„Das ist jetzt eine Mixtur aus Mittelalter und Sowjetmacht“
Manche seiner Bücher haben sich als prophetisch erwiesen. Bis heute ist Vladimir Sorokin ein scharfer Beobachter der politischen Verhältnisse in Russland. Im Interview urteilt der Autor schonungslos über das Regime Putin, das nur noch mit Gewalt und Angst regieren könne.
Frage: Ihr neues Buch „Doktor Garin“ spielt in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Wir sehen eine Welt, in der nach diversen Kriegen Chaos herrscht und eine Atombombe explodiert. Sollen wir Ihr Buch als eine Prophezeiung lesen, was uns an Schlimmem bevorstehen könnte?
Vladimir Sorokin: Es war nicht mein Anliegen, eine Warnung zu schreiben. Das Buch ist vielmehr ein Text in der Art des französischen Schriftstellers Francois Rabelais. Es soll auf groteske Weise vor allem die Unvorhersehbarkeit der Welt demonstrieren. Die Literatur ist immer auch die Welt der Fantasie. Der Roman kann auf unterschiedliche Weise gelesen werden. Wie man ihn schließlich lesen soll, fällt nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich des Autors; es ist eine Sache des Lesers. Meine Aufgabe besteht darin, einen literarischen Text von möglichst hoher Qualität zu verfassen, der mich selbst überrascht.
Frage: Zu den Patienten von „Doktor Garin“ zählen Spitzenpolitiker, in denen die Führer der G‑8-Staaten erkennbar sind. Darunter ist eine Figur namens Donald, aber auch eine Figur mit dem Namen Vladimir, deren Standardsatz lautet: „Ich war’s nicht.“ Müssen wir aus Ihrer Schilderung dieser Weltenlenker schließen, dass von ihnen nichts Gutes zu erwarten ist?
Zweifellos ist die Darstellung dieser Personen, die den Globus regiert haben, eine Reaktion auf die gegenwärtige politische Welt. Ich kann dazu nur sagen, dass diese Politik mich Tag für Tag mehr enttäuscht. Das bewirkt selbstverständlich den satirischen Ton des Textes.
Frage: Besonders beängstigend sind Bücher, wenn das literarische Szenario von der politischen Realität eingeholt wird. So haben Sie in einem Roman von 2006 („Der Tag des Opritschniks“) bereits ein Land beschrieben, das wie das Russland unter Putin ausschaut – mit einem autoritären Herrscher, der seine Macht mit einer nationalistischen Ideologie sichert und in China seinen Hauptpartner hat. Wie konnten Sie als Literat zu einer derart plausiblen politischen Prognose kommen?
Was China anbelangt, musste man kein Prophet sein, um die kommende Entwicklung zu erkennen. Man konnte wissen, dass sich Putins Russland, wenn es sich vom Westen abwendet, in die Umarmung des östlichen Tigers begeben wird. China ist bereits vor 20 Jahren in Sibirien eingedrungen und hat mit der Unterwerfung dieser Region begonnen. Ich habe darüber schon in meinem Buch „Der himmelblaue Speck“ geschrieben, das 1999 erschienen ist.
Frage: In vielen Texten zeigen Sie, dass sich die russische Herrschaftsform seit Iwan dem Schrecklichen nicht wesentlich verändert hat. Was ist charakteristisch für das russische System der Macht?
Das ist jetzt eine Mixtur aus Mittelalter und Sowjetmacht. Sie ist sehr aggressiv. Für die Regierung gibt es nur das Instrument der Gewalt und der Angst. Es ist eine Sackgasse, aus der kein Ausweg führt. Die jungen Menschen, die heute in Russland leben, haben das Gefühl, dass sie keine Zukunft haben. Das passiert, wenn ein Mensch rund 25 Jahre lang an der Spitze der Macht steht.
Frage: Es ist ein System, das Sie in einem Erzählungsband als „rote Pyramide“ gekennzeichnet haben: oben ein Zar, unten die Untertanen. Ist auch Putin ein unumschränkter Herrscher oder lässt er sich doch einmal aus dem Sattel werfen?
Ich glaube fest daran, dass Putin einmal die Macht verlieren wird. Aber wie das geschehen wird und wer ihm folgen kann, weiß ich nicht. Russland ist ein unberechenbares Land. In Russland nimmt die Machtpyramide den Platz von Gott ein. Man wartet auf den Tod des Gottes wie bei Friedrich Nietzsche oder darauf, dass jemand die Entscheidung trifft, diesen Gott zu stürzen. Es ist paradox, dass dieses System im 21. Jahrhundert, im Zeitalter von High-Tech und Internet, noch funktioniert.
Ein System wie bei George Orwell
Russland ist wieder zu einem Land der Verbannten geworden. Die Machtstruktur gleicht inzwischen einem System wie bei George Orwell. Die Russen wieder in Sowjetmenschen zu verwandeln, das wäre, wie wenn man die Zahnpasta zurück in die Tube drücken wollte. Stalin benötigte dafür die Maschinerie des totalen Terrors. Ich fürchte, dass die gleiche Maschine auch in unseren Zeiten existiert.
Frage: Ist nach Ihrer Überzeugung in einem Land wie Russland, das so lange despotisch beherrscht worden ist, überhaupt ein demokratisches politisches System denkbar?
Warum sollte es dazu kommen? Das kann im Grunde gar nicht sein. Ich habe oft gesagt, dass es der Fehler von Boris Jelzin und seines Umfelds in den 1990er Jahren gewesen ist, dass sie die politische Leiche der Sowjetunion nicht beerdigt haben. Sie haben sie bloß beiseite geschoben. So wurde sie zu einem Zombie. Jetzt ist sie auferstanden; und wir haben das Regime, mit dem wir es heute zu tun haben. Das ist nicht nur traurig, sondern auch gefährlich – für alle.
Frage: In Ihrer Erzählung „Lila Schwäne“ schildern Sie, wie in Russland die Staatsmacht in Aufruhr gerät: Über Nacht hat sich das Uran in den Atomsprengköpfen in Zucker verwandelt; das stellt die militärische Stärke des Landes in Frage. Ist nach Ihrer Ansicht also vor allem eine ins Absurde gesteigerte Komik oder das Groteske das literarische Mittel, um eine böse Wirklichkeit zu dekonstruieren?
Schweigen ist vielleicht die beste Medizin
In Russland herrscht eine solche Konzentration an Absurdem, dass man es weder auf eine logische oder lineare noch auf eine realistische Weise beschreiben kann. Man braucht dazu eine Super-Groteske. Aber für das literarische Schreiben ist die Situation jetzt sehr kompliziert. In diesem Augenblick sind viele Schriftsteller gar nicht fähig zu schreiben. Die Welt verändert sich sehr schnell, nicht nur in Russland. Die Schriftsteller sind kaum in der Lage, diesen Prozess genau zu erfassen; sie haben das Gefühl, dass sie immer zu spät kommen. Deshalb schweigen jetzt viele Autoren. Schweigen ist vielleicht die beste Medizin. Auch ich mache manchmal eine Pause zwischen meinen Romanen.
Frage: Gelten Sie heute im Putin-Staat aufgrund Ihrer kritischen Äußerungen zum Ukraine-Krieg als Unperson oder sind Sie als Autor in Russland weiterhin präsent?
Meine Bücher werden in Russland nach wie vor publiziert. Aber niemand weiß, was morgen mit meiner Literatur passiert. Alles ist möglich. Ich habe immer darauf gehofft, mit meinen Büchern Einfluss nehmen zu können auf die Entwicklung in Russland. Ich bin tatsächlich froh, viel geschrieben und veröffentlicht zu haben. Und ich glaube weiterhin an meine russischen Leser.
Zur Person: Vladimir Sorokin, 1955 geboren, gilt heute als einer der wichtigsten russischen Schriftsteller. Er hat Theaterstücke, Erzählungen und Romane veröffentlicht – etwa „Der Schneesturm“ (2010) und „Der Tag des Opritschniks“ (2006). Auch sein neuer Roman „Doktor Garin“ ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 lebt der Autor in Berlin im Exil.
Das Gespräch führte HELMUT L. MÜLLER
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
