Konfiszierung russischer Reserven: Too little but not too late
Rund 200 Milliarden Dollar russischen Zentralbankvermögens liegen bei Euroclear in Belgien. Die Ukraine und viele ihrer Verbündeten würden gerne darauf zugreifen, aber Skeptiker haben Zweifel an der Rechtmäßigkeit angemeldet. Der Freiburger Jurist Patrick Heinemann plädiert für ein schnellen und beherzten Zugriff.
Deutschland tut sehr viel. Aber eben nicht genug. Und allein darauf kommt es an. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik ist meisterhaft darin, sich selbst und ihren Partnern zu erklären, was vermeintlich alles nicht geht. Eigene Initiativen ergreift sie dagegen selten. Was für die Militärhilfen an die Ukraine gilt, greift umso mehr für den Umgang mit dem russischen Staatsvermögen. Auf Konten in den G7-Staaten liegen derzeit rund 300 Milliarden Euro an Währungsreserven, die der russischen Zentralbank gehören. Dieses Geld ist bereits seit rund zwei Jahren aufgrund von Sanktionen eingefroren, der Kreml hat darauf keinen Zugriff mehr. Der Löwenanteil, rund 200 Milliarden, liegt bei der Clearingstelle „Euroclear“ in Belgien.
Russland führt den Krieg mit dem Ziel, die Ukraine als Völkerrechtssubjekt auszulöschen
Nach den völkerrechtlichen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit schuldet die Russische Föderation der Ukraine schon jetzt Reparationen für die Schäden, die die russische Aggression verursacht. Diese Schäden belaufen sich nach einer Schätzung der Weltbank zum Stichtag 31. Dezember 2023 auf 486 Milliarden US-Dollar. Der Reparationsanspruch der Ukraine existiert bereits unabhängig davon, ob es hierüber später einmal zu speziellen Regelungen in einem Friedensvertrag mit der Russischen Föderation kommen sollte. Dafür ist derzeit auch überhaupt nichts ersichtlich: Russland führt den Krieg mit dem Ziel, die Ukraine als Völkerrechtssubjekt auszulöschen. Diesem Ziel rückt der Kreml aktuell wieder näher, weil die Unterstützung des Westens für den ukrainischen Freiheitskampf bislang nicht strategisch, also insbesondere nicht nachhaltig und langfristig angelegt ist. Ein Forum, vor dem die Ukraine ihren Anspruch geltend machen könnte, ist nicht ersichtlich. Insbesondere fällt der Weltsicherheitsrat, der etwa im Falle Kuwaits Reparationen durch den Irak in den frühen 1990ern autoritativ regelte, aufgrund des russischen Vetorechts aus. Wie so oft ist das Völkerrecht daher auch hier auf eine dezentrale Durchsetzung angewiesen, also im Verhältnis der Staaten untereinander. Dabei kommt es für das ukrainische Volk existentiell darauf an, dass ihr Anspruch bald und nicht bloß irgendwann realisiert wird. Justice denied is justice delayed heißt für die Ukraine schlimmstenfalls: to be or not to be.
Die rechtlichen Vorbehalte, die gegen eine Konfiskation des russischen Zentralbankvermögens vorgebracht werden, überzeugen im Ergebnis nicht. Immer wieder ist zu hören, der Westen poche auf eine regelbasierte Ordnung und könne daher nicht einfach selbst die Regeln brechen. Dieses vermeintliche Argument erklärt nicht, warum die Konfiskation des russischen Zentralbankvermögens unzulässig sein soll, sondern setzt das schlicht voraus. Im Ausgangspunkt sind souveräne Staaten in ihren Handlungsmöglichkeiten untereinander nur durch positive Verbote des Völkerrechts eingeschränkt und ansonsten grundsätzlich frei (Lotus-Prinzip). Die richtige Frage ist also nicht die nach der vermeintlich erforderlichen Rechtsgrundlage, sondern umgekehrt: Ist die Konfiskation verboten? Die Vorstellung, das russische Staatsvermögen sei sakrosankt und unantastbar, ist reichlich absurd: Immerhin hat der Westen es seit über zwei Jahren eingefroren. Ob der Grundsatz der Staatenimmunität, den die Assets der russischen Zentralbank genießen, nur vor judikativen und nicht vor legislativen Akten schützt, wird in der Völkerrechtslehre unterschiedlich beurteilt. Ohnehin gilt dieses Prinzip nicht absolut, gerade im Angesicht eines Aggressionsverbrechens. So haben führende internationale Völkerrechtlicher, darunter Christian J. Tams, der Deutschland vor dem IGH im Nicaragua Case vertritt, bereits in einem Gutachten dargelegt, dass eine Konfiskation zugunsten der Ukraine als zulässige Gegenmaßnahme völkerrechtlich sehr gut vertretbar ist. Die Völkerrechtler zeigen insbesondere, dass der Grundsatz, wonach Gegenmaßnahmen reversibel sein müssen, nicht absolut gilt. Ohnehin würde ein solcher Schritt lediglich bereits bestehende Schulden tilgen, so dass der Russischen Föderation hierdurch rechtlich gesehen in der Summe kein Schaden entstünde. Auch das deutsche Verfassungsrecht steht einer Konfiskation des Zentralbankvermögens nicht entgegen, insbesondere weil die Grundrechte des Grundgesetzes weder die russische Zentralbank noch den russischen Staat schützen.
Wer meint, es sei zulässig, Russland die Erträge seines Vermögens zu entziehen, muss erklären, warum man das gleiche nicht mit dem Vermögen selbst tun könnte
Viel spricht dafür, dass der Westen die Zulässigkeit dieser Maßnahme eigentlich längst mehr oder weniger anerkennt: So will die Europäische Union jetzt zumindest die Erträge, die das eingefrorene russische Staatsvermögen abwirft, der Ukraine zuwenden. Die Nutzungen eines Rechts stehen aber nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen dem Eigentümer grundsätzlich genauso zu wie das Eigentum selbst (Omnis fructus non iure seminis, sed iure soli percipitur, D. 22,1,25 pr.; siehe heute etwa § 953 BGB). Wer also meint, es sei völkerrechtlich zulässig, der Russischen Föderation die Erträge ihres Vermögens zu entziehen und der Ukraine zuzuwenden, muss erklären, warum man das gleiche nicht mit dem Vermögen selbst tun könnte. Am weitesten gediehen sind die Vorbereitungen hierfür in den Vereinigten Staaten: So beschloss der US-Kongress Ende April nicht nur Hilfen für die Ukraine in Höhe von rund 60 Milliarden US-Dollar, sondern schuf zugleich einen Mechanismus, der es dem US-Präsidenten erlaubt, die in den USA liegenden russischen Währungsreserven zu konfiszieren und einem Ukraine-Fonds zuzuwenden, dessen Mittel für den Wiederaufbau einzusetzen sind.
So entsteht der Eindruck, dass die juristischen Argumente lediglich vorgeschoben werden und sich die eigentlichen Sorgen der Bundesregierung auf die ökonomischen Folgen sowie die möglichen Reaktionen Russlands richten. Befürchtet wird insbesondere, dass andere Länder ihre Reserven aus westlichen Währungsräumen aus Angst vor weiteren Konfiskationen abziehen. Der ehemalige Weltbankchef Robert B. Zoellick etwa warnt jedoch schon länger davor, dieses Risiko überzubewerten. Denn nicht-westliche Währungen wie etwa der chinesische Yuan sind nicht annähernd so attraktiv: Fehlende Konvertibilität und staatliche Eingriffe machen sie als Währungsreserve ungeeignet. Handelt der Westen zudem geschlossen, sind auch Kapitalflüchte zwischen den verschiedenen westlichen Währungsräumen nicht zu befürchten.
Bleibt die Angst vor einer etwaigen russischen Reaktion: Hier lässt sich bereits die grundsätzliche Frage stellen, inwieweit diese handlungsleitend sein darf, will man dem Kreml nicht ständig das Heft des Handelns überlassen. Westliche Währungsreserven sind in Russland nicht vorhanden, so dass sich das dortige Regime allenfalls bei privaten westlichen Unternehmen bedienen könnte – was nach jeder vertretbaren Auffassung aus einer Vielzahl von Gründen rechtswidrig wäre. Außerdem enteignet der Kreml schon jetzt in großem Stil westliche Unternehmen.
Gäbe man Russland das eingefrorene Geld zurück, ließe man zudem jede Hoffnung fahren, den Kreml für sein Aggressionsverbrechen haftbar zu machen
Mehr als zweifelhaft ist schließlich, dass das eingefrorene Vermögen als Hebel dazu dienen könnte, Russland an den Verhandlungstisch zu bringen. Die russischen Währungsreserven sind bereits seit zwei Jahren eingefroren, ohne dass sich Russland ernsthaft verhandlungsbereit zeigt. Gäbe man Russland das eingefrorene Geld zurück, ließe man zudem jede Hoffnung fahren, den Kreml für sein Aggressionsverbrechen haftbar zu machen. Das wäre ein fatales Signal. Denn eine regelbasierte Ordnung verlangt das Gegenteil: Krieg darf sich nicht lohnen. Im Fokus der aktuellen Debatte steht die Idee, der Ukraine etwa 50 Milliarden Dollar zeitnah zur Verfügung zu stellen, und einen entsprechenden Kredit über die künftigen Erträge des in Belgien eingefrorenen Vermögens zu besichern.
Wie auch immer die Lösung aussieht: Kreativität und Legitimität sind gefragt. Deutschland sollte nicht länger auf der Bremse stehen, sondern sich mit eigenen Ideen in die Debatte einbringen.
Dr. Patrick Heinemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Sozietät Bender Harrer Krevet in Freiburg im Breisgau. Er ist Reserveoffizier und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht. Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth promovierte ihn 2016 über seine Rechtsgeschichte der Reichswehr von 1918 bis 1933, die mehrere Auszeichnungen erhielt.
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