Irina Rastor­gue­vas Collage aus Absur­di­tä­ten, Lügen und Gewalt

Szene aus Putins TV-Show „Direk­ter Draht“. Die jähr­li­che Pro­pa­gan­da­ver­an­stal­tung wird 2024 mit der tra­di­tio­nel­len Pres­se­kon­fe­renz zusam­men­ge­legt. Rus­si­schen Medi­en­be­rich­ten zufolge werden aus­schließ­lich vorher mit dem Kreml arran­gierte Fragen zugelassen.

Nach ihrem viel­be­ach­te­ten Debut „Das Russ­land­si­mu­lak­rum“ hat Irina Rastor­gueva ihr zweites Buch vor­ge­legt. „Pop-Up-Pro­pa­ganda“ ist eine depri­mie­rende Abrech­nung mit den Aus­wir­kun­gen der Pro­pa­ganda auf die rus­si­sche Bevöl­ke­rung, schreibt Till Schmidt.

Wer in Putins Russ­land hinter die Staats­pro­pa­ganda blicken will, lebt nicht erst seit dem 22. Februar 2022 gefähr­lich. Repor­ter ohne Grenzen zufolge wurden seit Wla­di­mir Putins ersten Amts­an­tritt 2000 bereits 41 Medi­en­schaf­fende wegen ihrer Arbeit ermor­det. Bereits vor dem Groß­an­griff auf die Ukraine von 2022 erklärte das Regime über ein­hun­dert Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten zu „aus­län­di­schen Agenten“. Was bleibt, ist vor allem das staat­lich kon­trol­lierte Fernsehen.

Irina Rastor­gueva hat Russ­land bereits vor einigen Jahren ver­las­sen. 1983 in Juschno-Sacha­linsk geboren, arbei­tete sie nach dem Phi­lo­lo­gie-Studium als Kul­tur­jour­na­lis­tin für mehrere rus­si­sche Zeit­schrif­ten und Radio­sen­der. Seit 2017 lebt sie im Berlin, wo sie als Publi­zis­tin unter anderem in der Ber­li­ner Zeitung, der Frank­fur­ter All­ge­meine Zeitung und in der NZZ ver­öf­fent­licht. 2022 erschien ihr viel beach­te­ter Buch-Essay „Das Russ­land­si­mu­lak­rum“ (Matthes & Seitz) über die damals noch leben­dige rus­si­schen Oppo­si­tion und die Kul­tur­ge­schichte des poli­ti­schen Pro­tests vor Ort.

Eine irr­wit­zige, beklem­mende Collage

In ihrem neuen Buch seziert Rastor­gueva die Pro­pa­ganda-Welt des Kreml. Auf Grund­lage einer Analyse von staat­li­cher oder staats­na­her Medien hat sie eine irr­wit­zige, beklem­mende Collage geschaf­fen. Auch für Rastor­gueva schwebt über allen ihren öffent­li­chen poli­ti­schen Äuße­run­gen die Angst um die eigenen Ange­hö­ri­gen, die vor Ort geblie­ben sind. Mit ihrer Mutter in Juschno-Sacha­linsk spreche sie am Telefon „jedes Mal, als sei das letzte Mal“, schreibt Rastor­gueva im Vorwort ihres Buches. Für sie selbst sei es derzeit „kaum vor­stell­bar“, eines Tages in Russ­land ohne Angst „die Wahr­heit über Russ­land“ ver­öf­fent­li­chen zu können.

Keine Aussage sei zu abwegig, keine Lüge zu dreist, um nicht Eingang in die rus­si­schen Medien zu finden. Immer wieder zieht Rastor­gueva Ver­glei­che zur von Victor Klem­pe­rer „Lingua Tertii Imperii“ genann­ten Sprache der Nazi-Zeit und zum „Neu­sprech“ aus George Orwells Dys­to­pie „1984“. Auch der Sprache puti­nis­ti­scher Pro­pa­ganda geht es darum, andere Denk­wei­sen unmög­lich zu machen und das, was öffent­lich sagbar ist, auf die Ideo­lo­gie und die poli­ti­schen Ziele des Regimes auszurichten.

Die all­ge­meine Bot­schaft der rus­si­schen Pro­pa­ganda ist für Rastor­gueva „an fünf Fingern abzu­zäh­len“: „Wir sind stark, wir sind eine Macht, vor uns haben alle Angst, wir werden einfach nur benei­det, wes­we­gen man uns alles, was wir haben, nehmen will.“ Damit ver­knüpft werden Pseudo-Wis­sen­schaft und Bezüge zum ortho­do­xen Chris­ten­tum, mit­un­ter auch zum Scha­ma­nis­mus. Diesen ein­zel­nen Ele­men­ten rus­si­scher Pro­pa­ganda sind die Themen eigener Kapitel gewidmet.

„Libe­rast“, „Gayropa“ und andere sexis­ti­sche Beleidigungen

Zu lesen ist von Pro­pa­ganda-Begrif­fen wie „libe­rast“, einem Kof­fer­wort aus „liberal“ und Päd­erast; selbst­ver­ständ­lich auch von „Gayropa“ sowie von den üblen, an euro­päi­sche Spit­zen­po­li­ti­ke­rin­nen wie Ursula von der Leyen oder Anna­lena Baer­bock gerich­te­ten sexis­ti­schen Belei­di­gun­gen. Ins­ge­samt, schreibt Rastor­gueva, wohne der rus­si­schen Pro­pa­ganda ein Machis­mus inne, der mit dem Bedürf­nis nach per­ma­nen­ter Demü­ti­gung des Rivalen oder Feindes ver­knüpft ist. Der von Putin zu Beginn der Groß­in­va­sion der Ukraine zitierte Satz „Ob es dir gefällt oder nicht, ertrag es, meine Schöne“ ist bekannt­lich eine Vergewaltigungsfantasie.

Rastor­gue­vas Buch ist keine sys­te­ma­ti­sche Analyse puti­nis­ti­scher Pro­pa­ganda oder ein­zel­ner Ver­satz­stü­cke nach streng-wis­sen­schaft­li­cher Metho­dik. Beein­dru­ckend ist vor allem die geballte Wucht, die ihre ver­stö­rende Zusam­men­stel­lung ent­fal­tet. Dem Buch bei­gefügt ist ein „Rat­ge­ber für das Über­le­ben“. In den darin ver­sam­mel­ten Illus­tra­tio­nen gibt Rastor­gueva nicht nur prak­ti­sche Tipps fürs Pro­tes­tie­ren im repres­si­ven Staat, sondern prä­sen­tiert ver­ein­zelt auch humor­volle Comic-Col­la­gen wie etwa ein „Aus­län­di­sche-Agenten-Bingo“.

Sar­kas­mus und Ironie

„Pop-Up-Pro­pa­ganda“ ist durch­zo­gen von Sar­kas­mus und Ironie. Als Stil­mit­tel macht dies die von Rastor­gueva prä­sen­tierte Collage aus Absur­di­tä­ten, Lügen und Gewalt ein Stück weit erträg­li­cher. Ins­ge­samt aber ist „Pop-Up-Pro­pa­ganda“ ein depri­mie­ren­des Buch – das auch, weil es den Ein­druck ver­mit­telt, das Land sei heillos gefan­gen im Status Quo. Rastor­gueva macht deut­lich, wie viele Men­schen mit­ma­chen und von Putins Regime gekö­dert und über­wäl­tigt werden. Den Teil der poli­ti­sche Oppo­si­tion, der nicht im Gefäng­nis sitzt oder schon tot ist, beschreibt Rastor­gueva als zutiefst zer­split­tert. Wie und durch wen soll da – irgend­wann – ein anderes, demo­kra­ti­sches Russ­land entstehen?

Die gleich­ge­schal­te­ten Medien vor Ort jeden­falls bieten der Bevöl­ke­rung eine „schlaf­wand­le­ri­sche Exis­tenz in gut gepols­ter­ter Unwis­sen­heit“, so Rastor­gueva. Eine Hand­voll frü­he­rer Jour­na­lis­ten habe nun dafür gesorgt, dass „Russ­land im Fern­se­hen und in der Rea­li­tät zu völlig unter­schied­li­chen Ländern gewor­den sind.“ Wo Putin per­sön­lich auf­taucht, werden die Straßen in den Städten gepflas­tert, die Fenster ver­fal­le­ner Häuser mit Bannern bedeckt. Für Rastor­gueva offen­bart sich darin ein Pop-Up-Land, in dem mani­pu­la­tive Pro­pa­ganda und dreiste Lügen dazu dienen, die all­ge­gen­wär­tige Gewalt und Aggres­sion zu verdecken.

 

Till Schmidt stu­dierte Geschichte, Politik- und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten an den Uni­ver­si­tä­ten Olden­burg, Beer Sheva, Bremen und München. Für ver­schie­dene deutsch­spra­chige Medien arbei­tet er als freier Journalist. 

Link zum Verlag: https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/pop-up-propaganda.html

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