Diplomaten-Studie aus Russland: „Zeit der Gewalt“
Eine russische Hochschule für Diplomaten veröffentlicht ein Strategiepapier, das ihre europäischen und amerikanischen Kollegen aufhorchen lassen sollte. Nicht nur schreiben die Autoren, dass ein Zeitalter der Gewalt und des nationalen Egoismus angebrochen habe. Auch identifizieren sie die innenpolitischen Bruchlinien westlicher Gesellschaften als Gegenstand russischer Außenpolitik. Mit wachem Blick beobachten die Strategen des Kremls Klimabewegung und Rechtspopulismus.
„Die Zeit der Umarmungen ist vorbei“, steht gleich auf der ersten Seite der Analyse der Diplomaten-Kaderschmiede „MGIMO“, dem Moskauer Institut für Internationale Beziehungen . Bebildert ist das 24-seitige Strategiepapier mit einem Foto des russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan. Die beiden Machthaber tragen Sonnenbrillen und essen Eis. Aufgenommen wurde die Szene auf der Luft- und Raumfahrtmesse nahe Moskau im vergangenen August. Die beiden unfreiwillig Verbündeten demonstrieren Einigkeit, mögen sie in vielen Punkten auch entgegengesetzte Interessen verfolgen.
„In einer Welt, die wieder in der Sprache der Gewalt spricht, wird die Stimme Russlands sowohl von denen vernommen, die Russland hassen als auch von denen, die mit Russland sympathisieren.“
Aus der MGIMO-Studie „Internationale Bedrohungen 2020“
Putin und Erdogan geben sich als Löser von Konflikten, die sie selbst befeuert haben. Eine Handlungsweise, die der Analyse zufolge an Bedeutung gewinne, da Regierungen vermehrt das eigene Interesse verfolgten und damit die Unberechenbarkeit in den internationalen Prozessen zunehme. Erdogan hatte sich bei besagter Messe über den russischen Tarnkappen-Kampfjet SU-57 informiert, der zwar noch in der Entwicklungsphase steckt, von den Russen aber als Alternative für das von den USA geführte F‑35-Programm gesehen wird. Die Türken hatten bereits das russische Raketenabwehrsystem S‑400 gekauft und den Groll der Amerikaner auf sich gezogen. „Jeder kämpft für sich“, heißt es in der Analyse der MGIMO.
Nationale Egoismen
Jedes Jahr erstellen die Politologen der Universität, die dem russischen Außenministerium untersteht, eine Prognose zur Lage der Welt. Für das Jahr 2020 sehen sie eine neue Epoche anbrechen, in der nationale Egoismen über internationalen Abmachungen stünden. „In einer Welt, die wieder in der Sprache der Gewalt spricht, wird die Stimme Russlands sowohl von denen vernommen, die Russland hassen als auch von denen, die mit Russland sympathisieren“, schreiben die zehn Autoren. Russland profitiere von veränderten „Spielregeln“ in der Welt. Zum einen sei die amerikanische Dominanz geschwächt, zum anderen stärke eine Solidaritätskrise innerhalb der Nato die relative Militärkraft der „nichtwestlichen Länder“. „Die Dominanz des Westens ist am Ende“, schlussfolgern die Autoren.
Gespaltene Gesesellschaften
Egal, ob in den USA, in China, in Indien, in der Türkei oder in Russland selbst: die Machthaber in diesen Ländern würden nicht nur nach außen um Machterhalt kämpfen, sie seien auch im Innern herausgefordert. Die MGIMO-Wissenschaftler sprechen von einem „Krieg der Eliten“ und einer „Zerrissenheit in der Gesellschaft“. Die Krise in den USA, die durch die Unberechenbarkeit ihres Präsidenten auch die Länder der Europäischen Union verunsichere, könnte noch zehn weitere Jahre andauern, bis „neue Generationen an die Spitze kommen, deren Problem Nummer eins nicht mehr Russland sein wird, sondern China“.
Die Autoren stellen eine Tendenz zum Populismus fest und bescheinigen eine globale Nachfrage nach sozialem Konservatismus. Die Sehnsucht nach einer „harten Hand“, einer „starken Führungsfigur“ wachse. Auch im Technologiebereich werde um die Vorreiterrolle gekämpft. Die Politisierung der Ökologie werde ebenfalls zunehmen.
Russland in Syrien: Aus der Isolation herausgebombt
Russland verfolgt seit Langem das politische Konzept der „Hard Power“. Die Prozesse in der sich verändernden Welt, wie die MGIMO sie zeichnet, würden der außenpolitischen Strategie des Landes in die Hände spielen. Die Moskauer Führung pflegt einen Pragmatismus, der auf Diplomatie, militärischer Gewalt und Skrupellosigkeit basiert. Sie nutzt die Fehler der anderen und reagiert auf die Gegebenheiten mehr als sie agiert. Aus der internationalen Isolation, in die sich Russland nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim gebracht hatte, hat sich das Land an die Verhandlungstische zurück gebombt. In Syrien hat sich Moskau zum Dreh- und Angelpunkt des Konflikts gemacht. Es hat den sunnitischen Golfstaaten, den USA und der EU die Grenzen ihrer Macht aufgezeigt und auch Ankara dazu bewegt, Assad – einen Feind der Türkei – als Herrscher anzuerkennen. Ähnliches versucht Russland in Libyen. Obwohl Moskau den aufständischen General Chalifa Haftar unterstützt und Ankara die von den Vereinten Nationen anerkannte Regierung von Fajis al-Sarradsch, macht die Zerstrittenheit der EU-Staaten und die Inaktivität der USA die beiden Kontrahenten zu zentralen Spielern im öl- und gasreichen Land.
Geopolitik: Rolle als Sicherheitsgarant
Russland sieht in der militärischen Kraft nach wie vor ein entscheidendes Mittel und ist bereit, dieses einzusetzen, zur Not mit Hilfe von Söldnertruppen, die der Staat – obwohl die russische Verfassung private Militäreinsätze im Ausland verbietet – in Kriegsgebiete entsendet. Russland hält an seiner Rolle als Verhinderer von Regimewechseln fest. Moskau will als Sicherheitsgarant im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Nordafrika wahrgenommen werden. Mit Erfolg: Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate haben sich bereits mehrmals an Russland gewandt, um Unterstützung für deren Agenda in Libyen zu gewinnen. Saudi-Arabien suchte in Moskau Hilfe, damit Russland im Jemen vermittelt.
„Zeit der Gewalt“
In der MGIMO-Studie heißt es, dass gerade im eurasischen Raum viel um Einfluss gerungen werde. Die Schlüsselpositionen hätten hier China, Indien, Iran, die Türkei – und natürlich Russland. Gelinge es Moskau, ein attraktives Stabilitätskonzept zu entwerfen, so sei ihm die Führungsposition in diesem Raum sicher. „Russland sieht endlich die Zeit gekommen, in dem die Stärken seiner Strategie gefragt sind, während die Soft Power zu einem immer kurzlebigeren Konstrukt wird“, schreiben die Autoren.
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