Mittäter oder Trittbrettfahrer? Moskaus Rolle in der Migrationskrise an Europas Ostgrenze
Russland gibt Studentenvisa an Flüchtende, lässt sie auf seinen Flughäfen in Richtung Minsk umsteigen und steht dem belarusischen Diktator Lukaschenka bei. Zieht Moskau im Hintergrund die Strippen?
So mancher Geflüchteter, der dem Höllenstreifen zwischen Belarus und Polen entkommen ist auf seinem langen Weg auf der Suche nach einem besseren Leben, erzählt Menschenrechtlern und Journalisten in Polen über die Details dieses Weges. Dabei fallen auch Wörter wie „russisches Studentenvisum“. Oder „Zwischenlandung in Moskau“. Ist Russland Mittäter im menschenverachtenden Spiel von Machthaber Aljaksandr Lukaschenka, um Europa an seinen Grenzen vorzuführen?
Die polnische Regierung sagt ganz klar: Ja! Russlands Präsident Wladimir Putin stecke hinter der eskalierenden Migrationskrise an der EU-Ostgrenze. Moskau weist solche Vorwürfe selbstredend von sich, wie es jede Verantwortung an Menschenrechtsverletzungen, ob innerhalb oder außerhalb Russlands, stets von sich weist. Die Verantwortung für das Leid an der polnisch-belarussischen Grenze sieht Moskau beim Westen. Dieser habe schließlich die Lebensgrundlagen der nun vor dem Stacheldraht stehenden Menschen in ihren Heimatorten zerstört, habe sie mit ihren verheißenden Aussagen vom schönen Leben in Europa gerufen. Nun solle der Westen zusehen, wie er all die Versprechen erfülle, sagte Außenminister Sergei Lawrow sinngemäß am 9. November. Seine Sprecherin Maria Sacharowa sprach gar von einer „Informationskampagne“ des Westens gegen Russland, um von der eigenen Verantwortung abzulenken. Von Russlands Beteiligung oder gar Verantwortung für den Krieg in Syrien sagten beide kein Wort.
Das Druckmittel Migranten ist nicht neu
Dabei ist die Taktik, Migranten als Druckmittel zu nutzen, in Moskau gewiss nicht unbekannt. 2015/2016 ließ der Kreml offenbar gezielt Menschen aus Afghanistan und Zentralasien an die Grenzen zu Finnland und Norwegen reisen, um Druck im Streit um die Ukraine-Sanktionen auszuüben. Und bereits in den 1980er Jahren erlaubte die DDR gezielt Asylsuchenden aus aller Welt, über den Flughafen Schönefeld nach West-Berlin zu reisen – offenbar um Devisen einzunehmen und Westdeutschland zur Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft zu bewegen.
Belegen lässt sich die russische Beteiligung am Schleusersystem des belarusischen Diktators Lukaschenka aber nicht. Moskaus Unterstützung kann sich das Regime in Minsk aber jederzeit sicher sein. Immer wieder vergewissern sich beide Länder ihrer ähnlichen Werte beim Kampf gegen das „andere“, im Innern wie im Äußeren. Gegen den Westen. Beide pflegen ähnlich antiquierte Methoden, Menschen als Material zu betrachten und dabei nicht vor staatlicher Gewalt gegen seine Bürger zurückzuschrecken. Auch die Flüchtenden aus dem Irak, Syrien, Afghanistan, die derzeit in der Kälte bettelnd um Einlass nach Europa schreien, sind für Lukaschenka nur ein Mittel zum Zweck – um Europa zu erpressen, ihn als rechtmäßigen Präsidenten anzuerkennen, Geld für seinen Grenzschutz zu zahlen und die Sanktionen aufzuheben, die die Europäische Union nach der von Belarus erzwungenen Landung einer Ryanair-Maschine mit dem Regime-Kritiker Raman Protassewitsch gegen Minsk beschlossen hatte.
Geflüchtete als Geiseln des Diktators
Die Geflüchteten sind Lukaschenkas Pfand, um die EU an den Verhandlungstisch zu zwingen. Damit orientiert er sich am türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdogan, der 2015 ebenfalls mit Geflüchteten Druck auf die EU auszuüben wusste. Lukaschenkas Regime lockt die Flüchtenden, schubst sie regelrecht in den Grenzstreifen und hält sie dort fest. Sie sind Gefangene seiner perfiden Strategie, die Moskau mitträgt, mag es Lukaschenkas Verhalten oft erratisch finden und ihn selbst für einen nervigen, aber bauernschlauen Taktiker halten. Lukaschenka zündelt, Russland beschleunigt den Brand, indem er das Regime in Minsk hält, weil es damit eigene Interessen verfolgt.
Russlands Außenminister wiederholt Lukaschenkas Worte, dass die Verantwortlichen für die Krise im Westen zu suchen seien. Fast schon demonstrativ empfängt Sergej Lawrow seinen belarussischen Amtskollegen Wladimir Makei in Moskau. Über Belarus fliegen derweil russische Kampfflieger. Und bei Grodno – an der belarussisch-polnischen Grenze – hielten russische Fallschirmjäger offenbar eine Übung ab. Putin telefonierte in diesem diesen Monat bereits drei Mal mit Lukaschenka. In den Mitteilungen des Kremls fand sich danach kein Wort Kritik am Vorgehen der belarussischen Führung an der Grenze. Putin lässt Lukaschenka gewähren, wie er ihn auch hat gewähren lassen, als dieser nach der gefälschten Präsidentenwahl seine Schergen brutal gegen das eigene Volk vorgehen ließ.
Lukaschenka ist tief davon überzeugt, Russland mit seinem Vorgehen einen Dienst zu erweisen. „Minsk ist der Verteidiger Moskaus“, scheint er immer wieder zu rufen. Sein Narrativ: Die Nato stehe vor den Toren Belarus‘ und nutze den Migrantenansturm, um gegen Belarus und später gegen Russland vorzugehen. Belarus sei also eine Pufferzone für die Angriffe aus dem Westen auf Russland. Lukaschenka warnt vor Fehlern und Provokationen und verweist sogleich auf die Nuklearmacht Russland. Die Gefahr einer militärischen Eskalation wächst.
Integration Minsk-Moskau stockt immer noch
Nie werde es einen solchen antiwestlichen Machthaber wie ihn geben, betont er immer wieder gen Moskau. Also müsse Moskau ihn unterstützen – und dem Regime weiterhin mit finanzieller Hilfe beistehen. Dieser finanziellen Hilfe konnte sich Lukaschenka Jahr um Jahr sicher sein. Sie stützte die belarussische Elite. Seit mehr als zwei Jahrzehnten gibt es den Unionsstaat zwischen Belarus und Russland. Doch Papier ist geduldig und selbst die Anfang November von Moskau und Minsk bei den unterschriebenen 28 Programmen zu mehr Kooperation in den Bereichen Wirtschaft und Soziales bleibt weiterhin vieles vage. Unter Druck unterschrieb Lukaschenka das neue Dekret, zur Ausgestaltung größerer politischer Integration findet sich darin jedoch nichts. Der Machthaber aus Minsk versteht es weiterhin, den Kreml in diesem Punkt hinzuhalten. Dokumente zu weiterer finanziellen Unterstützung des belarussischen Regimes finden sich dabei aber auch nicht.
So geht der russische Politologe Andrej Susdalzew von der Moskauer Higher School of Economics im Gespräch mit dem unabhängigen russischen Online-TV-Sender „Doschd“ davon aus, dass Lukaschenka – aus Beleidigtsein über die fehlenden Gelder aus Moskau die Krise an der Grenze zur EU noch weiter angefacht habe. Minsk provoziere sowohl den Westen als auch Russland, sagte er. „Was für eine Integration, ich habe hier Krieg, rettet mich“, ruft der belarusische Machthaber laut Susdalzew in Richtung Moskau.
Für Moskau ist diese „Rettung“ nicht ohne Risiko. Zwar liegt die Ausschlachtung der Migrationskrise im Interesse der russischen Führung: So kann diese die europäische Schwäche und Uneinigkeit geradezu exemplarisch vorführen und das Feindbild Europa nach innen verstärken. Zudem genießt Moskau die Anerkennung seiner Macht im Westen. Wenn Angela Merkel bei Putin anruft und ihn bittet, auf den Machthaber in Minsk einzuwirken, kann er sie zwar darauf verweisen, selbst mit Minsk zu sprechen. Die ihm vom Westen zuerkannte Vermittlerrolle ist Putin dadurch aber gewiss.
Gefahr von Spannungen in Belarus wächst
Sollte Europa jedoch die Grenzen schließen, würde sich das auf die ohnehin schwache Wirtschaft Russlands auswirken. Waren nach Russland gelangen auf dem Landweg stets über Belarus. Die ohnehin derzeit höheren Preise im Land könnten weiter steigen, das birgt die Gefahr sozialer Spannungen. Auch in Belarus dürften diese wachsen. Das Land hat kaum Erfahrung mit Migranten aus anderen Kulturen. Szenen, die sich derzeit in der Minsker Innenstadt abspielen – mit protestierenden, kurdisch und arabisch sprechenden Familien vor Einkaufszentren und Sportstadien, mit Menschen, die mit Schlafsäcken in den Parks hausen – sind für die meisten Belarusen ungewohnt. Manche posten Videos von sich prügelnden Migranten in den sozialen Netzwerken, schreiben von der „Besatzung von Minsk“.
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