von Recht ansehen, und Recht fast ausschließlich als eine Variable von Macht betrachten, schreibt unser Kolumnist Jens Siegert.
Andrej Sacharow war ein Dissident. Dissident/innen gelten heute oft, im Rückblick, zwar als integer, politisch aber ein wenig naiv. Nach dem Ende der Sowjetunion und dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus in Europa machten nur wenige von ihnen politische Karriere. Besser: Ihre politischen Karrieren nach dem Ende der sozialistischen Diktaturen währten meist nur kurz. Etwa so lange, wie ihre damals zweifellose moralische Autorität gefragter war als das, was so schön selbstbestätigend Realpolitik genannt wird. Die meisten früheren Dissident/innen gerieten in Zentral- und Osteuropa bald in Vergessenheit oder in die politische Bedeutungslosigkeit. Maximal als Mahner/innen für Demokratie und Menschenrechte, also für alles Gute, fanden sie einen Platz unter neuen politischen Bedingungen, wenn sie also fortsetzten, wozu sie, nach Meinung vieler besonders qualifiziert waren. Die von Sacharow mitgegründete Menschenrechtsorganisation Memorial ist so ein Beispiel. Sie ist hochgeachtet, aber, so mein Verdacht, eben weil sie sich aus Politik als Auseinandersetzung um institutionelle Macht heraushält. Soweit meine (zugegebenermaßen etwas böse) Beschreibung dessen, was der politische Mainstream über Dissident/innen wie Sacharow denkt.
Selbstverständlich halte ich diese Auffassung für falsch, weil sie sträflich unterschätzt, was wir heute noch insbesondere von Andrej Sacharow lernen können. Denn wie Sergej Lukaschewski, der Direktor des Moskauer Sacharow-Zentrums, richtig schreibt: „Wenn man Sacharow aufmerksam liest, dann tritt hinter den idealistischen Formulierungen eine feste, konsequente und durchaus pragmatische Position hervor.“ Zuvorderst fallen mir dafür zwei sehr konkrete und höchst praktische Beispiel ein: die von Dissident/innen erfundene Sprache des Rechts und ein paar Regeln für eine Ostpolitik, die sich aus Sacharows Denken ableiten lassen.
Ab Mitte der 1960er Jahre, der Schock der blutigen Stalintyrannei hatte gerade begonnen langsam nachzulassen, wagten erstmals einige wenige Menschen wieder, ihre (abweichende) Meinung öffentlich zu äußern (weshalb man sie Dissidenten nannte). Das war eine buntgemischte Gruppe von Menschen: Künstler und Intellektuelle, Kommunisten und gläubige Christen, russische Nationalisten und solche, die die Unabhängigkeit ihrer als Sowjetrepubliken bezeichneten Heimatländer forderten. Die Dissident/innen verfielen auf einen einfachen, aber wirksamen Trick. Sie wandten sich an die kommunistische Führung ihres Landes, die ja behauptete, im Namen des Volkes und einer (volks-)demokratischen Verfassung zu regieren: Wir haben eine Verfassung. Wir haben Gesetze. Wir wollen ihnen nur zu ihrem Recht verhelfen. Vieles, was die Dissidenten also taten, war gemäß der sowjetischen Verfassung Stalins und ihrer Gesetze nicht nur nicht verboten, sondern ihr verbrieftes Recht. So entwickelten sie mit der Zeit eine „Sprache des Rechts“. Sacharow war einer von ihnen, wenn auch mit besonderem Status. Als (inoffizieller) Vater der sowjetischen Atombombe hatte er fraglose Autorität und eine gewisse Immunität gegen die hässlichsten Seiten der sowjetischen politischen Repression (weshalb er nur nach Gorki (das heute wieder Nischni Nowgorod heißt) in die Verbannung kam und nicht ins Straflager, in die Psychiatrie oder ins Exil, wie viele seiner Mitstreiter/innen.
Diese „Sprache des Rechts“, an deren Entwicklung Sacharow beteiligt war, war (und ist) keine naive Spinnerei einiger unverbesserlicher Idealist/innen. Sie war (und ist) ein sehr pragmatisches Instrument zur Durchsetzung eben dieses Rechts. Das liegt vor allem daran, dass sich Demokratie als wesentliche Legitimationsgrundlage politischer Herrschaft im 20. Jahrhundert weltweit durchgesetzt hat. Selbst autoritäre Herrschaft muss heute immer zumindest so tun als sei sie demokratisch legitimiert. Das war der Ansatzpunkt der Dissident/innen in der Sowjetunion. Die Sprache des Rechts wirkt auf drei Ebenen. Einmal durch den Bezug auf das kodifizierte Recht. Dadurch konnte selbst in der Sowjetunion staatliche Gewalt gegen Menschen mit abweichenden Meinungen mitunter (also zumindest in Einzelfällen) abgemildert werden. Zudem entwickelte sich durch die Arbeit der Dissident/innen auch in der Sowjetunion das Verständnis, dass individuelle (politische) Rechte nicht nur Dekoration sind. Das war eine sehr langsame Entwicklung, fast unmerklich sowohl für die Menschen im Land als auch von außen. Sie zeigte aber ihre ganze Stärke gut zwanzig Jahre nach den dissidentischen Anfängen in den 1960er Jahren als ihre Saat in der Perestroika aufging.
Allerdings gab es eine äußere Voraussetzung für das Wirken der Sprache des Rechts. Aber vielleicht ist Voraussetzung ein zu hartes Wort. Vielleicht sollte ich lieber von äußerer Unterstützung sprechen. Das war der reale und imaginäre Westen. Real, weil dort tatsächlich Recht weit mehr war als nur leere Worte, um die sich in der Praxis niemand kümmerte. Imaginär, weil die Vorstellungen von den westlichen Rechtsstaaten bei den Dissident/innen in der Sowjetunion (und durch sie bald auch in großen Teilen der Bevölkerung) doch ziemlich idealistisch waren. Das sollte sich später, als der Rechtsstaat im Prinzip auch in Russland Einzug hielt, in recht große Enttäuschung verwandeln.
Damit sind wir bei der Ostpolitik. Andrej Sacharow ist so etwas wie ihr (Mit-)Erfinder. Etwa zeitgleich mit Brandt, Bahr und anderen in Deutschland formulierte er die Unteilbarkeit von internationaler Politik und Menschenrechten. Allerdings von einem Standpunkt aus, den ich als realistisch oder gar realpolitisch bezeichnen würde. Diese Haltung galt zuvorderst dem eigenen Staat, der Sowjetunion gegenüber. Sacharow teilte mit vielen seiner Mitbürger/innen die Erfahrung, dass diesem, dass einem autoritären Staat nicht zu trauen sei. Anders ausgedrückt: Dass autoritäre Staaten nicht wirklich satisfaktionsfähig sind, da sie, systemimmanent, Verträge nicht als einen Teil von Recht ansehen, und Recht (fast ausschließlich) als eine Variable von Macht betrachten und behandeln.
Das war denjenigen, die in den 1960er und 1970er Jahren die Ostpolitik entwickelt haben, auch (noch) bewusst. Heute wird bei Diskussionen um eine neue Ostpolitik (was oft nicht mehr als eine Chiffre für Russlandpolitik ist) gern der Dialog, das Gesprächsangebot betont. Dahinter steht die These, Russland (oder zumindest die russische Führung) fühle sich bedrängt und müsse nur mit ausreichender Offenheit davon überzeugt werden, dass wir es gut meinen. Diese Sichtweise übersieht, dass die ursprüngliche Ostpolitik drei Voraussetzungen hatte. Nur eine von ihnen, die erste ging auf sowjetischen Befindlichkeiten ein: Die Bereitschaft zum Dialog war verbunden mit dem ausdrücklichen Verzicht auf gewaltsame Veränderung der sowjetischen Machtverhältnisse. Das war notwendig, um die sowjetische Führung überhaupt aus der Reserve zu locken. Die anderen beiden Voraussetzungen waren aber für den Erfolg der Ostpolitik mindestens ebenso wichtig. Das war zum einen die Überzeugung im Westen, dass das eigene politische System sowohl wirtschaftlich als auch (wichtiger!) moralisch überlegen ist. Diese Überzeugung machte den Westen auch in der Sowjetunion attraktiv. Auf sie bezog sich die dissidentische Sprache des Rechts. Die dritte Voraussetzung waren die Bereitschaft (und die durch die leistungsfähigere gestützte Fähigkeit), sich gegen den autoritären Gegner zur Not auch militärisch zu verteidigen.
Andrej Sacharow zog daraus noch weitere Schlüsse. Er war davon überzeugt, dass die Achtung der Menschenrechte untrennbar Bestandteil des internationalen Systems der Sicherheitspolitik müsse und er lehnte die These der sogenannten Realisten in den internationalen Beziehungen ab, Innen- und Außenpolitik nach getrennten Wertsystemen zu beurteilen. Auch aus dieser grundsätzlichen Erkenntnis unterstützte Sacharow das Jackson-Vanik-Amendment, die Urmutter westlicher Sanktionen gegen die Sowjetunion, in dem die USA das Emigrationsverbot für jüdische Sowjetbürger mit Handelsbeschränkungen ahndeten. Zweifellos wäre der sowjetische (und heute sicher russische) Patriot Sacharow für die gegenwärtigen Sanktionen der EU und der USA gegen Russland wegen der Krim-Annexion und des (nur wenig) verdeckten Kriegs gegen die Ukraine gewesen, um seinem Land aus dieser Sackgasse zu helfen.
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