Die Offenbarung des Jewgeni Prigoschin
Während seiner Meuterei stellte der russische Söldnerführer die Kreml-Propaganda zur Rechtfertigung von Russlands Krieg gegen die Ukraine infrage. Er folgt damit einem Muster erhellender Statements russischer Imperialisten zu Putins Regime, schreibt Andreas Umland
Durch den Söldneraufstand in den Hintergrund gerückt wurde Prigoschins ausdrückliche Infragestellung einer zentralen Rechtfertigung des Kremls für den im Februar 2022 gestarteten Großangriff auf die Ukraine. Putin und russische Regierungsoffizielle haben immer wieder behauptet, dass Russlands Aggression ein Präventiv- und Verteidigungskrieg sei. Putins Behauptung, dass die NATO Russland bedrohe, wird auch von einigen westlichen Beobachtern als legitimes Argument betrachtet.
Im Gegensatz dazu verkündete Prigoschin in einer Videobotschaft am 23. Juni 2023 – kurz vor Beginn seines „Marsches für Gerechtigkeit“ auf Moskau: „Am 24. Februar 2022 war nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Das russische Verteidigungsministerium macht der Öffentlichkeit etwas vor, tut jetzt so, als ob die Ukraine sich wahnsinnig aggressiv verhalten hätte, als ob die Ukraine und die gesamte Nato uns angreifen wollten. Die Spezialoperation, die am 24. Februar begann, hat ganz andere Hintergründe.“
Im Weiteren attackierte Prigoschin die russische Militärführung. Diese habe auf einen schnellen Sieg in der Ukraine und auf anschließende Beförderungen gesetzt. Prigoschin erklärte unter anderem: „Wofür war der Krieg notwendig? Der Krieg fand dafür statt, dass ein Häufchen Miststücke einfach triumphiert, sich in der Öffentlichkeit präsentiert und zeigt, was es für eine starke Armee ist. Dafür, dass [der aus der südsibirischen Republik Tuwa stammende russische Verteidigungsminister Sergej] Schojgu den Marschallgrad erhält. Das Dekret [zur Beförderung] war schon bereit. Und dass er einen zweiten Heldenstern [eine hohe russische Auszeichnung] erhält. [Schojgu] wollte sehr in die Geschichte eingehen als großer tuwinischer Feldherr, der zum zweifachen Held [Russlands] und Marschall faktisch zu Friedenszeiten geworden ist. Der Krieg war nicht dafür notwendig, um faktisch russische Bürger in unseren Bereich zurückzuholen. Nicht dafür, um die Ukraine zu demilitarisieren und zu denazifizieren. Der Krieg war notwendig für einen Stern [auf Shoigus Epaulette]. […] Und zum Zweiten: Der Krieg war notwendig für die Oligarchen, er war notwendig für denjenigen Clan, der heute de facto Russland regiert. Dieser oligarchische Clan erhält alles nur Mögliche. Wenn bei diesem Clan ausländische Unternehmen geschlossen werden, dann teilt der Staat sofort inländische Unternehmen auf und übergibt sie diesem Clan. Darum werden Geschäftsleute eingesperrt, Banken werden geschlossen, damit dieser Clan nicht den Umfang seiner Gelder verliert.”
Obwohl Prigoschin hier zweitrangige Moskauer Akteure zu einflussreichen Entscheidungsträgern aufbauschte, lag er mit seiner Erklärung prinzipiell richtig. Putins kriegerische Eskalation gegen die Ukraine im Februar 2022 hatte eher innen- als außenpolitische Gründe.
Bereits einen Monat zuvor hatte Prigoschin in einer anderen provokanten Videobotschaft eine zweite zentrale Linie der Kreml-Propaganda in Frage gestellt. Am 23. Mai 2023 kommentierte er auf Telegram die angebliche „Entnazifizierung“ der Ukraine durch Russland: „Wir sind rüpelhaft gekommen und haben auf der Suche nach Nazis die ganze Ukraine mit unseren Stiefeln abgelaufen. Während wir die Nazis suchten, haben wir es uns mit allen verdorben.“
Äußerungen wie diese erscheinen ungewöhnlich aus dem Mund eines entscheidenden Akteurs im russischen Krieg gegen die Ukraine. Der außer Kontrolle geratene Söldnerführer desavouiert offizielle Begründungen Moskaus für die russische Aggression. Paradoxerweise gilt dies auch für den Einsatz von Prigoschins eigener Wagnergruppe, welche freilich aus Kämpfern besteht, die für Geld oder zur Verkürzung ihrer Gefängnisstrafen und weniger aus ideellen Gründen Krieg führen.
Tatsächlich setzt Prigoschin mit seinen Attacken gegen Putin eine ältere Tradition postsowjetischer nationalistischer Politiker fort. Der 2022 gestorbene Wladimir Schirinowski oder der auch als „Strelkow“ bekannte Igor Girkin etwa sind bereits Jahre zuvor mit für den Kreml ähnlich peinlichen Aussagen aufgefallen. Wiederholt haben Kritiker des russischen Regimes von Rechtsaußen die Kremlpropaganda öffentlich der Lüge bezichtigt.
Schirinowski stellte Putins Legitimität in Frage
So kam es im September 1999 zu einem denkwürdigen Vorfall in der russischen Staatsduma, die später von Schirinowski öffentlich gemacht wurde. Eine Serie von Terroranschlägen in Russland, die tschetschenischen Terroristen zugeschrieben wurden, diente dem Kreml 1999 als Anlass für den Zweiten Tschetschenienkrieg. In der verschreckten russischen Bevölkerung war Moskaus neuer Krieg im Kaukasus populär. Der massenmörderische Feldzug in der tschetschenischen Teilrepublik lieferte einen wichtigen Impuls für den kometenhaften Aufstieg des frischgebackenen Regierungschefs und damals noch angehenden Präsidenten Wladimir Putin.
Die angeblich von kaukasischen Terroristen verübte Sprengung eines Wohnhauses in der südrussischen Provinzstadt Wolgodonsk am 16. September 1999 geschah allerdings unter bizarren Umständen. Der Anschlag war auf einer Duma-Sitzung drei Tage zuvor in Moskau verkündet worden. Offenbar war es bei der geheimen Planung der Wohnhauszerstörung sowie ihrer anschließenden politischen Instrumentalisierung durch den Inlandsgeheimdienst FSB zu einem Lapsus gekommen. Putin hatte den FSB bis vor seinem Wechsel ins Premierministeramt im August 1999 geleitet und die Leitung der KGB-Nachfolgeorganisation an seinen Petersburger Gefolgsmann Nikolai Patruschew übergeben.
2002 berichtete Schirinowski über die Vorgänge im russischen Parlament am 13. September 1999: „Eine Notiz wurde von jemandem aus dem Sekretariat [der Duma] mitgebracht. Offenbar hatte man dort angerufen, um den Parlamentssprecher vor dieser Wendung der Ereignisse [d.h. dem Terroranschlag] zu warnen. [Parlamentssprecher Gennadi] Selesnjow las uns die Nachricht über die Explosion vor. Dann warteten wir darauf, dass in den Fernsehnachrichten über den Vorfall in Wolgodonsk berichtet wird.“ Er passiert jedoch erst drei Tage später am 16. September 1999.
Wie auch Prigoschin 2023 musste sich Schirinowski 2002 des hochexplosiven Charakters seiner Aussage für das Putinregime bewusst gewesen sein. Seine Behauptung stellte die Legitimität, Autorität und Integrität des neuen russischen Präsidenten in Frage. Prigoschins Videobotschaften der letzten Monate unterwanderten Putins Begründungen für die russische Großinvasion der Ukraine 2022.
Girkin übernahm die Verantwortung für den Krieg
Knapp neun Jahre zuvor hatte es eine weitere, ähnlich peinliche Offenbarung eines russischen Nationalisten gegeben, und zwar seitens des berüchtigten russischen Paramilitärs und einstigen „Verteidigungsministers“ der so genannten Volksrepublik Donezk Igor Girkin zum ostukrainischen Scheinbürgerkrieg 2014–2015. Seit Beginn der angeblichen „Rebellion“ im Frühjahr 2014 wird nicht nur in Russland, sondern auch in nichtrussischen Medien und Konferenzen kontrovers über den Kriegsbeginn diskutiert. Auch einige westliche Experten sehen die Hauptquelle des bewaffneten Konflikts im Donezbecken nicht in der russischen, sondern – wie von der Kremlpropaganda behauptet – ukrainischen Politik.
In einem Interview mit der rechtsextremen russischen Wochenzeitung „Sawtra“ (Morgiger Tag) im November 2014 bekannte Girkin allerdings: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt. Wäre unsere [bewaffnete] Einheit nicht über die Ukraine] gekommen, wäre alles so ausgegangen wie im [nordostukrainischen] Charkiw und [südukrainischen] Odesa“. In diesen und anderen ukrainischen Städten waren damals – anders als im Donbas – lediglich unbewaffnete Agenten Moskaus aktiv. Girkin fügte hinzu: „Den Anstoß für den Krieg, der bis heute in Gang ist, hat unsere Einheit gegeben. Wir haben alle Karten gemischt, die auf dem Tisch lagen. Alle!“
Girkins Eingeständnis ist nicht nur deshalb bedeutend, weil er als russischer Staatsbürger ohne biographische oder familiäre Bindung zur Donbas-Region im April 2014 ein bewaffnetes Kommando in die Ostukraine führte. Als ehemaliger russischer Geheimdienstoffizier stand er während des paramilitärischen Vorstoßes in ständigem Kontakt mit russischen Regierungsorganen. Wie im demnächst erscheinenden Buch von Jakob Hauter „Russlands übersehene Invasion“ detailliert dargelegt, agierten Girkin und seine Kameraden 2014 als inoffizielle Agenten des russischen Staates in dessen „delegiertem Krieg“ gegen die Ukraine.
Trotzdem findet die Kreml-Apologetik international Abnehmer
Wie schon Schirinowski 2002 und später Prigoschin, widersprach Girkin im November 2014 mit Übernahme der Verantwortung für die Auslösung des russisch-ukrainischen Krieges sieben Monate zuvor einer zentralen Propagandalinie des Kremls. Auch internationale Kommentatoren behaupten bis heute, dass sich Russland 2014 lediglich in einen mehrmonatigen innerukrainischen bewaffneten Konflikt eingemischt habe. Girkin gab dagegen zu, dass seine aus Russland einmarschierte und von russischen Regierungsorganen betreute irreguläre Truppe im April 2014 den angeblichen Bürgerkrieg in der Ostukraine ausgelöst hatte.
Die besondere Brisanz der Eingeständnisse Prigoschins, Schirinowskis und Girkins besteht darin, dass sie keine liberalen Moskauer oder westlichen Kritiker Putins sind. Vielmehr haben sich die drei Männer als aggressive russische Imperialisten einen Namen gemacht. Mehr noch: Alle drei waren Teile des Putinschen Herrschaftssystems. Sie berichteten jeweils aus dem Inneren des russischen Regimes und seiner Auslandsoperationen. Prigoschin, Schirinowski und Girkin erhielten seinerzeit tiefe Einblicke in die Funktionsweise von Putins Machtapparat, die weder russische Oppositionelle noch ausländische Forscher je hatten.
Bei Prigoschin kommt hinzu, dass er ein persönlicher Zögling Putins ist und seine schillernde Karriere vollständig seinem Patron im Kreml zu verdanken hat. Angesichts dieser und anderer denkwürdiger Offenbarungen prominenter russischer Ultranationalisten, verwundern einige nichtrussische Debatten über Russland. In Medien, Parlamenten, Ministerien, Universitäten, Instituten und Parteien rund um die Welt findet die Expansionsapologetik des Kremls trotz dieser entlarvenden Eingeständnisse bis heute dankbare Abnehmer.
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