MH17: Eyes Wide Shut
Die Hinterbliebenen der Opfer haben das Recht auf Wahrheit. Die Frage nach der politischen Verantwortung des Kreml gehört auf den Tisch – auch und gerade zur Fußball-WM.
Stolz verkündete der Separatistenführer Igor Strelkow – ein Angehöriger des russischen Militärgeheimdienstes – am 17. Juli 2014 den Abschuss einer ukrainischen Militärmaschine. Doch schnell war das Desaster klar: Hier war ein malaysisches Zivilflugzeug vom Himmel geholt worden. Binnen Minuten verschwand der Post des stolzen Rebellen aus dem Netz. Hastig verließ die Besatzung einer Buk-Abschussrampe mit ihrer Raketenbasis die Ukraine. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, die drei verbliebenen Raketen mit einer Plane abzudecken. Deswegen konnten die Internetrechercheure von Bellingcat diese übereilte Flucht zurück auf russisches Staatsgebiet mit Bildern aus dem Netz dokumentieren.
Nach dem Abschuss setzte die Propagandamaschine des Kreml ein. Es hagelte verschiedene, sich widersprechende Erklärungen: Eine ukrainische Mig oder SU-25 habe die MH 17 abgeschossen. Die MH 17 sei besetzt gewesen mit toten Körpern. Der russische Waffenhersteller der Buk „belegte“ mit einem gefakten Gutachten die vermeintliche Verantwortung für den Abschuss durch die ukrainische Armee.
Nach nunmehr vier Jahren hat die internationale Ermittlergruppe aus den Staaten der Absturzopfer alle Vertuschungspropaganda des Kreml widerlegt. Der Abschuss der MH 17 erfolgte durch eine Rakete vom Typ Buk aus dem Bestand der 53. Flugabwehr-Brigade der Russischen Föderation Kursk. Der Abschuss der Zivilmaschine mag ein Versehen gewesen sein, aber der Kreml hat ihn wissentlich in Kauf genommen. Der Tod von 298 Menschen ist die Folge eines Krieges, den der Kreml in der Ukraine führt. Der Kreml will die Ukraine als sein Einflussgebiet in den Vorhof des russischen Imperiums zurückholen.
Der Bericht der internationalen Ermittler wurde im Westen mit erstaunlichem Gleichmut aufgenommen. Wenige Tage vor dem großen Fest des Fußballs will offensichtlich niemand Spielverderber sein. Und: Was hieße es, wenn einem russischen Präsidenten die politische Verantwortung für den Tod von 298 Zivilisten zuzurechnen wäre? Alle wollen den Dialog mit Russland. Recht so. Wir stehen vor der Fußball-WM. Also auf den Tisch mit der Frage nach der Verantwortung für den Abschuss von der MH 17.
Niemand kann den Hinterbliebenen ihre Lieben zurückbringen. Aber sie haben das Recht auf Wahrheit. Westliche Demokratien, die reklamieren, dass ihre Politik dem Völkerrecht und den Geboten der Menschlichkeit folge, sollten schleunigst klare Fragen an den Kreml stellen. Wenn die Staatsfrauen und ‑männer jedoch Wahrheit und Klarheit fürchten, sollten sie das große Putin-Schauspiel nicht von der Tribüne, sondern in ihren heimischen Fernsehsesseln anschauen.
Dieser Kommentar erschien am 12. Juni 2018 im Weser Kurier.
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