Wenn Professoren von der Uni fliegen
Der Rektor einer privaten russischen Universität ist in Haft, Professoren einer staatlichen Uni werden entlassen, ein US-Dozent wird des Landes verwiesen. Die Vorfälle häufen sich und illustrieren den politischen Druck auf das Bildungswesen in Russland.
Manch einem bleibt offenbar nur noch der Griff zur Bibel. „Selig sind die, die Verfolgung leiden, um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich“, schrieb Gennadi Jessakow vor einigen Tagen in seinem Twitter-Account. Damit machte der Juraprofessor seine Entlassung aus der Moskauer Higher School of Economics (HSE) bekannt, einer Universität für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die nach dem Zerfall der Sowjetunion als Reformhochschule gegründet worden war und über die Jahre hinweg unkonventionell denkende Dozentinnen und Dozenten angezogen hatte. Aus personaltechnischen Gründen darf sich Jessakow nicht weiter zu seinem Weggang äußern. Es bleibt lediglich der Spruch aus dem Matthäus-Evangelium.
Der Staat duldet Abweichler immer weniger
Fast ein Jahrzehnt lang hatte der 43-Jährige an der HSE Justiz- und Strafrechtswesen unterrichtet, hatte Russlands Justizsystem vor allem nach der Verfassungsreform von 2020 scharf kritisiert. Der Staat aber, der immer mehr Bereiche unter seine Kontrolle bringt, duldet immer weniger „Abweichler“, er fordert vielmehr Loyalität, auch von denen, die an Hochschulen unterrichten.
Jessakow ist nicht der einzige Professor der „Wyschka“, wie die HSE in Russland liebevoll genannt wird, der in seinen wissenschaftlichen Arbeiten Kritik am politischen System seines Landes geübt hat. Er ist auch nicht der einzige, dem die Verwaltung der Hochschule schließlich Entlassungspapiere geschickt hat. Der offizielle Grund: Umstrukturierung. Getroffen hat es vor allem die, die einen abweichenden Standpunkt von der offiziellen politischen Linie vertreten: Dozenten, die sich der patriotischen Konsolidierung der Bildung entziehen und in den Augen des Staates somit gefährlich sind.
„Der Staat kämpft um die Wahrheit, wie er die Wahrheit sieht. Andere Szenarien duldet er nicht. Freidenkende Menschen sind in seinem Verständnis Revolutionäre“, sagt Kirill Martynow. Der Politikchef der unabhängigen „Nowaja Gaseta“ hat an der „Wyschka“ Philosophie unterrichtet. 13 Jahre lang. Er hält sie für die beste Einrichtung, die es seit den 1990ern im Land gibt. Wie lange sie das bleiben könne? Martynow ist skeptisch und meint, die HSE mutiere langsam zu einer „guten, aber völlig gewöhnlichen, postsowjetischen staatlichen Uni“.
Es war gerade das Ungewöhnliche dieser Hochschule, das den Philosophen aus Sibirien stets begeistert hatte: eine freie Atmosphäre, engagierte Studenten, kritische Geister. „Doch dann wurde ich ‚umstrukturiert‘“. Das Studierendenmagazin „Doxa“, das Martynow als Dozent begleitete, war zu dem Zeitpunkt bereits an der Uni verboten, einige seiner Macherinnen und Macher stehen bis heute unter Hausarrest, zwei Studenten der HSE mussten die Hochschule verlassen, weil sie sich politisch engagierten. Martynow ließ solche aufsehenerregenden Ereignisse auch als Dozent nie unkommentiert. In Russland mit seinem feudalen System, in dem Lehrende auch für die Taten ihrer Studenten verantwortlich gemacht werden, gerieten Martynow und weitere HSE-Dozenten unter Druck – bis zur Kündigung. „Ein persönliches Trauma“, sagt der 40-Jährige.
Listen von Unzuverlässigen und Geheimdienstberater
Angefangen hatte es im Winter vor zwei Jahren. Kollegen sprachen ihn darauf an, sich in seinen sozialen Netzwerken zu mäßigen, es gebe Gerüchte, dass er auf einer Liste der „Unzuverlässigen“ stehe. Ob solche Listen tatsächlich existieren, weiß Martynow nicht. Doch seit der Hochschule ein neuer Rektor vorsteht, ein weniger unbequemer als sein Vorgänger, häufen sich an der Einrichtung offenbar auch Berater „ohne Biografie“: Uni-Mitarbeiter, über deren wissenschaftliche Karriere sich nichts ausfindig machen lässt. Nach Recherchen von russischen Medien handelt es sich dabei um Kuratoren von Seiten des Geheimdienstes FSB. „An der HSE herrscht nun eine Atmosphäre der Angst. Viele, die dort noch unterrichten, sind enttäuscht und leben in Sorge, was noch kommen könnte“, erzählt Martynow.
In Sorge ist die akademische Welt auch um den Rektor der privaten Moskauer Schaninka-Universität, ebenfalls eine Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Dem 67-jährigen Sergej Sujew wird vorgeworfen, 21 Millionen Rubel, umgerechnet etwa 250.000 Euro, an staatlichen Projektgeldern veruntreut zu haben. Zu einem mehrstündigen Verhör hatten die Behörden den herzkranken Sujew direkt aus dem Krankenhaus geholt. Nach zunächst angeordnetem Hausarrest befindet sich Sujew nun in Untersuchungshaft. Am 22. Dezember wurde er wegen akuten Bluthochdrucks in ein Krankenhaus verlegt, nur eine Woche später war er wieder im Untersuchungsgefängnis. Bei seinem Treffen mit dem Menschenrechtsrat sagte Russlands Präsident Wladimir Putin, er sehe „keine Notwendigkeit, Sujew hinter Gittern zu halten“.
Der Fall Sujew zeigt, wie verwundbar Vertreter von Institutionen sind, die inmitten einer konformistischen Gesellschaft und eines starren politischen Systems versuchen, ihren Grundsätzen treu zu bleiben. Die Schaninka, nach dem polnisch-britischen Soziologen Teodor Shanin benannt, wurde – ebenfalls wie die HSE – in den 1990er Jahren gegründet. Anders als die HSE ist sie privat organisiert und arbeitet seit den Anfängen mit der Universität Manchester zusammen. Die Zugangsvoraussetzungen sind hart, die Einrichtung mit mehr als 2000 Studenten gilt als Hort der Weltoffenheit – und ist den Behörden wegen ihrer Orientierung an westlichen Idealen bereits länger ein Dorn im Auge. 2018 hatten sie der Schaninka bereits die Akkreditierung entzogen. 2020 bekam die Universität diese zurück. Viele, die dort lehren, kommentieren in unabhängigen Medien das Geschehen im Land. Sie tun das oft mit Kritik am Kreml.
Im Hintergrund tobt ein Streit zwischen einer Großbank und einem Buchverlag
Sujew ist der sechste Verdächtige in einem undurchsichtigen Fall, in dessen Mittelpunkt die frühere Vize-Bildungsministerin Marina Rakowa steht. Für eine Stiftung, die zu 100 Prozent dem Bildungsministerium unterstand, hatte die Schaninka zwei Verträge zu erfüllen. Die Arbeiten dafür habe die Hochschule nicht gemacht, das Geld aber einkassiert. So sagen es die Ermittler. Gegen Rakowa und ihren Ehemann sowie gegen zwei Stiftungsmitarbeiter und auch eine Mitarbeiterin der Schaninka laufen ebenfalls Verfahren.
Sujew ist offenbar zwischen die Fronten der größten russischen Bank „Sber“ (früher Sberbank), bei der Rakowa nach ihrem Weggang aus dem Ministerium für Bildungsprogramme zuständig war, und dem Verlag „Aufklärung“, der für Schulbücher zuständig ist, geraten. Schulbücher bringen viel Geld ein, Rakowa hatte immer wieder Konflikte mit dem Verlag, als sie noch im Bildungsministerium war. Sujew erscheint vielen Beobachtern in Russland als Opfer in diesem Streit zwischen zwei Riesen. Zudem nutzen die Behörden den Fall zur Abschreckung. Neue liberale Projekte können so gar nicht entstehen, alte weltoffene Einrichtungen bewegen sich auf einem schmalen Grat.
Rauswurf eines US-Dozenten schürt Atmosphäre der Angst
Wie schmal solche Möglichkeiten sind, erfuhr kürzlich auch die Fakultät der Freien Künste an der Staatlichen Universität in Sankt Petersburg. Die Studenten standen vor einem leeren Raum, ihr Englisch- und Schauspieldozent Michael Freese kam eines Tages nicht mehr zum Unterricht. Der FSB hatte ihn 72 Stunden festgehalten und schließlich des Landes verwiesen. Fünf Jahre darf der Amerikaner, der seit zehn Jahren in Russland lebte, eine russische Frau und ein Kind hat, nicht mehr nach Russland einreisen. Sein Vergehen: Er hatte einst die Austauschprogramme mit dem Bard College in den USA koordiniert. Seit Juni dieses Jahres zählen russische Behörden das Bard College zu sogenannten „unerwünschten Organisationen“, weil dieses angeblich die Grundlagen verfassungsmäßiger Ordnung Russlands bedrohe. Auch das Zentrum für Liberale Moderne ist „unerwünscht“ in Russland. Die Zusammenarbeit mit solch gebrandmarkten Einrichtungen ist Russen streng untersagt. Wie eine Organisation „unerwünscht“ wird, dafür gibt es im russischen Gesetz keine klaren Kriterien.
Schwammige Formulierungen führen zu Unsicherheit und schließlich auch zu einer Atmosphäre der Angst. Der ex-HSE-Dozent Martynow sagt: „Der Druck von Seiten der Politik führt zum Erfindertum samt großer Herausforderung: einen Weg zu finden, Mensch zu bleiben, obwohl der Staat seine Bedingungen aufstellt.“ Nachgeben will der Philosoph und Journalist nicht – und unterrichtet mittlerweile samt vielen von der HSE Entlassenen in Online-Hausseminaren, die sie Freie Universität nennen. Er macht das stets mit den Gedanken im Hinterkopf: Der Staat könnte die Site sperren oder könnte die Dozenten strafrechtlich verfolgen. „Ohne Lehre kann ich aber nicht leben.“
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