Düstere Zeiten in Moskau
Während Angehörige der liberalen Intelligenz Russland in Scharen verlassen, herrscht unter den zurückgebliebenen Angst und Depression. Im folgenden beschreibt Vera, eine junge Mutter, wie sich ihr Leben in Moskau seit Kriegsbeginn verändert hat.
Heute haben sie das Gesetz über die Ausweitung des Ausländische-Agenten Registers verabschiedet.* Das ist jetzt eigentlich keine Nachricht, weder interessant noch beängstigend – es ist ja klar, dass sie uns schon längst im Visier haben.
Aber heute hat jemand, der mir sehr nahesteht, gesagt: „Es tut mir leid, aber ich werde dich (auf Facebook) entfreunden“. Naja, du verstehst, so sind eben die Zeiten, in denen wir leben.
Ich habe gesagt, dass ich das natürlich verstehe, gar kein Problem. Jeder hat seine Ängste, jeder bewältigt sie, so gut er kann.
Aber eigentlich verstehe ich gar nichts mehr. Innerhalb von zwei Wochen hat sich das Leben bis zur Unkenntlichkeit verändert, und eigentlich kann man sagen, dass es sich einfach aufgelöst hat. Menschen haben das Land verlassen, Institutionen sind zusammengefallen, und unsere Tätigkeiten haben ihren Sinn verloren. Mein persönliches Moskau hat sich von einer Stadt des Humors und der gesunden Ironie zu einem Ort dauerhaften Weinens gewandelt.
Zunächst herrschte überall Totenstille. Dann tauchten in den sozialen Medien Posts von denjenigen auf, die das Land verlassen hatten – vor langer Zeit oder gerade erst. Die sind ‑sorry – unerträglich zu lesen. Denn da steht mit jedem Wort, dass wir jetzt andere Leben führen, andere Diskurse führen und andere Interessen haben. Wie soll man damit fertig werden?
Wir, die wir geblieben sind, schweigen. Weil wir nicht weinen dürfen, wenn wir an die Ukraine denken. Weil wir uns freuen müssen, über die, die entkommen sind. Und weil wir einfach nicht reden können, wir können es einfach nicht.
Jeden Morgen quäle ich mich nach einer schlaflosen Nacht aus dem Bett, bringe die Kinder zur Schule, koche Essen, erledige das Wesentliche wie automatisch. Ich weiß gar nicht, wie jetzt Menschen ohne Kinder leben: Wenn ich nicht für sie die Illusion eines normalen Lebens aufrechterhalten müsste, würde ich gar nicht erst aufstehen.
Dabei sind Kinder eigentlich das Schlimmste, was es gibt. Seit zwei Wochen bin ich kaum noch in der Lage, mit ihnen zu sprechen. Ich kann sie umarmen, ich kann mit ihnen spielen, aber ich kann nicht mit ihnen kommunizieren:
- Mama, wird alles wieder gut? – fragt Mascha, die alles weiß und versteht, und aus deren Klasse vier Kinder das Land verlassen haben, darunter ihre beste Freundin.
- Natürlich wird es das!
Dabei muss man dann ganz selbstbewusst lächeln, so lange wenigstens, bis man sich abgewendet hat.
Ich fühle mich als nutzloser Erwachsener, der alles ruiniert hat: Der nicht genug gekämpft hat, der verloren hat, der nicht sofort gegangen ist, und jetzt darüber nachdenkt, später ins Ungewisse zu gehen.
Es ist ein endloses lose-lose. Auf verbrannter Erde. In den Ruinen eines vergangenen Lebens. Mit einer Horde Orks vor dem Fenster und düsteren Aussichten.
Verehrte, liebe, weggegangene Freunde. Bitte schreibt nicht, dass die Russen ihre Kinder nicht lieben. Das ist nicht der Fall, wir lieben sie.
Das Foto ist für die Atmosphäre. So fängt hier der Morgen an.
Moskauer Sammeltaxis („Marschrutka“) mit auf dem Heck aufgemaltem „Z“, dem inoffiziellen Symbol des in Russland „Militäroperation“ genannten Angriffkrieges gegen die Ukraine.
* Die Staatsduma hat am 10. März ein Gesetz verabschiedet, das die Zahl der „Ausländischen Agenten“ massiv ausweitet. Ab sofort gelten auch alle derzeitigen und ehemaligen Angestellten von so gebrandmarkten Organisationen, sowie Personen, die mit ihnen zusammengearbeitet haben, als „Agenten“.
Dieser Text ist zuerst in russischer Sprache auf Facebook erschienen. Der vollständige Name der Autorin ist der Redaktion bekannt, wir veröffentlichen ihn aber nicht, um sie zu schützen.
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