Der Win-win-Kon­flikt

© Shut­ter­stock

Belarus und Russ­land über­zie­hen sich mit Pro­vo­ka­tio­nen. Aber ist der Kon­flikt echt? Oder handelt es sich um einen großen Bluff, der sowohl Aljaksandr Lukaschenka als auch Wla­di­mir Putin in die Hände spielt?

Minsk und Moskau sind wieder im Streit und über­zie­hen sich nun bereits seit meh­re­ren Wochen mit For­de­run­gen. Die stärkste Waffe des Kreml ist Ros­sel­chos­n­ad­sor, der Dienst für Vete­ri­när- und Phy­to­sa­ni­tär­auf­sicht. Dieses Mal hat der Dienst im April die Einfuhr bela­rus­si­scher Äpfel und Birnen nach Russ­land ver­bo­ten. Anlass war die Fest­set­zung von 36 LKWs mit Lebens­mit­teln, die die Grenze ohne Papiere und ohne Zoll pas­siert hatten. Der bela­rus­si­sche Prä­si­dent Aljaksandr Lukaschenka reagierte emotional. 

Portrait von Oxana Shevelkova

Oxana She­vel­kova ist freie Jour­na­lis­tin und derzeit Fellow bei Libmod.

Er erklärte, der öst­li­che Nachbar sei dreist gewor­den und gab die Anwei­sung, auf die Inter­es­sen Russ­lands keine Rück­sicht zu nehmen und, falls not­wen­dig, die Tran­sit­pipe­lines für Öl und Ölpro­dukte, die durch das Land ver­lau­fen, in den Repa­ra­tur­mo­dus zu ver­set­zen. Russ­land ver­haf­tete Alexej Chotin, einen Geschäfts­mann bela­rus­si­scher Her­kunft und Haupt­ei­gen­tü­mer der Bank Jugra. Belarus beschul­digte Russ­land, min­der­wer­ti­ges Erdöl zu liefern und bezif­ferte die Ver­luste auf 100 Mil­lio­nen US-Dollar. Die rus­si­sche Seite räumte das Problem ein (aller­dings nicht die Höhe der Scha­dens­summe) und traf Maß­nah­men zur Behe­bung der Mängel.

Auf den ersten Blick scheint es, als würde es einen Schlag­ab­tausch zwi­schen beiden Seiten geben. Der Kreml übt Druck auf Lukaschenka aus, um ihn zu einer ver­tief­ten Inte­gra­tion zu bewegen. Dieser wie­derum wehrt sich und ver­tei­digt die Unab­hän­gig­keit. Schließ­lich besteht eine der Mög­lich­kei­ten Wla­di­mir Putins, auch nach 2024 an der Macht zu bleiben, darin, dann einen ver­ein­ten Staat von Russ­land und Belarus anzuführen.

Der Kreml will ein Sze­na­rio wie in der Ukraine vermeiden

Zunächst müssen Lukaschenka und auch Putin aber die Pro­bleme der näheren Zukunft lösen. Bis zum 30. August 2020 muss die Wahl des Staats­ober­haupts von Belarus statt­fin­den, und 2019 stehen die Par­la­ments­wah­len an.

Lukaschen­kas Ziele sind klar: Ein Sieg bei den Wahlen und deren Aner­ken­nung durch den Westen bei gerin­gen Pro­tes­ten der Bevöl­ke­rung. Welche Ziele hat aber Russ­land? Der Kreml will ein Sze­na­rio wie in der Ukraine ver­mei­den: Es darf keinen Sieg eines Oppo­si­ti­ons­kan­di­da­ten geben, der eine Inte­gra­tion mit dem Westen befür­wor­tet. Über einen eigenen Kan­di­da­ten, der eine Alter­na­tive zu Lukaschenka wäre und Sieg­chan­cen hätte, verfügt Moskau nicht. Oder noch nicht. Also sieht es so aus, als ob Moskaus Ziele deckungs­gleich mit Minsks Zielen wären: nämlich ein Sieg Lukaschen­kas. Und dann, wenn 2024 näher rückt: feil­schen, drohen, ver­han­deln, und schließ­lich kaufen und schmieren.

Der ver­haf­tete Chotin könnte in diesem Fall als Geisel ein­ge­setzt werden. Bislang muten die Dro­hun­gen wie ein Bluff von Luka­schenka und Putin an, der dafür sorgen soll, Luka­schen­ka als Ver­tei­di­ger der bela­rus­si­schen Unab­hän­gig­keit zu insze­nie­ren. Als Kan­di­dat, der in der Lage wäre, mit Russ­land über­ein­zu­kom­men. Dieses Spiel kann natür­lich nicht darüber hin­weg­täu­schen, dass zwi­schen den beiden Regie­ren­den ernste Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten bestehen.

Lukaschenka spielt der angeb­li­che Kon­flikt mit Russ­land in die Hände

Lukaschenka, der seit 25 Jahren an der Macht ist und auf eine sechste Amts­zeit zusteu­ert, möchte aller­dings kei­nes­wegs das Schick­sal vieler anderer Dik­ta­to­ren teilen, die auf­grund von Pro­tes­ten der Bevöl­ke­rung frei­wil­lig oder gegen ihren Willen abtra­ten. Alge­rien, Sudan und Vene­zuela sind nur die jüngs­ten Bei­spiele. Daher ist in Belarus 2019 eine Anhe­bung der Gehäl­ter im öffent­li­chen Dienst und eine Ren­ten­er­hö­hung geplant. Dabei spielt Lukaschenka der angeb­li­che Kon­flikt mit Russ­land in die Hände.

In Belarus ist, anders als in Russ­land, eine Akzent­ver­schie­bung möglich. Im Falle eines ver­lang­sam­ten Wirt­schafts­wachs­tums und einer Ver­schlech­te­rung der sozia­len Lage der Bevöl­ke­rung läge die Schuld nicht oder nicht so sehr bei Lukaschenka, sondern eher beim, so Lukaschenka, „dreist gewor­de­nen Nachbarn“.

Zum einen betrug das Wachs­tum der bela­rus­si­schen Wirt­schaft 2018 rund drei Prozent, das Real­ein­kom­men der Bevöl­ke­rung stieg mit Hilfe admi­nis­tra­ti­ver Res­sour­cen um 11,6 Prozent. Das sind die offi­zi­el­len Daten. Den Angaben der Unab­hän­gi­gen Gewerk­schaft der Arbei­ter der radio­elek­tro­ni­schen Indus­trie (REP) zufolge beträgt der Durch­schnitts­lohn der Arbei­ter in den Regio­nen umge­rech­net 150 bis 200 US-Dollar, was erheb­lich unter den von Lukaschenka ver­spro­che­nen 500 US-Dollar Durch­schnitts­lohn liegt. Es besteht eine hohe Wahr­schein­lich­keit, dass sich die wirt­schaft­li­che Situa­tion ändern wird, und es ist vollauf möglich, dass die Bevöl­ke­rung diese Ver­än­de­run­gen nicht gut­hei­ßen wird. Das Wirt­schafts­wachs­tum hat sich bereits ver­lang­samt (in den ersten beiden Monaten 2019 ist das Wachs­tum des BIP auf 0,8 Prozent abge­sun­ken), und es wird immer schwie­ri­ger werden, selbst das bestehende Lohn­ni­veau auf­recht zu erhalten.

Pro­teste wie 2017 hat es in Belarus nicht einmal zu Zeiten der Pere­stroika gegeben

Einer der Gründe für die Ver­schlech­te­rung der bela­rus­si­schen Wirt­schafts­lage hat seinen Ursprung tat­säch­lich in Russ­land. Im April 2017 haben die Regie­run­gen der beiden Länder das Volumen der zoll­freien Öllie­fe­run­gen aus Russ­land für die Jahre 2017 bis 2024 auf 24 Mil­lio­nen Tonnen pro Jahr fest­ge­legt. Dadurch kann die bela­rus­si­sche Seite in ihrem Haus­halt Export­ge­büh­ren für sechs Mil­lio­nen Tonnen ver­bu­chen (durch die soge­nannte Umver­zol­lung), und zwar auf die Dif­fe­renz zwi­schen dem ver­ein­bar­ten Lie­fer­vo­lu­men und den tat­säch­li­chen Impor­ten nach Belarus, die zur Ver­ar­bei­tung bestimmt sind (in Belarus gibt es zwei große Raf­fi­ne­rien, in denen rus­si­sches Erdöl ver­ar­bei­tet wird).

2019 aller­dings setzte die rus­si­sche Regie­rung das „Steu­er­ma­nö­ver“ in Gang, das in einer schritt­wei­sen Abschaf­fung der Export­ge­büh­ren auf Erdöl und Erd­öl­pro­dukte bestand, bei gleich­zei­ti­ger Erhö­hung der För­der­steuer auf Boden­schätze. Nach Schät­zun­gen des bela­rus­si­schen Finanz­mi­nis­te­ri­ums dürften die Ein­nah­me­aus­fälle des bela­rus­si­schen Haus­hal­tes auf­grund des Rück­gangs der Export­ge­büh­ren und der geplan­ten Redu­zie­rung der Abga­be­sätze auf Ölpro­dukte rund 300 Mil­lio­nen US-Dollar betra­gen. Darüber hinaus führt das „Steu­er­ma­nö­ver“ zu einer Ver­teue­rung des Erdöls für Belarus. Eine mög­li­che Kom­pen­sa­tion wegen des „Steu­er­ma­nö­vers“ ist eine der Fragen, um die Lukaschenka und Putin feil­schen, wie auch die Gewäh­rung eines rus­si­schen Kredits über 600 Mil­lio­nen US-Dollar an Minsk.

Es ist prak­tisch unmög­lich her­aus­zu­fin­den, inwie­weit die Bürger in Belarus Lukaschenka ver­trauen. Die Sozio­lo­gie steht unter der völ­li­gen Kon­trolle des Staates und seiner Sicher­heits­be­hör­den. Es exis­tie­ren Studien und Umfra­gen, die zeigen, wie sich das Ver­trauen in die Regie­rung, in das Par­la­ment, in die lokale Ver­wal­tung und in die Oppo­si­tion ent­wi­ckelt. Es gibt aber kei­ner­lei Daten, die etwas über die Popu­la­ri­tät des Prä­si­den­ten aus­sa­gen. Es lassen sich Daten des Unab­hän­gi­gen Insti­tuts für sozio­öko­no­mi­sche und poli­ti­sche Studien (NISEPI) finden, des ältes­ten unab­hän­gi­gen For­schungs­zen­trums in Belarus, das gegen­wär­tig als gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tion in Litauen regis­triert ist. Diesen Daten zufolge lag die Wäh­ler­un­ter­stüt­zung für Lukaschenka 2016 bei 29,5 Prozent. Exper­ten haben aber selbst diese Werte für zu hoch befun­den. 2017 wurde Belarus von Mas­sen­pro­tes­ten der Bevöl­ke­rung erfasst, die sich gegen Lukaschen­kas soge­nann­tes Dekret Nummer drei über das „Sozi­al­schma­rot­zer­tum“ rich­te­ten. Diesem zufolge hätten Arbeits­lose dem Staat jähr­lich zwi­schen 300 und 400 US-Dollar zahlen sollen. An den Pro­tes­ten, die in über 20 Städten unter der Parole „Nein zum Dekret Nummer drei – Lukaschenka, geh!“ statt­fan­den, betei­lig­ten sich vor allem Men­schen, die früher zur Wäh­ler­schaft von Lukaschenka gehört hatten. Solche Pro­teste hatte es in Belarus nicht einmal zu Zeiten der Pere­stroika gegeben.

Der Kreml leistet dem neuen Image von Lukaschenka Vorschub

Lukaschen­kas alte Parole „Gemein­sam für ein starkes und blü­hen­des Belarus“ funk­tio­niert schon nicht mehr, wie auch kaum jemand noch eine seiner Parolen glaubt. Es gibt prak­tisch kaum eine Mög­lich­keit, das Ver­trauen mit Hilfe der Innen­po­li­tik wie­der­her­zu­stel­len. Daher wird jetzt vor den Wahlen ein neues Image des Prä­si­den­ten auf­ge­baut, das eines Ver­tei­di­gers der Sou­ve­rä­ni­tät und der natio­na­len Iden­ti­tät, der sich gegen den „dreis­ten Nach­barn“ zur Wehr setzt, und der sich wirt­schaft­li­che und poli­ti­sche Vor­zugs­be­din­gun­gen her­aus­schlägt. Und der Kreml leistet dem auf jede erdenk­li­che Weise Vor­schub, indem er für zusätz­li­che Kon­fron­ta­tio­nen sorgt. Weil der Kreml und Lukaschenka bei den nächs­ten Wahlen einen Sieg brau­chen, um danach erneut in Ver­hand­lung über den Uni­ons­staat zu gehen.

Sowohl in Minsk als auch in Moskau ist man sich drüber im Klaren, dass dies wegen der wirt­schaft­li­chen Pro­bleme in Belarus und der ent­spre­chen­den gerin­gen Popu­la­ri­tät Lukaschen­kas nur sehr schwer zu errei­chen sein wird. Nach Angaben inter­na­tio­na­ler Beob­ach­ter kann Lukaschenka die Wahlen nur mit Hilfe mas­si­ver Fäl­schung der Wahl­er­geb­nisse und mas­si­ven Repres­sio­nen „gewin­nen“. Bereits 2010 hatte Lukaschenka nach Ein­schät­zung inter­na­tio­na­ler Beob­ach­ter die Wahlen ver­lo­ren. Das haben die Außen­mi­nis­ter Deutsch­lands, Schwe­dens, Tsche­chi­ens und Polens in ihrem gemein­sa­men Artikel Luka­shenko the Loser in der New York Times ange­spro­chen. Um sich an der Macht zu halten, hat Lukaschenka sei­ner­zeit über 1000 Men­schen ins Gefäng­nis geschickt, unter anderem acht der neun alter­na­ti­ven Präsidentschaftskandidaten.

Ange­sichts des Umstan­des, dass Lukaschenka bei den Bela­rus­sen höchst unpo­pu­lär ist, erör­tert Moskau mit dem bela­rus­si­schen Prä­si­den­ten die Reser­ve­va­ri­ante mit dem Arbeits­ti­tel „Nach­fol­ger“. Das könnte Viktor Lukaschenka sein, der ältere Sohn des Prä­si­den­ten, der offi­zi­ell Sicher­heits­be­ra­ter des Prä­si­den­ten ist. Dass eine solche Vari­ante nicht aus­ge­schlos­sen ist, belegt der Besuch Viktor Lukaschen­kas in Tsche­tsche­nien und sein Treffen mit dem tsche­tsche­ni­schen Prä­si­den­ten Ramsan Kadyrow. Vor Kurzem erhielt Viktor Lukaschenka zudem einen neuen Posten. Er wurde Vize­prä­si­dent des Natio­na­len Olym­pi­schen Komi­tees. Bekann­ter­ma­ßen ist es in Belarus ver­bo­ten, Leiter aller Art „Prä­si­dent“ zu nennen, mit Aus­nahme des Prä­si­den­ten des Natio­na­len Olym­pi­schen Komi­tees und des Prä­si­den­ten des Landes. Diese Ämter hat beide Aljaksandr Lukaschenka inne. Somit kann die Ernen­nung des älteren Sohnes zum Vize­prä­si­den­ten des NOK als Schritt betrach­tet werden, die Öffent­lich­keit darauf vor­zu­be­rei­ten, dass sein Sohn der Amts­nach­fol­ger wird.

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