Was der Sacha­row-Preis für Nawalny bedeutet

Daria Nawal­naja, die Tochter von Alexej Nawalny, nimmt in Straß­burg den Sacha­row-Preis entgegen

Am 15. Dezem­ber hat Alexej Nawal­nys Tochter Daria Nawal­naja stell­ver­tre­tend für ihren Vater den Sacha­row-Preis für geis­tige Frei­heit ent­ge­gen­ge­nom­men. Der Preis­trä­ger selbst saß wäh­rend­des­sen den 331. Tag in Haft. Der rus­si­sche Poli­to­loge und Publi­zist Fjodor Kra­schen­in­ni­kow erklärt, wie sich die heutige Oppo­si­tion von den sowje­ti­schen Dis­si­den­ten um Sacha­row unter­schei­det und warum dieser Preis jetzt so wichtig ist.

Im Westen wird die rus­si­sche Oppo­si­tion derzeit oft mit sowje­ti­schen Dis­si­den­ten ver­gli­chen, und deshalb ist es von hoher Sym­bol­kraft, wenn der schärfste Kri­ti­ker Putins und pro­mi­nen­teste poli­ti­sche Gefan­gene des Landes den nach dem bekann­tes­ten sowje­ti­schen Dis­si­den­ten benann­ten Sacha­row-Preis erhält. Der Ver­gleich ist durch­aus sinn­voll, aber die Par­al­le­len zwi­schen beide Epochen und Phä­no­mene sind begrenzt.

Portrait von Fjodor Krascheninnikow

Fjodor Kra­schen­in­ni­kow ist ein rus­si­scher Publi­zist und Poli­to­loge. Er lebt derzeit in Litauen.

Die sowje­ti­schen Dis­si­den­ten waren eine kleine Gruppe, die prak­tisch in völ­li­ger Iso­la­tion von der Mehr­heits­be­völ­ke­rung der UdSSR lebte. Die dama­li­gen tech­no­lo­gi­schen Mög­lich­kei­ten erlaub­ten es ihnen nicht, über ihre eigene Kreise hinaus in die Gesell­schaft hinein zu wirken.

Die Dis­si­den­ten waren mora­lisch stark, poli­tisch weniger

Die Dis­si­den­ten haben mit hel­den­haf­tem Mut mora­li­schen Wider­stand gegen die Sowjet­dik­ta­tur geleis­tet. Ihre Opfer und Stand­haf­tig­keit beein­dru­cken umso mehr, weil sie ja nicht wussten, dass sie einmal die Macht in Russ­land über­neh­men könnten.

Die von Michail Gor­bat­schow initi­ierte Pere­stroika haben viele von ihnen mit Argwohn auf­ge­nom­men. Andrei Sacha­row aber tat etwas sehr schlaues. Kaum war er aus dem Exil nach Moskau zurück­ge­kehrt, begann er sich poli­tisch zu betä­ti­gen. Er ließ sich ins Par­la­ment wählen, wo die Kom­mu­nis­ten nach wie vor die abso­lute Mehr­heit der Abge­ord­ne­ten stell­ten. Trotz Gespötts seitens der pro­kom­mu­nis­ti­schen Abge­ord­ne­ten und der staat­li­chen Presse stellte Sacha­row sich wieder und wieder ans Red­ner­pult um seine Ideen zu ver­tei­di­gen. Und weil die Sit­zun­gen damals im sowje­ti­schen Fern­se­hen und Radio über­tra­gen wurden, war das für ihn eine ein­ma­lige Chance, seine Meinung vor der ganzen Nation auszubreiten.

Leider war Andreij Sacha­row bereits gesund­heit­lich ange­schla­gen. Am 14 Dezem­ber 1989 starb er. Es ist schwer zu sagen, was wäre, wenn er noch einige Jahre gelebt hätte. Ange­sichts seiner mora­li­schen Auto­ri­tät hätte er aber zwei­fels­ohne Ein­fluss auf die ent­ste­hende demo­kra­ti­sche Bewe­gung in Russ­land gehabt und sie kon­se­quen­ter und radi­ka­ler gemacht. Der Appa­rat­schik Boris Jelzin konnte nur deshalb zum Führer der demo­kra­ti­schen Oppo­si­tion werden, weil Sacha­row nicht mehr am Leben war.

Die Dis­si­den­ten konnten der Sowjet­dik­ta­tur mora­li­schen Wider­stand leisten, poli­tisch haben sie aber ver­lo­ren. Das Sowjet­re­gime wurde ohne ihre direkte Mit­hilfe von der Par­tei­füh­rung demon­tiert, und das auf den Ruinen der UdSSR ent­stan­dene neue Russ­land wurde von sowje­ti­schen Beamten kon­trol­liert, die zum rechten Zeit­punkt ihre Fähn­chen aus­ge­tauscht hatten.

Russ­land hat die Ent­so­wje­ti­sie­rung verpasst

Deshalb ist es nicht weiter ver­wun­der­lich, dass es in Russ­land weder Lus­tra­tio­nen noch eine Ent­so­wje­ti­sie­rung gab. Die Mehr­heit der Richter, Staats­an­wälte und Geheim­dienst­of­fi­ziere, die vorher Dis­si­den­ten ver­folgt hatten, setzten ihre Kar­rie­ren fort, während die ehe­ma­li­gen Dis­si­den­ten in der rus­si­schen Politik nur eine Rand­er­schei­nung waren. Ebenso logisch war es, dass zehn Jahre nach Sacha­rows Tod ein ehe­ma­li­ger KGB-Agent namens Wla­di­mir Putin an die Macht kam.

Die heutige rus­si­sche Oppo­si­tion, deren unan­ge­foch­te­ner Führer Alexej Nawalny ist, hat sich unter ganz anderen Umstän­den ent­wi­ckelt und sich von Anfang an nicht auf mora­li­schen Wider­stand beschränkt sondern ver­sucht, das Putin-Regime effek­tiv zu bekämp­fen und selbst an die Macht zu kommen um Russ­land wieder auf einen sta­bi­len demo­kra­ti­schen Pfad zu bringen.

Mit Hilfe moder­ner Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel haben sich Alexej Nawalny und sein Team von Anfang ihre Bot­schaft an ein breites Publi­kum in Russ­land gerich­tet. Mit seinen regel­mä­ßi­gen Video-Auf­trit­ten erreichte Nawalny Mil­lio­nen. Und er hat nicht nur an Wahlen teil­ge­nom­men, wenn man ihn ließ, sondern rief auch seine Anhän­ger auf, zu kan­di­die­ren. Seine Mas­sen­pro­teste waren kein Selbst­zweck sondern Ver­su­che, Druck auf die Regie­rung aus­zu­üben, um den mit Putin unzu­frie­de­nen Russen eine poli­ti­sche Stimme zu geben. Nawal­nys Pro­test­kam­pa­gnen waren die ersten, bei denen Men­schen im ganzen Land gemein­sam auf die Straßen gingen.

Als der Geheim­dienst ver­suchte, ihn umzu­brin­gen, war Alexej Nawalny zu einem lan­des­weit bekann­ten Poli­ti­ker mit eigenen Medien, einem Netz­werk aus Wahl­kampf­stä­ben im ganzen Land und einem funk­tio­nie­ren­den Spen­den­sys­tem gewor­den. Im Kreml wusste man ganz genau, dass Nawalny damit Ein­fluss auf die Duma­wah­len im Herbst 2021 haben würde, und deshalb ver­suchte man auch, ihn vor Beginn des Wahl­kamp­fes ein Jahr vorher umzubringen.

Der Gift­an­schlag auf Nawalny war also nicht einfach ein ideo­lo­gisch moti­vier­ter Akt der Ver­gel­tung, sondern auch eine prag­ma­ti­sche poli­ti­sche Abrech­nung. Und heute können wir fest­stel­len, dass es Nawalny und seinen Leuten doch gelun­gen ist, die Wahlen zu beein­flus­sen – obwohl er nach seiner Ver­gif­tung in Behand­lung und anschlie­ßend im Gefäng­nis war, und obwohl seine poli­ti­schen Struk­tu­ren in Russ­land zer­schla­gen wurden.

Nawalny bleibt auch im Gefäng­nis einflussreich

Auch wenn er im Gefäng­nis sitzt, bleibt Nawalny nicht nur mora­li­sche Auto­ri­tät für jene, die mit Putin nicht ein­ver­stan­den sind, sondern er ist wei­ter­hin ein ein­fluss­rei­cher poli­ti­scher Akteur. Seine Leute haben immer noch ein rie­si­ges Publi­kum in Russ­land und fügen der Putin-Dik­ta­tur wieder neue Schäden zu, indem sie ihre Lügen und Kor­rup­tion aufzeigen.

Die Tat­sa­che, dass er das Atten­tat über­lebt hat, frei­wil­lig nach Russ­land zurück­kehrte und aus faden­schei­ni­gen Gründen inhaf­tiert wurde haben dazu geführt, dass viele, die Nawalny nicht ernst genom­men haben, nichts über ihn wussten oder ihn sogar heftig kri­ti­siert haben, ihre Haltung ihm gegen­über geän­dert haben. Sein Ringen mit dem Tod und der damit ver­bun­dene riesige inter­na­tio­nale Skandal, konnte die Auf­merk­sam­keit füh­ren­der Poli­ti­ker und Medien des Westens auf Nawalny und seine Akti­vi­tä­ten lenken. Der Preis, den er dafür zahlt, ist sehr hoch, aber die Wirkung ist ver­blüf­fend: Zum ersten Mal seit Jahren hat der der Westen ein anderes Russ­land gesehen – nicht nur uneinig, streit­lus­tig und ver­är­gert über Putin, sondern bereit, ihn zu bekämp­fen, ihm ent­ge­gen­zu­tre­ten und ihn bei Wahlen zu besiegen.

Und was zählt, ist nicht der Preis, sondern die Unter­stüt­zung durch die Men­schen in Europa.

Ein Preis der poli­ti­sche Unter­stüt­zung ausdrückt

Der Sacha­row-Preis des Euro­pa­par­la­ments ist sehr wichtig für Alexej Nawalny, für sein Team und für alle, die ver­su­chen, sich Putins Dik­ta­tur in Russ­land und allen anderen Dik­ta­tu­ren der Welt zu wider­set­zen. Anders als der Frie­dens­no­bel­preis, der nach nicht­öf­fent­li­chen Bera­tun­gen in geschlos­se­nem Kreis ver­lie­hen wird, wird der Sacha­row-Preis vom Euro­päi­schen Par­la­ment ver­lie­hen und ist daher viel bedeut­sa­mer: Die Ver­lei­hung an Nawalny wurde von gewähl­ten EU-Bürgern unter­stützt, wodurch nicht nur mora­li­sche, sondern auch poli­ti­sche Unter­stüt­zung für den Kampf für Demo­kra­tie in Russ­land im Namen der Men­schen in Europa zum Aus­druck gebracht wurde.

Putins Dik­ta­tur ist viel schwä­cher als die sowje­ti­sche, und die Oppo­si­tion in Russ­land ist selbst jetzt noch deut­lich ein­fluss­rei­cher als die sowje­ti­schen Dis­si­den­ten es auf dem Höhe­punkt ihrer Bemü­hun­gen waren. All dies lässt hoffen, dass sich die Kämpfer für Frei­heit und Demo­kra­tie in Russ­land früher oder später durch­set­zen und das voll­enden werden, was Andrej Sacha­row nicht gelun­gen ist – ihr Land auf den einzig mög­li­chen euro­päi­schen, demo­kra­ti­schen und freien Weg zurückzuführen.

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