Pro und Contra: Sollen rus­si­sche Tou­ris­ten zu Hause bleiben?

Rus­si­sche Tou­ris­ten posie­ren am 9. Mai 2015 vor dem Rechs­tag – Foto: Valery Sharifulin/​TASS/​IMAGO

Pro: Ein Ein­rei­se­stopp ist hart, würde aber ein Licht auf das Übel von Putins Krieg werfen, argu­men­tiert Edward Lucas.

An den Ufern des Comer Sees erscheint Europas schlimms­ter Krieg seit 75 Jahren weit weg. Statt­des­sen sind Bars und Strände voll mit unbe­küm­mer­ten, kos­mo­po­li­ti­schen und spen­da­blen Besu­chern aus Russ­land. Es gibt auch Ukrai­ner, aber die arbei­ten meis­tens hart. Eine Frau, die in unserem Hotel schuf­tet, hat vor ihrer Flucht nach Italien einen Monat in einem Keller ver­bracht; sie sagt, dass sie die frische Luft und die Ein­sam­keit auf ihrem nächt­li­chen Heimweg genießt.

Portrait von Edward Lucas

Edward Lucas ist Jour­na­list, Sicher­heits­experte und Poli­ti­ker der bri­ti­schen Liberaldemokraten.

Wie lange noch sollen sich Russen in den euro­päi­schen Ferien aus­to­ben können? Die est­ni­sche Pre­mier­mi­nis­te­rin Kaja Kallas sagt, Europa zu besu­chen sei „ein Pri­vi­leg und kein Men­schen­recht“. Ihr Land hat seine an Russen aus­ge­stell­ten Visa auf­ge­ho­ben, aber Hun­dert­tau­sende dürfen wei­ter­hin in Estland ein­rei­sen, weil ihr Visum von anderen Schen­gen-Staaten aus­ge­stellt wurde. Das ist zwar gut fürs Geschäft, aber der unkon­trol­lierte Zustrom fühlt sich an wie eine Invasion.

Einige rus­si­sche Besu­cher haben ukrai­ni­sche Flücht­linge ver­spot­tet und die Ergeb­nisse in sozia­len Medien gepos­tet, was die Empö­rung ver­stärkt hat (einen solchen Char­meur hat Estland auf­ge­spürt und abge­scho­ben). Finn­land, Lett­land, Litauen und Polen, die eben­falls Land­gren­zen mit Russ­land haben, wollen eben­falls ein Verbot, ebenso wie Däne­mark. Deutsch­land ist strikt dagegen.

Die Rechts­lage ist erstaun­lich kom­pli­ziert (anders als zu Corona-Zeiten). Aber Tsche­chien, das als erstes Land den Rei­se­ver­kehr für Russen ein­ge­schränkt hat und welches gerade den sechs­mo­na­ti­gen EU-Vorsitz innehat, hat die Schen­gen-Sank­tio­nen auf die Tages­ord­nung des Außen­mi­nis­ter­tref­fens am 31. August gesetzt.

Höchste Zeit, heißt es aus der Ukraine. Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba sagt, dass den Russen „das Recht genom­men werden muss, inter­na­tio­nale Grenzen zu über­schrei­ten, bis sie lernen, diese zu respek­tie­ren“. Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj argu­men­tiert, die Russen sollten „in ihrer eigenen Welt leben, bis sie ihre Phi­lo­so­phie ändern“.

Prag­ma­ti­sche und prin­zi­pi­elle Gegen­ar­gu­mente gibt es viele. Ein­schrän­kun­gen der Rei­se­frei­heit für gewöhn­li­che Russen könnte das Nar­ra­tiv des Putin-Regimes unter­mau­ern, dass Russ­land von Hass umringt wird. Regime­kri­ti­ker, die vor Ver­fol­gung fliehen, würden gefähr­den. Jenes Zehntel der rus­si­schen Bevöl­ke­rung, das ins Ausland reist, ist unsere beste Hoff­nung auf einen Wandel in Russ­land. Es ist wirt­schaft­li­che Selbst­be­schä­di­gung: Rus­si­sche Tou­ris­ten werden einfach nach Dubai, Ägypten oder ins kreml­freund­li­che Serbien reisen. Und im Grunde ist Kol­lek­tiv­strafe unge­recht. Donald Trumps Ein­rei­se­ver­bot für Muslime löste einen Auf­schrei der Empö­rung aus – warum sollte es hier anders sein?

Dabei geht es um unsere Russ­land-Stra­te­gie: Sollen wir den Kreml unter­gra­ben, indem wir Russen umwer­ben, die über seine Herr­schaft ver­är­gert sind, oder sollen wir einen Druck­kes­sel schaf­fen, der das Regime in die Luft jagt? In der Ver­gan­gen­heit haben wir beides pro­biert: Im Zweiten Welt­krieg bestan­den wir auf Deutsch­lands bedin­gungs­lo­ser Kapi­tu­la­tion und scheu­ten Annä­he­rungs­ver­su­che von Regime-Insi­dern, die auf einen sepa­ra­ten Frieden mit den West­mäch­ten hofften. Im Kalten Krieg dagegen spiel­ten wir „teile und herr­sche“, hofier­ten die Wackel­kan­di­da­ten des Ost­blocks und begrüß­ten jeden Über­läu­fer. Dies war mit uner­träg­li­chen mora­li­schen Ver­ren­kun­gen ver­bun­den. Wir beher­berg­ten die Ceau­ses­cus im Buck­ing­ham Palace, obwohl das rumä­ni­sche Regime selbst für kom­mu­nis­ti­sche Ver­hält­nisse bes­tia­lisch war. Wir sahen über die manch­mal schmut­zige Ver­gan­gen­heit von Funk­tio­nä­ren hinweg, die die Seiten wech­seln wollten. Der große Preis, so meinten wir, war einige Kom­pro­misse wert.

Fast alle Russen tragen eine Mit­ver­ant­wor­tung für Putins Aufstieg

Beide Ansätze haben ihre Vorzüge. Aber im Umgang mit Putin ziehe ich es vor, den inneren Druck zu erhöhen und unsere Sicher­heit zu schüt­zen. Die riesige Größe Russ­lands gibt seinen Bürgern nicht das Recht, zu reisen, wohin sie wollen – in Uniform oder ohne. Zwar ist nicht jeder Russe glei­cher­ma­ßen schul­dig, aber durch aktive oder passive Kol­lu­sion tragen fast alle eine gewisse Mit­ver­ant­wor­tung für Putins Auf­stieg. Viele mieden die Politik, weil sie sie für lang­wei­lig oder irrele­vant hielten, genos­sen ihre pri­va­ten Annehm­lich­kei­ten und igno­rier­ten den Faschis­mus, der sich vor ihrer Haustür zusam­men­braute. Jetzt drohen uns Hun­gers­not, Chaos und eine nukleare Kata­stro­phe. Unsere bis­he­rige Offen­heit hat, gelinde gesagt, nicht gerade glän­zend funktioniert.

Trotz stei­gen­der Kosten wird der Krieg in Russ­land immer belieb­ter. Ver­ges­sen Sie den Puti­nis­mus: Die aus­drück­li­che Unter­stüt­zung für den Sta­li­nis­mus hat scho­ckie­rende Ausmaße erreicht. Selbst ober­fläch­lich betrach­tet liberal ein­ge­stellte Russen pflegen jahr­hun­der­te­alte impe­ria­lis­ti­sche Hal­tun­gen. Unter Russen im Ausland domi­nie­ren Selbst­mit­leid und ein aus­ge­präg­tes Anspruchs­den­ken anstatt Selbstkritik.

Darüber hinaus erleich­tern Rei­se­frei­hei­ten dem Kreml Spio­nage, Sabo­tage, Mord, das Umgehen von Sank­tio­nen, Pro­pa­gan­da­tricks und Geld­wä­sche. Wir in Groß­bri­tan­nien wissen das von den Gift­an­schlä­gen gegen Alex­an­der Lit­wi­nenko und von Salis­bury, die von Atten­tä­tern mit Geschäfts- und Tou­ris­ten­visa verübt wurden. In jüngs­ter Zeit haben rus­si­sche Agenten offen­bar ein Depot in die Luft gejagt (der fünfte Anschlag in den letzten Wochen), das Emilian Gebrev gehört, einem bul­ga­ri­schen Waf­fen­händ­ler, der 2015 nur knapp eine Nowit­schok-Ver­gif­tung überlebte.

Russ­lands Ter­ror­kam­pa­gne wird in ganz Europa geführt

Die Rei­se­pläne von Tätern und Mit­tä­tern zu behin­dern, scheint eine milde Antwort zu sein, auch wenn sie eine schaum­ge­bremste Reak­tion von Kreml-Sprach­roh­ren her­vor­ge­ru­fen hat. Der Pro­pa­gan­dist Wla­di­mir Solo­wjow meinte, dass ein Rei­se­ver­bot und die Ein­stu­fung Russ­lands als Terror-Staat den Ein­tritt des Westens in den Krieg bedeu­te­ten und daher einen „prä­ven­ti­ven Atom­schlag“ ver­dien­ten. Das zeigt, dass Visa­be­schrän­kun­gen die „Achil­les­ferse“ des Kremls sind, sagt mir Frau Kallas aus Estland. „Davor haben sie Angst.“

Diese schwie­ri­gen Ent­schei­dun­gen sind die Folge unserer frü­he­ren Gier und Ängst­lich­keit. Wir sollten die bequeme, aber faule Fair­ness auf­ge­ben, die es anderen über­lässt, die Kon­se­quen­zen unseres Han­delns zu tragen. Statt­des­sen sollte es unser Leit­prin­zip sein, die Ukraine und die anderen Front­staa­ten in den Mit­tel­punkt unserer Bemü­hun­gen zu stellen. Wir sind uns endlich bewusst gewor­den, wie gefähr­lich es ist, Russ­lands Anrai­ner­staa­ten als geo­po­li­ti­schen Puffer zu behan­deln. Und dort sollte es auch keine Zuflucht geben für Russen, die den Spaß und die Frei­heit genie­ßen wollen, die ihre Herr­scher zu Hause abge­schafft haben.

Die Esten und anderen wissen das besser als wir. Sie hatten in der Ver­gan­gen­heit recht und wir haben sie igno­riert. Jetzt sollten wir auf sie hören.

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