Geschichtspolitik: Russlands autoritäre Meistererzählung

Über die Brüche und Revolutionen hinweg entstand die autoritäre Meistererzählung von einem Russland, das sämtliche Bewährungsproben übersteht, weil in ihm Gewalt mehr gilt als Recht. Sie soll die Russen verführen, auf ein Reich stolz zu sein, das ihnen seit Jahrhunderten die Bürgerrechte verweigert. Unter Putin wird die Geschichte nun auch zur Waffe in der Außenpolitik.
Die Sowjetunion war eine geschichtspolitische Großmacht. Als gläubige Marxisten war für die Bolschewiki die Geschichte der Klassenkämpfe und die Verortung der eigenen Partei in der Heilsgeschichte des Proletariats von herausragender Bedeutung. Auch als das Gewicht des Marxismus abnahm, zog das Regime einen großen Teil seiner Legitimation aus der eigenen Geschichte. Kurz gesagt: in der kommunistischen Diktatur war die Geschichtswissenschaft stets Legitimationswissenschaft. Die großen Meistererzählungen wurden seit Stalins „Kurzem Lehrgang der Geschichte der KPdSU“ von den Machthabern geschrieben und überwacht. Bis hinunter in die Provinzen des Imperiums wurde das weite historische Feld engmaschig kontrolliert. Die Bewirtschaftung des gesamten öffentlichen Raumes verfolgte das Ziel, eine einheitliche Repräsentation der eigenen Geschichte zu gewährleisten. So war der sowjetische Machtbereich auch eine gigantische historische Fassade, die vor einem Abgrund politischer Verbrechen errichtet wurde.
Über Jahrzehnte hatte das Wissen um die sowjetische Geschichte jenseits der parteistaatlichen Erzählungen den Status eines Staatsgeheimnisses. Nur wenige Eingeweihte, verborgen im Arkanum der Macht, hatten Zugang zu den Archiven. Sie hüteten einen Wissensschatz, der niemals öffentlich werden durfte. Als während der Perestrojka die Türen zu den Archiven geöffnet wurden, erschütterte jede Enthüllung der historischen Wahrheit umgehend die Legitimation des Regimes. Zum Ende der sowjetischen Herrschaft setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Oktoberrevolution nicht den Beginn eines Triumphzuges markierte, sondern den Ausgangspunkt zu einer beispiellosen Serie politischer Verbrechen, die Millionen das Leben kostete. Deshalb betrachtet man die sowjetische Geschichte außerhalb Russlands mittlerweile als Zeit der „Okkupation“ –man ist dort nicht mehr bereit, die Verantwortung für die kommunistische Herrschaft zu teilen.
Putin strickt Nationalerzählung aus dem Zweiten Weltkrieg
Russland hat sich für einen anderen Umgang mit der eigenen Vergangenheit entschlossen. Bereits zu Beginn der 1990er Jahre wurde deutlich, dass die Zeit der Aufarbeitung sowjetischer Verbrechen zu Ende ging. Schnell erlahmte das Interesse an der Auseinandersetzung mit einer toxischen Vergangenheit. Kaum jemand wollte erfahren, wie der Fleischwolf genau funktionierte, durch den die russische Gesellschaft für Jahrzehnte gedreht wurde. Die Verstrickungen waren komplex. In derselben Familie konnte es Täter und Opfer geben, die eigene Biographie konnte zugleich die eines Täters und Opfers sein. Deshalb fokussierte sich die staatliche Geschichtspolitik bereits unter Boris Jelzin auf das eine Ereignis, im dem die Rollen klar verteilt schienen: der Zweite Weltkrieg oder in sowjetischer Diktion, der „Große Vaterländische Krieg“. Hier gab es Invasoren und Befreier, Verteidiger der Heimat kämpften gegen ruchlose Kriegsverbrecher. Außerdem verschwand hinter dem Heroismus der Terror der dreißiger Jahre, durch den die sowjetische Gesellschaft atomisiert worden war. In ungewissen Zeiten stiftete die Erinnerung an Krieg und Sieg Gemeinschaft.
Im ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft folgte Wladimir Putin den geschichtspolitischen Weichenstellungen, die unter seinem Vorgänger Jelzin getroffen wurden. Auch sein Regime setzte auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ als national-imperialen Erinnerungsort. Unter Putin avancierten die Feiern des Sieges von 1945 zu einer der Säulen des Regimes. Für die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt, für sowjetische Kriegsverbrechen oder die gewaltsame Sowjetisierung Osteuropas war im offiziellen Geschichtsbild kein Platz. Die Besinnung auf eine große militärische Vergangenheit beschränkte sich jedoch nicht auf den Weltkrieg: in einer neuen Meistererzählung betonte die Geschichtspolitik die Stärke und imperiale Größe Russlands. Über die Brüche und Revolutionen hinweg entstand das Bild eines Staates, der sämtliche Bewährungsproben überstand, weil in ihm Macht mehr galt als Recht. Die Russen sollten stolz sein auf ein Reich, das ihnen über Jahrhunderte Freiheit und Würde verweigerte, aber Ruhm und Ehre versprach. Damit grenzte sich das Regime auch von westlichen Narrativen ab, in denen die Erinnerung an Weltkrieg und Holocaust als Verpflichtung zum Einsatz für offene Gesellschaften und Menschenrechte begriffen wird. Schließlich hatte Putins Siegeskult eine weitere Konsequenz: Er ging einher mit der partiellen Rehabilitierung Joseph Stalins, dessen Terrorherrschaft erneut durch den Sieg über Hitler legitimiert wurde.
Wer das offizielle Geschichtsbild ablehnt, steht außerhalb der Nation
Die Geschichtspolitik Putins hatte zunächst primär innenpolitische Bedeutung. Die Legitimität der russischen Großmacht sollte wiederhergestellt werden. Dabei galt es, die Sonderstellung Russlands in Europa und der Welt herauszustellen. Im Rückgriff auf historische Größe sollte nicht nur Selbstbewusstsein, sondern nationales Sonderbewusstsein gestiftet und gepflegt werden. Wie die Sowjetunion oder das Zarenreich war auch Russland nicht nur ein weiterer europäischer Staat, sondern ein Imperium ersten Ranges, das seine eigenen Bürger schützen und seine Nachbarn von der Tyrannei erlösen konnte. Das neue Dogma lautete: Russische Geschichte sei zwar voller Tragik, aber letztlich nicht nur eine Helden‑, sondern eine Heilsgeschichte. Russlands Bevölkerung sollte stolz und dankbar sein, selbst wenn sie immer wieder Opfer bringen musste. Um diese Erzählung zu verbreiten, brauchte das Regime keine Geschichtswissenschaft. Im Unterschied zur Sowjetunion, die stets darauf beharrte, dass sie eine wissenschaftliche Alternative zur westlichen Sicht bot, benötigt die Regierung Putins keine Historiker. Es genügen die kontrollierten Massenmedien, die Schulen und die großen Inszenierungen an den nationalen Feiertagen. Schließlich geht es nicht um Fakten, auch nicht um Interpretationen, sondern um Emotionen und Loyalität. Wer in Russland das offizielle Geschichtsbild ablehnt, steht außerhalb der Nation.
Seit der Annexion der Krim und dem anschließenden Einmarsch in die Ukraine im Frühjahr 2014 hat eine neue Phase der Herrschaft Putins begonnen. Da die Verteilung materieller Ressourcen an ökonomische Grenzen stieß, legitimieren sich sein Regime nun primär durch außenpolitische Konflikte. Die Aggression gegen die Ukraine wurde von Beginn an auch geschichtspolitisch legitimiert: die russischen Medien stellten sie in die Tradition des „antifaschistischen“ Kampfes von 1941–45 und bezeichneten ihre ukrainischen Gegner als „faschistische Junta“. Damit griff Moskau auf Begriffe aus seinem geschichtspolitischen Arsenal zurück, um den Angriff auf ein friedliches Nachbarland zu rechtfertigen. Spätestens 2014 wurde die Geschichtspolitik damit in den Dienst der russischen Diplomatie gestellt. Neben die innenpolitische Dimension trat nun die Rechtfertigung außenpolitischer Aggression durch historische Narrative.
Autoritäre Tradition
Worin unterscheidet sich die Gegenwart von der sowjetischen Epoche? Innovativ sind weniger die Erzählungen des Kremls, die oft ältere sowjetische Topoi kombinieren und Tabus reaktivieren, sondern die eingesetzten Mittel. Von den Massenmedien wie RT, über die sozialen Netzwerke mit ihren Trollfabriken, bis hin zu den Würdenträgern der russischen Diplomatie wird alles in den Dienst des Staates gestellt. Es gibt eine breite Front realer und virtueller Geschichtsarbeiter, die von anonymen Hackern bis zum Präsidenten reicht. Dies wirft zugleich die Frage auf, wie die Adressaten auf die multiplen Angriffe reagieren sollen.
Putins persönlicher Einsatz für die russische Geschichtspolitik verdeutlicht die zentrale Bedeutung dieser Narrative für seine Herrschaft. Er inszeniert sich als Erbe der heldenhaften Kriegsgeneration. Der russische Präsident begreift sich als starker Herrscher, der in der autokratischen Tradition seines Landes verwurzelt ist. Letztlich agiert Putin in der Geschichtspolitik ähnlich wie in anderen Politikfeldern: autoritär, aggressiv, selbstgerecht und ohne Respekt für etablierte Regeln. Putin betont die russische Souveränität über die eigene Geschichte und aufgrund seiner Machtfülle bedeutet dies letztlich, dass er persönlich entscheidet, was richtig und was falsch ist. Seit Stalins „Kurzem Lehrgang“ hat kein russischer Herrscher mehr diese Deutungshoheit für sich beansprucht.
Geschichte als außenpolitische Waffe
Im Russland der Gegenwart gibt es weiterhin Historikerinnen und Historiker, die hervorragend arbeiten. Sie dürfen, im Unterscheid zur sowjetischen Epoche, sogar weitgehend unbehelligt ihre Forschungen veröffentlichen und ins Ausland reisen. Doch dies ist kein Ausdruck der Freiheit der Wissenschaft, sondern ihrer erfolgreichen Marginalisierung. Es ist ein aussichtsloses Unterfangen gegen die mediale Maschinerie des Leviathans anzuschreiben. Selbstverständlich weiß der Kreml, dass seine europäischen Nachbarn die russischen Narrative über den Welt- oder Ukrainekrieg nicht übernehmen werden. Das ist vermutlich auch gar nicht das Ziel. Die Aufgaben der professionellen Geschichtsarbeiter des Kreml sind: Verwirrung zu stiften, Empörung auszulösen, etablierte Gewissheiten immer wieder zu erschüttern, den common sense zu unterminieren und dies so lange zu tun, bis wir des Widerspruchs müde werden, die Zweifel sich verstärken und die westlichen Medien die russische Meistererzählung als eine mögliche Variante historischen Denkens über den Zweiten Weltkrieg oder die Ukraine akzeptieren. Im Zeitalter der Diversität forciert Russland ein Narrativ, das die Identität seines Staates, die Wahrheit seiner herrschenden Gruppe stützt. Und der Kreml wird behaupten, dass er damit nur das tut, was seine Gegner auch tun.
In den Monaten vor dem 75. Jahrestag des Sieges am 9. Mai wird die geschichtspolitische Offensive Moskaus voraussichtlich weitergehen. Einen Vorgeschmack auf das, was kommen mag, lieferte die Gedenkveranstaltung zur Befreiung von Ausschwitz in Yad Vashem. Dort nannte Vladimir Putin den Holocaust in einem Atemzug mit der Blockade von Leningrad. Während er seine osteuropäischen Nachbarn als Kollaborateure der Nazis denunziert und von ihnen zugleich Dankbarkeit für die „Befreiung vom Faschismus“ fordert, reklamierte der russische Präsident für die russischen Opfer einen äquivalenten Platz im internationalen Gedenken wie er den Toten der Shoah zusteht. Putins Auftritt in Yad Vashem war ein weiterer Höhepunkt seiner geschichtspolitischen Offensive und steht im Zusammenhang mit anderen Versuchen Moskaus, seine historische Sonderrolle als europäische Großmacht zu legitimieren. Offenkundig fühlt er sich nicht mehr an den Minimalkonsens der europäischen Geschichtskultur – Frieden, Versöhnung und Sicherheit auch für kleine Nationen – gebunden. Am Ende geht es dem Kreml nicht nur darum, die Teilung Osteuropas 1939 oder die Ordnung von Jalta 1945 zu rechtfertigen, sondern zu zeigen, dass es Russlands historisches Recht ist, eine Einflusssphäre in Osteuropa zu beanspruchen, in der fremde Mächte wie die USA oder die EU nicht intervenieren dürfen. Die „kleinen grünen Männer“ auf der Krim waren eine Waffe im Kampf um diese Sphäre, die Geschichtspolitik dieser Tage ist eine andere.
In seinen zahlreichen Facetten – die Geschichtspolitik ist nur ein Aspekt – bleibt der aggressive Revisionismus des Kreml die größte diplomatische Herausforderung, mit der die Europäische Union konfrontiert ist.
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