Russland: Plädoyer für einen genaueren Blick
Der westliche Blick auf Russland ist getrübt von dem tiefen Wunsch, der Kreml wäre ebenso auf Ausgleich und gute Nachbarschaft aus. Wir müssen endlich einen Schritt zurück treten und mit der dann gewonnenen Distanz das große Werk erkennen, an dem Putin aktuell arbeitet.
I. Russland verstehen – Eine notwendige Debatte
Kluge und kritische Köpfe ziehen derzeit beim Blick auf Russland Schlussfolgerungen, die eine vertiefende Diskussion verdienen.
Jens Siegert analysiert in seinem Beitrag auf dieser Plattform Putins innenpolitische Strategie und die Frage, ob wir es im Vorfeld der Wahlen in Russland mit einem tatsächlichen oder nur vorgetäuschten Tauwetter zu tun haben.
Reinhart Veser mahnt in seinem FAZ-Artikel zu einem selbstkritischen Blick auf die hausgemachten Probleme westlicher Demokratien statt zu panischen Überreaktionen gegen russische Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung.
Beide Beiträge vermitteln wichtige Einsichten. Im Falle von Reinhard Veser würde ich freilich dazu raten, Journalistisches (Russia Today), Dreistes (Social Media-Trolle) und Kriminelles (Hacker-Attacken) nicht über ein und denselben Kamm zu scheren.
Gleichsam als ‚Elefant im Raum‘ verbleibt die Frage, weshalb es trotz aller Geschehnisse der letzten zehn Jahre – mit dem „August-Krieg“ 2008 in Georgien, der Besetzung georgischer Gebiete und dem hartnäckigen Bruch des Friedensabkommens vom 12.8.2008 als Ausgangspunkt – in der westlichen Russland-Politik noch immer nicht zu der dringend notwendigen Entschlossenheit kommt, zu einem klaren statt vagen, konsequenten statt sprunghaften, standhaften statt feigen Handeln.
Die Antwort, so wage ich zu behaupten, liegt in einem immer noch mangelnden Verständnis des „System Putin“.
II. Mephisto Putin
Wenn es etwas gibt, das den psychologischen Kern und Antrieb allen politischen Handelns von Wladimir Putin aufschlussreich beschreibt, dann ist es jene ‚Kunst des Regisseurs‘: Das Treiben aller ihm untergebenen Akteure so zu arrangieren und zu dirigieren, dass die Welt im Zuschauersaal mal Faust und Gretchen auf dem Spaziergang, mal das Zechgelage in Auerbachs Keller sehen, nie aber Mephisto, wie er im Halbdunkel die Strippen zieht und geschickt den Blick fürs Wesentliche trübt.
Freilich – was banal erscheint, ist keine einfache Übung. Aber wer über Mephisto Putins Politik spricht, sollte stets im Kleinen auch das Große sehen und im vermeintlich Einzelnen den größeren Bogen und Zusammenhang suchen. Selten wird man enttäuscht dabei.
III. Brot und Spiele? Krieg, Brot und Spiele!
Russische Innenpolitik kann nicht hinreichend verstanden werden, ohne zugleich die russische Außenpolitik mit zu bedenken.
Berechtigte Fragen wie die, ob der Westen nicht mittlerweile an einem Punkt angekommen sei, wo ihm seine Russland-Paranoia willkommene Verdrängungshilfe leiste für eigene, unbequeme Defizite, sollten nicht die immense kriminelle Energie ignorieren, mit der Putin Strukturen aufbauen ließ, die ein einziges Hauptziel haben: NATO und EU zu unterminieren und zu verunsichern.
IV. Das „kleine Besteck“ des autokratischen Systems
Das zyklische Spiel mit innenpolitischen Tauwettern gehört zum kleinen Besteck jedes autokratischen Systems. Wer sein Volk unterjochen, aber nicht ersticken will, muss hin und wieder den Griff etwas lockern. Eine Autokratie unterscheidet sich von der Diktatur nicht zuletzt durch die Pseudo-Tolerierung einer Opposition. Deshalb braucht Putin seine innenpolitischen Gegner; fürchten muss er sie nicht.
Zahlreich sind auch die Beispiele, bei denen russische Machthaber – nicht erst unter Putin – ihrem Volk etwas Brot, aber vor allem Spiele gaben, um von dem Grauen abzulenken, das sich an irgendwelchen Fronten des nie versiegenden imperialen Expansionsbestrebens Russlands abgespielt hat. Das Drama ist, dass der Abschied vom Imperium nach hoffnungsvollen Anfängen unter Gorbatschow und Jelzin mit der Machtübernahme Putins wieder zurückgedreht wurde.
V. Wie man Widerspruch von außen in Zuspruch innen ummünzt
Der Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980 seitens einiger westlicher Länder hat weder dem Krieg in Afghanistan die entscheidende Wende gegeben, noch die Moskauer Führung innenpolitische Zustimmung gekostet. Eher das Gegenteil: Das schwache, unentschlossene, alles andere als geschlossene Auftreten der westlichen Länder hat eine tiefe Spaltung des Westens offenbar gemacht, die den russischen Machthabern weit über das Thema der Olympiade hinaus in die Hände spielte.
Der Boykott hat, zweitens, ein Narrativ befördert, das Russland zum Opfer stilisierte – eine Rolle, für die das russische Volk nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg besonders empfänglich ist, und die bei Vielen jene Art von Emotionen frei setzt, die dann jedem huldigen, der stark genug auftritt, um diese Schmach wieder wett zu machen. 2:0 für den Kreml, der denn auch nach Abschluss der Spiele und trotz seiner zwischenzeitig nahezu vollständigen internationalen Isolierung seine Offensive in Afghanistan mit Napalm, Nervengas und Flächenbombardements weiterführen konnte.
Ist es paranoid, nach vergleichbaren psychologischen Strukturen jetzt, im Vorfeld der Fußball-WM 2018 und im Hinblick auf den Krieg zu suchen, den Moskau in der Ukraine führt?
Möge niemand davon ausgehen, dass sich Putin nicht der „Kraft der Mütter“ bewusst wäre, deren Söhne unter dubiosesten Umständen in die Ost-Ukraine abkommandiert wurden, die offiziell „auf Urlaub“ dort sind und als Freischärler kämpfen müssen, weil es offiziell keine russische Beteiligung gibt. Russische Söhne, die für die Machtpolitik des Kremls kämpfen, aber möglichst ohne öffentliches Aufhebens unter die Erde gebracht werden, wenn sie ihren Einsatz nicht überleben.
VI. Das Spiel mit dem „Tauwetter“
Putin weiß, dass die Leugnung einer russischen Beteiligung im Ukraine-Krieg Grenzen hat, und er folglich Ablenkung und vor allem ein Narrativ braucht, das in der eigenen Bevölkerung funktioniert. Im Falle der Krim war das kommunikatives Kinkerlitz. Im Falle der Ost-Ukraine ist es schon etwas schwieriger. Aber Putin schafft auch das – und sein Spiel mit einem vermeintlichen „Tauwetter“ ist kein unwesentlicher Teil der Strategie.
Putin kennt die Psychologie Russlands und er spielt ebenso meisterlich mit der Psychologie der Europäer (vor allem der Deutschen), die allzu gern glauben, dass der Kreml im Grunde auf Ausgleich und gute Nachbarschaft aus ist. Man klammert sich an jeden Strohhalm, jede Geste, die man in diesem Sinn interpretieren kann, und hofft auf Tauwetter, wo tatsächlich beinharte Repression nach Innen und gewaltbereite Machtpolitik nach außen stattfinden.
VII. Die innere Front festigen, um nach außen aufzutrumpfen
In die gleiche Waagschale fällt übrigens die „neue Geduld“, mit der man im Kreml momentan die Kampagnen eines Alexej Nawalny oder einer Xenija Sobtschak verfolgt. Im vermeintlichen „Tauwetter“ wurden auch die Leinen dieser beiden wenig lupenreinen Demokraten deutlich gelockert – und, siehe da, die Opposition zerlegt sich vor aller Augen selbst. Vorteil Kreml.
Putin braucht und nutzt innenpolitische Atempausen, um sein außenpolitisches Handeln voran zu treiben. Und der Druck, unter dem er hinsichtlich der Legitimierung des russischen Vorgehens in der Ukraine steht, wird im Westen unterschätzt.
Die Festigung der „Separatistenregionen“ um Donezk und Luhansk als russische Provinzen, besser noch – und deutlich näher gerückt nach den Putschereignissen der letzten Wochen – als vereinigtes Separatistengebiet ist Putins Ziel. Sein strategisches Ziel ist die Verhinderung einer demokratischen und Europa zugewandten Ukraine und die Spaltung des Westens über die Ukraine-Frage. Zugleich geht es um harte Geopolitik, insbesondere den strategisch wichtigen Zugang zum Schwarzen Meer und damit die Verbindung zur Krim.
VIII. Mephisto sucht den Pakt. Mephisto braucht den Pakt.
Der Vorschlag einer Blauhelmtruppe zur Überwachung des Frontverlaufs, den Putin, zur Überraschung vieler, kürzlich unterbreitet hat, erweist sich bei genauerem Hinschauen als vergiftete Offerte. Sie ist ein weiterer Versuch, den Spaltpilz in das europäische und westliche Bündnis zu treiben. Will man die Ukraine nicht vollends fallen lassen, kann man einem solchen Vorschlag nicht zustimmen, jedenfalls nicht zu Putins Bedingungen. Er würde die Abtrennung des Donbass von der Ukraine zementieren.
Putin weiß das. Aber Mephisto braucht den Pakt, und über kurz oder lang wird er ihn auch bekommen. Denn der Westen ist des Konflikts mit Russland müde.
Ein Kompromiss wird aller Wahrscheinlichkeit die Balance erneut zugunsten Putins verschieben, wie das schon bei den Minsker Abkommen der Fall war. Damit kann er innenpolitisch einlösen, was er so dringend braucht. Und außenpolitisch hat er den Pakt, der ihm erlaubt, auch weiterhin die Strippen zu ziehen. Mephisto an einem weiteren Zwischenziel.
IX. Ideologische Kriegführung
Ein weiteres Zwischenziel haben Putin und die Seinen an anderer Front – der der Kommunikation – schon erreicht, wenn die Dimension russischer Desinformationspolitik und der strategischen Ziele des Kremls verniedlicht wird.
Nein – wir haben es bei Russia Today nicht nur mit miesem, einseitigem Journalismus zu tun, den wir zähneknirschend hinnehmen müssen, wollten wir nicht unseren Anspruch auf die Freiheit der Presse in Frage stellen, oder mit einer Bande von Internet-Trollen, die unter Fake-Profilen Fake-News verbreiten und auf dreiste Weise Diskussionen im Netz manipulieren.
Dahinter und darunter geht vielmehr ein gezielter Aufbau teils legaler, teils krimineller Strukturen vonstatten, mit denen die Grundlagen für einen Easy Access zu Plattformen und Kanälen des Gegners gelegt werden sollen. Strukturen, die zu nichts anderem dienen als dem außenpolitischen Expansionskurs bei gleichzeitiger innenpolitischer Stärkung der Autokratie. Kein Krieg wird allein auf dem Schlachtfeld und an nur einem Frontabschnitt gewonnen. Ideologische Kriegführung ist längst zu einem integralen Bestandteil der russischen Militärdoktrin geworden.
Der westliche Blick auf Russland tendiert noch immer viel zu sehr dazu, gleichsam mit Lupe und Mikroskop Ereignisse und Entscheidungen zu sezieren. Wir müssen endlich einen Schritt zurück treten und mit der dann gewonnenen Distanz das große, zynische Werk erkennen, an dem „Zar Wladimir“ aktuell arbeitet. Solange wir das nicht tun und daraus auch Konsequenzen ziehen – spielen wir Wladimir Putin und seinem System in die Hände. Oder, das System Putin spielt weiter mit uns.
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