Warum Google und co nicht mehr für Internetfreiheit kämpfen
Die Zeiten, in denen anti-Putin-Demonstranten Facebook-Fahnen schwenkten, sind lange vorbei. Szene vom Moskauer „Marsch der Wahrheit“ 2014. Foto: Oleg Golovnev, Shutterstock.
Seit der russischen Einmischung in die US-Wahl 2016 sind die Tech-Giganten zu austauschbaren Teilen der nationalen Infrastruktur geworden. Sie sind längst nicht mehr Garanten für Freiheit und Demokratie, argumentiert Andrei Soldatov.
Die Nachricht, dass Google und Apple dem Druck des Kremls nachgegeben haben und Alexej Nawalnys App entfernt haben, hat bei liberal eingestellten Russen verständlichen für Ärger gesorgt. Aber das Einknicken der Konzerne war wenig überraschend.
Die Vorstellung von einem wesentlichen, quasi ideologischen Unterschied zwischen dem Geschäftsgebaren von Internetgiganten und dem von Energiekonzernen wie BP oder Shell, basiert auf der Vorstellung, dass die Geschäftsmodelle der Tech-Giganten darauf beruhen, das Vertrauen ihrer Kunden zu gewinnen und zu erhalten. Man geht davon aus, dass Autofahrer zwar die Wahl haben – schließlich gibt es zwischen Tankstellen Wettbewerb -, es ihnen aber ziemlich egal ist, bei welchem Mineralölkonzern sie tanken.Tankstellen sind Teil der Infrastruktur, an die wir uns gewöhnt haben, und nur hartgesottene Aktivisten glauben, dass ein Boykott globaler Energiekonzerne Veränderungen bewirken. Für solche Boykott-Aktionen findet sich aber in der Regel nicht genug Unterstützung.
Die Technologiekonzerne glaubten dagegen jahrzehntelang, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit ein wesentlicher Bestandteil ihres Geschäftsmodells ist. Das ist seit 2016 vorbei. Die Gegenreaktion auf die russischen Versuche, die US-Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen, die sich vor allem gegen Facebook richtete, war massiv und beispiellos und dauert noch an.
Nicht enden wollende Kongress-Anhörungen und Skandale, üble Beschuldigungen von Whistleblowern über Manipulationen von Nutzerdaten, das Fördern von Hass und Spaltung und sogar die Unterstützung feindlicher Staaten und bösartiger Populisten mit schrecklichen Absichten – all das hätte dem Unternehmen das Genick gebrochen, wenn das Geschäftsmodell von Facebook noch auf dem Vertrauen der Öffentlichkeit beruht hätte.
Facebook wächst trotz aller Skandale
Fakt ist aber, dass Facebook statt seine Nutzer zu vergraulen Zuwächse verzeichnet: Die monatlichen Nutzerzahlen sind von 1,86 Milliarden im vierten Quartal 2016 auf 2,89 Milliarden im zweiten Quartal 2021 gestiegen. Neue Plattformen wie Parlio und Quora hatten zwar einen gewissen Erfolg, wurden aber nie zu echten Alternativen zu Facebook. Für die Tech-Branche und für Regierungen ist das eine wichtige Lektion.
Die Unternehmen haben gelernt, dass sie sich mehr um Regierungen als um die Öffentlichkeit kümmern sollten, so wie BP und Co. Tatsächlich haben Regierungen seit 2016 den Regulierungsdruck auf die Internetgiganten überall erhöht – in den USA, aber auch in Europa und natürlich in autoritären Ländern wie Russland.
Die Regierungen haben erkannt, dass die Öffentlichkeit nicht imstande ist, die Internetgiganten zu schützen. Sie mögen Milliarden von Nutzern haben, aber wenn eine Regierung beschließt, ein Unternehmen anzugreifen, werden nur sehr wenige Nutzer etwas dagegen unternehmen. Die Zeiten, in denen anti-Putin-Demonstranten in Moskau Facebook-Fahnen schwenkten, sind lange vorbei.
Auch die Vorstellung, dass Internetgiganten in autoritär regierten Ländern eine Kraft des Guten sein können, wenn es um Internetfreiheit geht, ist seit 2016 verschwunden. Westlichen Gesellschaften erscheint der Gedanke, dass soziale Netzwerke eine Chance und keine Bedrohung sind, heutzutage bizarr. Niemand erwartet einen großen Aufschrei im Ausland über Entscheidungen, die russische Nutzer treffen.
Austauschbare Plattformen
In Ländern wie Russland hätten die Internetkonzerne meinen können, dass sie Teil der nationalen Infrastruktur geworden sind und dadurch vor einer völligen Sperrung geschützt sind, aber die Art und Weise, wie sich die Internetnutzung in den letzten fünf bis sieben Jahren verändert hat, hat diese Hoffnungen zunichte gemacht.
Heutzutage nutzen wir soziale Medien über Smartphones und nicht über Laptops. Das Problem mit dem mobilen Internet ist, dass normale Nutzer nicht die YouTube-Homepage besuchen, um sich die neuesten heißen Videos anzusehen, sondern von Freunden über WhatsApp oder Telegram mit Links bombardiert werden, wobei es keinen mehr interessiert, ob die Quelle YouTube, TikTok oder RuTube (das russische Analog von YouTube) ist. Das Internet ist Teil der nationalen Infrastruktur geworden, aber die globalen Plattformen sind austauschbar.
Die Tragödie von Google, Apple und Twitter besteht darin, dass dieser dramatische Wandel in der öffentlichen und staatlichen Wahrnehmung so schnell vonstatten ging, dass die Unternehmen immer noch von den Leuten geführt werden, die sie ins Leben gerufen haben. Wir erwarten von ihnen, dass sie weiterhin für den Schutz der Privatsphäre, die Integrität und die Freiheiten des Internets kämpfen, die ihr Geschäft überhaupt erst möglich gemacht haben.
In unserem Buch „The Red Web“ erklärt der sowjetische Internetpionier Walerij Bardin, der für den sowjetischen Internet-Vorläufer Relcom verantwortlich war, warum er während des Augustputsches 1991 trotz persönlicher Risiken die Leitungen offen hielt.
„Wir waren bereits auf der Verliererseite, weil es bei Relcom um den Informationsaustausch ging. Wir wären sowieso Feinde des Regimes gewesen, egal was wir taten.
Heute, genau 30 Jahre später, ist das Internet Teil der nationalen Infrastruktur geworden. Und wir erwarten doch nicht, dass die Tankstellen streiken, oder?
Dieser Artikel ist zuerst in der „Moscow Times“ auf Englisch erschienen. Deutsche Fassung: Nikolaus von Twickel
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