Wie der Siegestag verfälscht wurde
Der Siegestag am 9. Mai ist vom legitimen Gedenktag an den sowjetischen Sieg über Hitlerdeutschland zur Propaganda-Show für Putins Revanchismus und Militarismus verkommen. Der russische Politologe und Publizist Fjodor Krascheninnikow erklärt, wie es dazu kommen konnte.
Der 9. Mai war einer der schönsten und beliebtesten sowjetischen Feiertage. An diesem Tag gedachten die Menschen des Sieges über das Böse, verfluchten den Krieg und schworen einander und der Welt, dass es keinen Krieg mehr geben würde.
Dieses Jahr sieht der Tag ganz anders aus: In den letzten anderthalb Jahrzehnten hat sich das Putin-Regime den Tag des Sieges über den Nationalsozialismus als Hauptfeier angeeignet. Vor dem Hintergrund des Angriffkriegs gegen die Ukraine, der zynischerweise unter dem Schlagwort „Entnazifizierung“ geführt wird, wirkt der Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Russland wie die Ankündigung des Dritten Weltkriegs, ein Triumph für Geschichtsrevisionismus, Militarismus, Fremdenfeindlichkeit und Diktatur-Verherrlichung.
Wie dieser Tag in den verschiedenen Phasen der sowjetischen Nachkriegsgeschichte gefeiert wurde, ist ein eigenes Thema. Seit Breschnew standen in der Sowjetunion und im Russland der 190er und 2000er Jahre die Überlebenden des Krieges im Mittelpunkt der Feiern. Es waren die Kriegsveteranen, die den Ton angaben und die letztlich urteilten, was an diesem Tag anständig war und was nicht. Aber je weniger überlebende und aktive Kriegsteilnehmer es gab, desto mehr veränderten sich der Charakter und die Rituale des Festes.
Vom Siegestag zum Picknick-Tag
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 waren die meisten Menschen der älteren Generation von dem neuen System nicht sonderlich begeistert, so dass es in den 1990er Jahren kaum möglich war, den Siegestag für staatliche Propaganda zu nutzen. Als Folge verlor der Feiertag seinen ideologischen Ballast und wandelte sich zu einem Anlass für einen Picknick-Ausflug. Andererseits sammelten sich um ihn herum politische und gesellschaftliche Kräfte, die sich nach der Sowjetzeit sehnten und für die der Siegestag nur ein Vorwand war, um Stalin-Porträts aufzustellen.
Der Kreml machte sich all das zunutze und verwandelte den Gedenktag zunächst in ein patriotisches Picknick, zu dem die Menschen mit roten Fahnen und „Wir können es nochmal machen“-Aufklebern gehen, und dann – in den letzten Jahren – in einen Tag der Verherrlichung des siegreichen „Großen Vaterländischen Krieges“.
Man muss aber sagen, dass Wladimir Putin es nicht sofort gewagt hat, sich den 9. Mai anzueignen. Zunächst wurde versucht, einen eigenen Feiertag – den Tag der nationalen Einheit am 4. November – zu schaffen, um die Menschen rund um das wenig bekannte und historisch fragwürdige Datum des Endes der „Zeit der Wirren“ im frühen 17. Jahrhundert zu scharen. Anfang der 2000er Jahre versuchte man, an diesem Tag Widerstand gegen eine „westliche Aggression“ zu mobilisieren, was sich aber nie wirklich durchsetzte.
Mehr St-Georgs-Bändchen und weniger Veteranen
Erst Ende des ersten Jahrzehnts begann das Regime, dem 9. Mai mehr und mehr Aufmerksamkeit zu schenken, um einen Konsolidierungspunkt um Putin herum zu finden. Der erste bemerkenswerte Meilenstein dahin war die 2005 begonnene zentrale Verteilung von St.-Georgs-Bändchen“. Die schwarz-orange gestreiften Bändchen waren bis zu diesem Zeitpunkt lediglich militärisch-festlicher Schmuck, aber ohne eigenständige politische oder gar sakrale Bedeutung. Die Verteilung der Bänder wurde schnell zu einem sichtbaren Zeichen der Loyalität zum Staat, was von denjenigen, die sich in Opposition sahen, abgelehnt wurde.
Bereits in den 2010er Jahren waren Weltkriegsveteranen, die aktiv an den Feierlichkeiten teilnehmen konnten, eine Seltenheit. Die Regierung löste dieses Problem mit typischem Zynismus: Die Veteranenverbände, die ursprünglich aus Veteranen des Zweiten Weltkriegs bestanden, wandelten sich nach und nach in Räte für Veteranen aller Kriege, der Arbeitswelt und der Strafverfolgungsbehörden. So wurde der Platz der Weltkriegsveteranen bei öffentlichen Anlässen nach und nach von Veteranen anderer Kriege (vor allem des Afghanistan- und des Tschetschenienkriegs) sowie von Polizeibeamten, Geheimdienstlern, Staatsanwältinnen und pensionierten Regierungsbeamten eingenommen, die nie gekämpft hatten. Und während die echten Veteranen es vorzogen, über ihre gefallenen Kameraden und die Bedeutung des Friedens zu sprechen, trugen Putins junge Veteranen ganz andere Ideen zu den Massen – zunehmend aggressiver Militarismus, Geschichtsrevisionismus, antidemokratische und antiliberale Ideen.
2011 wurde in Tomsk eine Initiative gegen die staatliche Vereinnahmung der Erinnerung an den Krieg ins Leben gerufen: Am 9. Mai sollten Angehörige und Nahestehende mit Porträts der Gefallenen oder Kriegsteilnehmer auf die Straße gehen. In den ersten Jahren war dies wirklich eine Volks- und sogar eine Protestbewegung, aber der Kreml schätzte ihr Potenzial schnell ein und nahm sie unter seine Kontrolle. Das Porträt eines Kriegsveteranen kann nichts aussagen, aber die Person, die es hält, oder der Organisator der Veranstaltung hat irgendwie das Recht, im Namen der Sieger zu sprechen und in deren Namen Kritiker des Putin-Regimes anzuprangern und sie sogar wegen Beleidigung des Gedenkens an den Krieg zu verklagen.
Für die endgültige Aneignung des Tages des Sieges fehlte Putin das Wichtigste – sein persönlicher militärischer Sieg, der mit dem Sieg von 1945 verwechselt werden konnte, und schließlich ersetzte er das eine durch das andere und machte den 9. Mai zum Tag seines Triumphes. Im Frühjahr 2014 griff Putin zum ersten Mal die Ukraine an, besetzte die Krim und errichtete in Teilen der Regionen Donezk und Luhansk prorussische quasi-Republiken. Damals wurde das „St.-Georgs-Band“ nicht nur zu einem Symbol der Unterstützung für den russischen Staat, sondern auch zu einem weltweit bekannten Emblem für Putins Aggression. Die Propaganda begann allmählich, den Angriff auf ein Nachbarland als Fortsetzung des Krieges gegen den Nazismus in unserer Zeit darzustellen.
Der Überfall auf die Ukraine wird dem Krieg gegen Nazideutschland gleichgestellt
Alle diese Trends werden an diesem 9. Mai und an allen anderen Putinschen Siegestagen ihren Höhepunkt erreichen: Das Georgsband wird als „Z“ ausgelegt, dem Symbol für den groß angelegten Krieg gegen die Ukraine. Bereits ist angekündigt, dass beim Marsch der „Unsterblichen Regiments“ auch Porträts von in der Ukraine Gefallenen mitgeführt werden. Die Propaganda setzt den Krieg gegen Nazideutschland mit der Aggression gegen die Ukraine gleich und setzt nicht nur die Ukrainer, sondern auch alle westlichen Demokratien mit Nazis gleich.
Alles deutet darauf hin, dass die bisherigen Siegestag-Feiern zum 9. Mai in Russland mit dem Putin-Regime enden werden. Die Regierung eines neuen Russlands wird alle mit diesem Datum verbundenen Rituale, Worte und Symbole überdenken müssen, um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Sieg über den Nationalsozialismus von dem zu trennen, was Putins Propaganda an seine Stelle gesetzt hat – vor allem von der Aggression gegen die Ukraine. Auf jeden Fall sollten wir uns darauf einstellen, dass der 9. Mai noch viele Jahrzehnte nach Putins Sturz der wichtigste Tag im politischen Kalender der Revanchisten sein wird, an dem all jene, die sich nach einer „starken Hand“ und einer „Großmacht“ sehnen, ihre Versammlungen unter den Porträts von Stalin und Putin abhalten und dabei St. Georgs-Bänder und das „Z“ tragen werden.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de