Mehr Bis­marck als Bebel

Maas und Lawrow
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Außen­mi­nis­ter Heiko Maas (SPD) und sein rus­si­scher Kollege Sergej Lawrow in Moskau, 11. August 2020.

Die Befür­wor­ter von Nord Stream 2 übergehen die Inter­es­sen Polens, der bal­ti­schen Staaten und der Ukraine. Dabei haben deren Vor­be­halte gegenüber Russ­land gute Gründe. Berlin und Moskau haben mehr als einmal auf Kosten anderer „Brücken“ zuein­an­der geschla­gen und eine für Ost­mit­tel­eu­ropa ver­hee­rende Politik betrie­ben. Vor allem in der  SPD, aber nicht nur dort, werden solche Argu­mente gerne ignoriert.

20 Mil­lio­nen rus­si­sche Kriegs­op­fer, eine „letzte Brücke“ zum Nach­barn Russ­land, Nord Stream 2 auf Gedeih und Verderb: Die SPD bestätigt dieser Tage mal wieder das schlechte Bild, dass ihre Russ­land­po­li­tik abgibt. Nicht so sehr, weil sich die Partei für das Gas­pipe­line-Projekt ein­setzt – in einer Demo­kra­tie ist das durch­aus legitim. Mit der Begründung ihrer Haltung werden die Sozi­al­de­mo­kra­ten aber weder sich selbst noch ihren Wählern gerecht. 

Portrait von Markus Pöhlking

Markus Pöhl­king lebt in Osna­brück und arbei­tet als Redak­teur bei einer Tageszeitung.

So sehr die Volten, die führende SPD-Köpfe seit Jahren in Sachen Russ­land schla­gen, irri­tie­ren mögen: Die mora­li­sche Fragwürdigkeit des Pipe­line-Pro­jek­tes Nord Stream 2 und die Kritik daran scheint Sozi­al­de­mo­kra­ten durch­aus umzu­trei­ben. Immer wieder ist die Partei nämlich bemüht, mora­li­sche Gründe für ein Fest­hal­ten am Projekt und für Nach­sicht mit Putin ins Feld zu führen. Das gelingt ihr aller­dings mehr schlecht als recht, was zur Frage führen sollte, ob das Projekt (und ob Nach­sicht mit Putin) mora­lisch überhaupt zu recht­fer­ti­gen ist.

Diese Frage erspart sich die SPD aber bislang lieber und begründet ihre pro-Pipe­line-Haltung mit Argu­men­ten, die eine vor­geb­li­che oder tatsächliche Unkennt­nis über die Verhältnisse in Deutsch­lands östlicher Nach­bar­schaft offen­ba­ren. Und manch­mal, eher beiläufig, offen­ba­ren sie auch, in welcher Tra­di­tion sich die SPD in ihrer Haltung zu Russ­land tatsächlich bewegt.

Mit der Brücke nach Russ­land das hin­der­li­che Zwi­schen­land umgehen

Bundespräsident Frank-Walter Stein­meier etwa bezeich­nete Nord Stream 2 gerade in einem Inter­view mit der Rhei­ni­schen Post als „letzte Brücke“ zum Nach­barn Russ­land. Es lohnt sich, einen näheren Blick auf diese Meta­pher zu werfen und sich die eigent­li­che Funk­tion einer Brücke ins Gedächtnis zu rufen: Sie dient in erster Linie dazu, ein Hin­der­nis zu überqueren. Es zu übergehen, wenn man denn so will.

Und tatsächlich: Wer Nord Stream 2 befürwortet, übergeht vor allem die Inter­es­sen und Ein­wände  Polens, Lett­lands, Litau­ens, Est­lands und der Ukraine. Staaten also, die zwi­schen uns und unserem Nach­barn Russ­land liegen. Sie sind Russ­land geo­gra­phisch und poli­tisch tatsächlich so viel mehr nach­bar­schaft­lich ver­bun­den als Deutsch­land, dass der Schluss nahe liegt: Womöglich ver­ste­hen sie Russ­land auch besser als wir. Viel­leicht haben sie ja ihre Gründe, Vor­be­halte gegenüber dem großen Nach­barn im Osten zu haben.

Für maß­geb­li­che Teile (nicht nur) der SPD scheint die Region zwi­schen der Ost­grenze Deutsch­lands und der West­grenze Russ­lands aller­dings ein zu vernachlässigendes Zwi­schen­land zu sein, dessen poli­ti­sche Akteure die guten Bezie­hun­gen zum Nach­barn Russ­land auf unbotmäßige Art und Weise stören. Warum also nicht einfach eine Brücke bauen, die unsere Bezie­hun­gen zu Russ­land unabhängig macht von Befind­lich­kei­ten in War­schau, Riga oder Kyiw?

Schließ­lich, so argu­men­tiert Stein­meier wie auch viele andere, ist da die his­to­ri­sche Schuld Deutsch­lands gegenüber Russ­land. 20 Mil­lio­nen Russen seien schließ­lich der Aggres­sion des faschis­ti­schen Deutsch­lan­des ab 1941 zum Opfer gefal­len. Dieses Argu­ment scheint unab­weis­bar, stimmt aber dennoch nicht: Nicht 20 Mil­lio­nen Russen, sondern 20 Mil­lio­nen Sowjetbürger sind dem faschis­ti­schen Deutsch­land zum Opfer gefal­len. Dar­un­ter waren zahl­rei­che Russen, aber eben auch Mil­lio­nen von Ukrai­nern und Bela­ru­sen, dazu Geor­gier, Arme­nier, Kasa­chen und Kirgisen.

Die Gleich­set­zung Russ­lands und der Sowjet­union ist ein Trugschluss

Die Sowjet­union war ein Vielvölkerstaat dessen Schick­sal in Deutsch­land bis heute gemein­hin mit Russ­land gleich­ge­setzt wird. Weil Russ­land selbst diese Vor­stel­lung nach Kräften bestärkt und die Opfer und den Triumph im Krieg exklu­siv für sich bean­sprucht, ist hier­zu­lande in Ver­ges­sen­heit geraten, dass die Ter­ri­to­rien von Belarus und der Ukraine die Haupt­last des Krieges zu tragen hatten.

Gerade im Fall der Ukraine stellte der Krieg gar das zweite kol­lek­tive Trauma binnen eines guten Jahr­zehnts dar: Erst in den 1930er-Jahren waren Mil­lio­nen Ukrai­ner einer Hun­gers­not zum Opfer gefal­len. Der „Holo­do­mor“ war Folge der sta­li­nis­ti­schen Kol­lek­ti­vie­rungs­po­li­tik und wurde auch deshalb lan­ciert, um den Wider­stand ukrai­ni­scher Bauern zu brechen. Aus einer ukrai­ni­schen Per­spek­tive kennen die 1930er- und 40er-Jahre daher zwei Hauptstädte, in denen für Ukrai­ner dra­ma­ti­sche Beschlüsse gefasst wurden: Berlin – und Moskau.

Berlin und Moskau spiel­ten unter­des­sen nicht nur für die Ukraine eine verhängnisvolle Rolle. Vor dem Angriff Deutsch­lands auf die Sowjet­union hatten sie im Molotow-Rib­ben­trop-Pakt Ost­mit­tel­eu­ropa unter sich auf­ge­teilt. Deutsch­land (das seine his­to­ri­sche Schuld gegenüber Polen offen­bar gerin­ger wertet als die gegen­über Russ­land) besetzte das west­li­che Polen, die Sowjets das östliche und das Bal­ti­kum. Ein Vorgang, der wie­derum seine Vorgänger hatte: Bereits im 18. Jahr­hun­dert hatten Berlin und das zaris­ti­sche Russ­land unter Betei­li­gung Wiens das Ter­ri­to­rium Polens nach und nach dem eigenen Herr­schafts­be­reich zugeschlagen.

Der Blick in die Geschichte zeigt also: Zwi­schen uns und Russ­land liegen noch einige Nach­barn, für deren Schick­sal Aktio­nen und Inter­ak­tio­nen von Berlin und Moskau stets pro­ble­ma­tisch waren. Berlin und Moskau haben mehr als einmal auf Kosten anderer „Brücken“ zuein­an­der geschla­gen. Und beide Städte haben über große Zeiträume immer wieder eine Politik betrie­ben, die für Ost­mit­tel­eu­ropa mal mehr, mal weniger ver­hee­rend war.

Aus der SPD dringt aber wenig, was darauf schlie­ßen ließe, die Partei wolle dieser kom­ple­xen Gemenge­lage östlich von Deutsch­land Rech­nung tragen. Viel­mehr kom­mu­ni­zie­ren viele Sozi­al­de­mo­kra­ten erstaun­lich empa­thie­los über die Befind­lich­kei­ten der Region hinweg mit dem Adres­sa­ten Russland.

Bundespräsident Frank-Walter Stein­meier sind die schwie­ri­gen his­to­ri­schen Ver­flech­tun­gen der Region aus seiner Zeit als Außen­mi­nis­ter wohl bewusst. Damals unter­nahm er – gemein­sam mit dem Ost­eu­ropa-His­to­ri­ker Karl Schlögel – durch­aus Anstren­gun­gen, ein brei­te­res Verständnis für die unglei­chen his­to­ri­schen Ent­wick­lun­gen in Russ­land und der Ukraine zu schaf­fen und so Raum für dif­fe­ren­zier­tere Vor­stel­lun­gen von beiden Ländern zu öffnen. Wenn er – wie nun gesche­hen – die Kriegs­op­fer allein Russ­land zuschreibt, um so Emo­tio­nen zuguns­ten der Gas­pipe­line zu schüren, sollte er es besser wissen.

Besser wissen könnte es auch die SPD, wenn sie ihre per­ma­nente Nach­sicht gegenüber allen Ausfällen Putins in die Tra­di­tion von Willy Brandts Ent­span­nungs­po­li­tik stellt. Auch hier verfällt die SPD dem Trug­schluss, Russ­land und die Sowjet­union seien im Grunde das Gleiche. Brandt war sich einer umfas­sen­den Ver­ant­wor­tung Deutsch­lands für Ver­wer­fun­gen in Ost- und Ost­mit­tel­eu­ropa durch­aus bewusst. Erin­nert sei nur an seinen Knie­fall in Warschau.

Die SPD scheint unfähig, Putins Politik profund zu analysieren

Weil die SPD kaum fähig oder Willens ist, die östliche Nach­bar­schaft als einen Raum wahr­zu­neh­men, den ver­schie­de­nen Staaten mit ver­schie­de­nen Tra­di­tio­nen und Bezie­hun­gen zu Russ­land bevölkern und weil sie kaum einmal der Tat­sa­che Rech­nung trägt, dass auch die rus­si­sche Gesell­schaft und die Inter­es­sen Putins nicht gleich­zu­set­zen sind, gibt ihre „neue Ost­po­li­tik“ ein prekäres Bild ab. Viel­leicht auch deshalb, weil ein­fluss­rei­che Köpfe der SPD (vor­ne­weg Gerhard Schröder) ganz persönliche finan­zi­elle Inter­es­sen mit Russ­land ver­bin­det. Viel­leicht auch, weil es der Partei auf breiter Linie an Empa­thie für und Wissen über Ost­eu­ropa mangelt. Die Partei scheint nicht in der Lage, die Politik Putins und die inneren Verhältnisse Russ­lands profund zu ana­ly­sie­ren. Statt­des­sen ver­sucht sie, ihre frag­wür­dige Russ­land­po­li­tik mit his­to­risch-mora­li­schen Argu­men­ten zu rechtfertigen.

In einer Demo­kra­tie steht es jeder Partei frei, sich für einen bestimm­ten Kurs in der Außen- und Ener­gie­po­li­tik zu ent­schei­den. Genauso sollten in einer Demo­kra­tie die Beweggründe dafür aber nicht ver­schlei­ert werden. Das gebie­tet die Ehr­lich­keit einer Partei gegenüber sich selbst wie auch gegenüber den Wählern.

Die SPD täte sich und ihren Wählerinnen und Wählern einen Gefal­len, wenn sie die Dinge klar beim Namen nennen würde: Nord Stream 2 als Brücke zu Russ­land ist der Partei wich­ti­ger als die Inter­es­sen und die Sicher­heit der ostmitteleuropäischen Staaten. Ange­sichts des EU-weiten Wider­stan­des gegen das Projekt stellt die SPD an dieser Stelle ver­meint­lich natio­nale Inter­es­sen über den Zusam­men­halt der EU. Wo das Geld in Russ­land landet, welcher Macht­ap­pa­rat damit gestärkt und welche außen­po­li­ti­schen Aben­teuer unterstützt werden, ist den Befür­wor­tern egal.

In Sachen Nord Stream 2, in ihrem Verhältnis zu und ihrem Blick auf Russ­land ist die SPD mehr Bis­marck als Bebel (dessen mar­tia­li­sche Schärfe gegen die Zustände im Zaren­reich sich die Partei nun frei­lich auch nicht zu Eigen machen muss). Frei­lich steht sie mit dieser Haltung nicht allein. Sie findet sich auch in anderen Teilen der Öffent­lich­keit und Politik. Deshalb ist die Debatte um die deut­sche Russ­land­po­li­tik umso dringlicher.

 

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