Nachrüstung 2.0? Russland, USA und europäische Sicherheit
Die Abkehr von einem prekären System wechselseitiger Sicherheit zu einem ungezügelten Rüstungswettlauf würde die Welt näher an den Rand eines Atomkriegs bringen. Es hilft allerdings nichts, nur mit dem Finger auf Trump zu zeigen. Es braucht Druck auf Moskau, die Aufrüstung mit Atomwaffen kurzer und mittlerer Reichweite zu stoppen. Sie zielt auf Einschüchterung der Europäer.
In der aktuellen Debatte um den Mittelstreckenraketen-Vertrag INF wird gern vergessen, dass Russland bereits ein deutliches Übergewicht bei taktischen Atomwaffen in Europa besitzt. Im Frühjahr dieses Jahres wurden Iskander-Raketen mit einer Reichweite von 500 km in Königsberg stationiert. Damit können Berlin und Warschau angegriffen werden. Falls es zutrifft, dass Moskau inzwischen auch über landgestützte Marschflugkörper mit einer Reichweite von ca. 2500 km verfügt, verschiebt sich das atomare Kräftegewicht weiter zugunsten des Kremls. Dass die russische Führung damit gegen den INF-Vertrag verstößt, ist keine Erfindung von Donald Trump. Diese Befürchtung wurde beim NATO-Gipfel im Juli 2018 von allen Mitgliedsstaaten bekräftigt, Deutschland eingeschlossen. Geschehen ist seither nichts Nennenswertes, um die Sachlage zu klären.
Die Aufrüstung Russlands mit Kurz- und Mittelstreckenraketen ist nicht banal. Diese Waffen dienen nicht nur der atomaren Abschreckung gegen einen potentiellen Angreifer (wer glaubt im Ernst, dass die NATO einen militärischen Angriff auf Russland im Schilde führt?). Sie sind zugleich Drohinstrumente gegen den Westen im Fall einer Eskalation des Krieges in der Ukraine oder einer feindlichen Übernahme der baltischen Staaten durch den Kreml: Mischt euch nicht ein, sonst drohen wir Westeuropa mit punktuellen Atomschlägen.
Verfügt die NATO über keine vergleichbaren Waffensysteme in Europa, müsste sie entweder stillhalten oder mit dem Einsatz strategischer Atomwaffen drohen. Da das die Gefahr eines atomaren Infernos mit vollständiger gegenseitiger Vernichtung birgt, wäre es keine taugliche Option, um den Kreml vom Einsatz taktischer Atomwaffen abzuschrecken. Damit verfügte die russische Führung über die Eskalationsdominanz in einem potentiellen Konflikt mit dem Westen. Angesichts der tief sitzenden Furcht vor einem Krieg mit Russland erweitert das den machtpolitischen Spielraum Putins, ohne mit ernsthafter Gegenwehr aus Berlin oder Paris rechnen zu müssen.
Nachrüstungsdebatte 2.0
Wir sind damit zurück in der Debatte um die „Nachrüstung“ vor bald 40 Jahren, die damals die Republik gespalten hat – mit dem Unterschied, dass heute weit und breit kein Helmut Schmidt in Sicht ist, der eine notwendige, aber unpopuläre Entscheidung gegen große Widerstände durchzieht. Ohne eine konsequente Antwort des Westens auf die sowjetische SS 20 hätte es kein Abkommen zum Bann landgestützter Mittelstreckenraketen gegeben.
Wer heute fordert, wir sollten uns vom atomaren Schutzschirm der USA abkoppeln („Abzug aller amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland“), gibt Putin freie Hand für die Fortsetzung seiner militärischen Machtpolitik in Russlands Nachbarschaft und darüber hinaus. Das wird dazu führen, dass sich die baltischen Staaten und Polen umso enger an die USA anlehnen. Nicht nur für Washington gilt, dass nationale Alleingänge von Übel sind. Wir brauchen jetzt dringend eine gemeinsame Beratung der NATO, wie auf die neue sicherheitspolitische Lage zu antworten ist, und innerhalb der NATO möglichst eine gemeinsame europäische Position.
Erste Priorität muss sein, das INF-Abkommen zu retten. Das erfordert nicht nur ein Einlenken der Trump-Administration, sondern vor allem Druck auf Moskau, sich an das Abkommen zu halten und die Entwicklung von Atomraketen mittlerer Reichweite einzustellen. Darüber hinaus sollte die EU die Initiative ergreifen, auch China in ein multilaterales System der Rüstungskontrolle einzubeziehen, um ein atomares Wettrüsten in Asien zu verhindern. Bei der angekündigten Aufkündigung des INF durch die USA geht es nicht nur um Russland, sondern auch um die chinesische Aufrüstung. Trump und die Hardliner um John Bolton sehen multilaterale Abkommen in erster Linie als Einschränkung der Handlungsfreiheit Amerikas. Ihre Rückkehr zum Unilateralismus widerspricht den Interessen Europas.
Die Abkehr von einem prekären System wechselseitiger Sicherheit zu einem ungezügelten atomaren Rüstungswettlauf würde die Welt näher an den Rand eines Atomkriegs bringen. Es hilft aber nichts, darüber zu lamentieren und mit dem Finger auf Trump zu zeigen. Europa muss endlich in die Puschen kommen und zu einem glaubwürdigen sicherheitspolitischen Akteur werden.
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