Wie Russland um seine Identität ringt (3/3)
WM-Dossier “Russland verstehen“: Der Kreml sucht eine Zukunftserzählung. Doch die Wirtschaft ist marode und im globalen Wettbewerb abgehängt. Die Politregisseure flüchten deshalb in eine Identitätspolitik von geopolitischem Ausmaß: Die Inszenierung des Kulturkampfes gegen „Gayropa“ – gegen den Westen und die liberale Ordnung – soll verhindern, dass die Herrschaft des Putin-Syndikats zerfällt.
Russlands Wirtschaft ist abhängig von Erdölexporten und ziemlich marode. Deshalb benötigen die Kremlpropagandisten eine verheißungsvolle Erzählung, die die Russen von der postsowjetischen Tristesse ablenkt. Seit den 1990er Jahren heißt es stets, Russland sei eine Großmacht gewesen und werde es immer sein. Zunächst leitete man aus diesem Postulat die „Rückkehr nach Europa“ ab – Jelzins junger Außenminister Andrej Kosyrew bezeichnete Russland als „freundliche Großmacht“ und versicherte, ein demokratisches Russland würde niemals wieder nach imperialer Größe streben.
Dezidierte Abwendung von „Gayropa“
Bald jedoch kehrte die russische Politik zu vertrauten Kategorien sowjetischer Außenpolitik zurück – dem Denken in geopolitischen Einflusszonen – und redete dem Land ein, es sei in seiner Würde als Großmacht gekränkt worden. Putin beklagt den Verlust des Imperiums als schmerzhaftes Trauma – darauf spielt auch sein berühmtes Zitat vom Zerfall der Sowjetunion als größter geopolitischer Katastrophe des 20. Jahrhunderts an – und verbreitet das Narrativ, Russland sei eine von westlichen Feinden belagerte Festung. Solche überzogenen Szenarien steigert Putins Videokratie zu überdimensionalen Drohkulissen. Sie verunglimpft den Westen und schart die Bevölkerung um ihren Präsidenten.
Aus orthodoxem Ultrakonservatismus und Versatzstücken sowjetischer Traditionen zimmert der Kreml ein nationales Selbstbild zusammen.
Mit Putins dritter Präsidentschaft im Jahr 2012 setzt außerdem eine konservative Wende ein, die den antiwestlichen Kurs ideologisch unterfüttert. Staat und orthodoxe Kirche demonstrieren den Schulterschluss und präsentieren sich als natürliche Partner; der Patriarch geht sogar so weit, im ehemaligen Geheimdienstoffizier Putin ein Wunder Gottes zu sehen. Umgekehrt beschwört Putin die nationsbildende Kraft der Kirche, weshalb er die aufsässigen Girls von Pussy Riot hinter Gitter setzt. Im staatlichen Fernsehen werden Polemiken gegen den „hyperliberalen Westen“ zur Mode, der als „Gayropa“ karikiert wird. Dahinter steckt die Infragestellung der kulturellen Zugehörigkeit Russlands zu Europa. Das ist ein U‑Turn gegenüber den ersten Jahren Putins Außenpolitik, die noch ganz im Zeichen eines prowestlichen Kurses standen. Nun hängt er der Philosophie des „Eurasianismus“ an und sinnt über die Gründung einer stärker politischen „Eurasischen Union“.
Eine eklektische orthodox-sowjetische Identität soll Russland zusammenhalten
Aus orthodoxem Ultrakonservatismus und Versatzstücken sowjetischer Traditionen zimmert der Kreml ein neues nationales Selbstbild zusammen, das die Denkhorizonte und Debatten bestimmt. Die Annexion der Krim, die Putin als „Heimholung“ bezeichnete, löste in Russland Stürme nationaler Begeisterung aus und trieb die Zustimmung zum Präsidenten in Umfragen auf über 80 Prozent. Durch den Ukrainekrieg wittert Russland wieder den Status als imperiale Großmacht. Über Nacht wird das Land vom Syndrom der gekränkten Großmacht geheilt, ohne die es keinen Frieden gibt in Europa.
In welche Richtung wird Putin seine vermeintliche Großmacht führen? In seinem jüngsten Bericht zur Lage der Nation machte er sich für die Liberalisierung des Wirtschaftsbereichs stark, um den Lebensstandard der Bürger zu verbessern und die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu fördern. Gleichzeitig will er als schlagkräftige Militärmacht eine postliberale Weltordnung schaffen, wie sie der Außenpolitikexperte Fjodor Lukjanow skizziert: Dem Westen solle Russland den Rücken kehren und gemeinsam mit dem Iran eine Achse schmieden.
Unter westlichen Kommentatoren überwiegt die pessimistische Einschätzung, mit liberalen Reformen und einem Tauwetter gegenüber dem Westen sei in naher Zukunft nicht zu rechnen. Optimisten, darunter die Autorin, halten einen Schwenk Richtung Westen durchaus für möglich – denn ohne Reformen in Wirtschaft und Politik wird Russland an seinem eigenen Anspruch auf Großmachtstatus scheitern müssen.
Von Margareta Mommsen erschien im Verlag C.H. Beck „Das Putin Syndikat – Russland im Griff der Geheimdienstler“ (2017).
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