Warten auf den Mauerfall: Wie Deutschlands Strategielosigkeit Russlands Krieg verlängert
Trotz Zeitenwende dominiert seit dem russischen Überfall auf die Ukraine Zögerlichkeit das Handeln Deutschlands. Die Bundesregierung handelt oft erst dann, wenn die Lage auf dem Schlachtfeld dramatisch ist, oder wartet auf Entscheidungen aus Washington. Ihre dosierte Ukraine-Hilfe scheint von der Hoffnung auf einen irgendwann eintretenden Waffenstillstand geleitet. Dann droht ein „ewiges Provisorium“, ähnlich der Teilung Deutschlands im Kalten Krieg, schreibt Nico Lange.
„Ich musste auch 28 Jahre lang warten!“ – diese Anspielung an die Dauer der Berliner Mauer soll Bundeskanzlerin Angela Merkel sichtlich genervt ausgerufen haben, als Anfang 2015 der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko bei einem gemeinsamen Pressetermin unabgesprochen russische Pässe präsentierte, die Russland auf der Krim sowie in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk ausgegeben hatte. Russland hatte 2014 nach der Flucht des damaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch vor den Euromaidan-Protesten militärisch Fakten auf der Krim geschaffen, ohne dass der Westen etwas dagegen unternommen hätte und anschließend auch im Donbas militärisch interveniert. Aus Merkels Sicht waren eine harte Konfrontation oder gar ein Zurückschlagen Russlands undenkbar, vor allem weil die USA unter Präsident Barack Obama zu keinerlei militärischem Eingreifen, zu keiner Abschreckung und nicht einmal zu einer militärischen Machtdemonstration bereit waren. Es blieb also nur die Möglichkeit, sich mit dem Verlust der Krim und der Städte Donezk und Luhansk abzufinden, den Konflikt so gut es ging einzufrieren und darauf zu hoffen, dass nach Jahren oder Jahrzehnten innere Veränderungen in Russland eintreten könnten, die ein neues Herangehen an diese Fragen ermöglichen würden. Bis dahin müsse man sich eben arrangieren, zumal man Russland zur Lösung einer ganzen Reihe wirtschaftlicher und politischer Fragen brauchen würde. Bis heute prägen diese Grundhaltungen die deutsche Politik gegenüber der Ukraine.
Natürlich ist seit besagter Pressekonferenz 2015 viel geschehen. Deutschland erlebte nach dem russischen Großangriff im Februar 2022 eine „Zeitenwende“. Und doch bleibt bis heute unklar, welche strategischen Überlegungen die Bundesregierung in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine und für eine künftige Sicherheitsordnung in Europa leiten. Oft entsteht der Eindruck, Deutschland mache lediglich zögerlich und widerwillig mit, was andere vorschlagen. Manche Partner und Beobachter hegen trotz mittlerweile sehr umfangreicher militärischer Unterstützung Deutschlands für die Ukraine noch immer den Verdacht, Berlin träume heimlich von einer Rückkehr zum status quo ante. Vor allem aber ist es ein bemerkenswerter Gleichklang, dass während für den russischen Machthaber Wladimir Putin eine Mischung aus russischem Neoimperialismus und Zurückrollen der „größten geopolitischen Katastrophe“, des Zerfalls der Sowjetunion, handlungsleitend ist, die Bundesregierung seit 2014 die Entwicklungen in der Ukraine auffasst, als würden sie zwangsläufig auf eine neue Form der europäischen Teilung hinauslaufen. Eine Teilung, die dann, ganz wie selbst erlebt, durch einen neuen Mauerfall in weiter Ferne beendet werden könne.
Keine Frage: Die deutsche Politik gegenüber der Ukraine und Russland ist seit dem russischen Großangriff im Februar 2022 erheblich verändert worden. Dennoch scheint das strategische Denken an der Spitze der Bundesregierung noch immer mehr von Kontinuität geprägt als von einem fundamentalen Umdenken, dass die Reaktion eine echte „Zeitenwende“ braucht. Obwohl Deutschland zudem Bündnistreue und enge Abstimmung mit den Partnern öffentlich beinahe überbetont, begibt sich die Bundesregierung in der Diskussion um die Unterstützung der Ukraine in Wirklichkeit immer wieder auf Sonderwege. Hat die deutsche Regierung in Bezug auf die Ukraine und die künftige Sicherheit Europas überhaupt eine Strategie? Das Endspiel des russisch-ukrainischen Krieges scheint aus deutscher Perspektive jedenfalls einzig von der vagen Zielvorstellung geleitet, dass sich der Krieg „irgendwie festfährt“. Statt konkreter Ideen für ein Nachkriegseuropa scheint die deutsche Politik bisher offenbar noch immer die Rückkehr zu einem modifizierten Vorkriegseuropa zu erwarten – oder zu erhoffen. Doch der Druck der militärischen Ereignisse, die Position der USA, sowohl die Partner in Skandinavien und Mittelosteuropa als auch der Deutsche Bundestag und die Öffentlichkeit könnten die deutsche Regierungspolitik verändern.
Die deutsche Politik seit Russlands Großangriff
Deutschland hatte einen entscheidenden Anteil am größten Versäumnis westlicher Politik ab 2014. Nach der Annexion der Krim taten die westlichen Staaten nicht annähernd genug, um Putin von der Vorbereitung und Durchführung der militärischen Großinvasion in die Ukraine abzuschrecken. Stattdessen verlegte man sich auf Wunschdenken, vor allem getrieben von der großen deutschen Sehnsucht nach Nichtveränderung und außenpolitischer Kontinuität. Dadurch erzielte man billige Energiepreise für die deutsche Wirtschaft und hegte gegen alle Evidenz die Hoffnung, dass man mit Putins Russland kooperative Lösungen für wichtige Fragen der internationalen Politik finden könne. Möglich wurde das durch eine absolute Verweigerung der Realitäten in Bezug auf Putins Absichten und durch das bewusste Ignorieren der innenpolitischen Entwicklungen in Russland. Nur deshalb konnte Deutschland schließlich bei Beginn der Großinvasion im Februar 2022 überhaupt eine „Zeitenwende“ wahrnehmen, die Wirklichkeit keine überraschend eintretende Veränderung der Weltlage war, sondern eine harte und unausweichliche Konfrontation Deutschlands mit der sicherheitspolitischen Wirklichkeit.
Bis zuletzt redete Deutschland sich 2021 und Anfang 2022 noch ein, die russischen Truppenaufmärsche seien Übungen und die warnenden Amerikaner und Briten würden übertreiben. Direkt nach dem Großangriff reagierte Deutschland zunächst hilflos. Der allgemeine Tenor am 24. und 25. Februar 2022 in Berlin war, die Ukraine sei verloren, da könne man nichts machen, Waffenlieferungen kämen jetzt auch nicht mehr an. Jetzt könne man nur noch die Ostflanke zu einem neuen eisernen Vorhang ausbauen, schade, aber nicht zu ändern.
Daraufhin geriet Deutschland europäisch und international unter beispiellosen Druck bis hin zur drohenden Isolation. Durch die Abkehr von Nord Stream 2, den Einstieg in Waffenlieferungen an die Ukraine und die kraftvolle, historische „Zeitenwende“-Rede des Bundeskanzlers fand Deutschland am 27. Februar 2022 zu Bündnistreue und eigener Handlungsfähigkeit zurück. Seither kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass Deutschland die Ukraine zwar einerseits militärisch immer umfangreicher unterstützt, andererseits aber immer nur widerwillig, zu langsam und zu spät zu Entscheidungen kommt. Die deutsche militärische Unterstützung der Ukraine folgt damit der Genese der Zeitenwende-Rede. Deutschland setzt keine eigene Strategie um oder geht strategisch zielgerichtet vor, sondern schwimmt in der von den USA geführten Koalition der Ukraine-Unterstützer mit. Allein durch die deutsche Größe und die erhebliche Wirtschafts- und Finanzkraft kommen dabei für die Ukraine sehr signifikante Ergebnisse heraus.
„Die Bundesregierung kann sich bis heute nicht von der Grundannahme einer militärischen Unterlegenheit der Ukraine lösen“
Auf dem Schlachtfeld hatte sich bereits früh herausgestellt, dass Russland in der Ukraine militärisch schlagbar ist. Auch zentrale Hypothesen über mögliche Eskalationsgefahren wurden in mittlerweile mehr als zwei Kriegsjahren widerlegt. Weder wurde durch den Schützenpanzer Marder der dritte Weltkrieg ausgelöst noch reagierte Russland auf Angriffe gegen die Krim und die Schwarzmeerflotte mit Atomwaffen. Doch trotz dieser Erkenntnisse kann die Bundesregierung sich bis heute nicht von der Grundannahme einer hoffnungslosen militärischen Unterlegenheit der Ukraine und der Vermutung gravierender Eskalationsrisken lösen.
Kontinuität trotz Zeitenwende
Seit der bahnbrechenden Rede des Bundeskanzlers am 27. Februar 2022 ist „Zeitenwende“ das zentrale Leitmotiv für alle Debatten zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Eine „Zeitenwende“ oder, wie Außenministerin Annalena Baerbock es nannte, das „Aufwachen in einer anderen Welt“ hieße: Nichts wird wieder, wie es früher war. Die deutsche Reaktion auf die „Zeitenwende“ ist jedoch bisher keine schnelle, tiefgreifende und unumkehrbare Veränderung, sondern durch Langsamkeit und viel Kontinuität geprägt.
„Die deutsche Reaktion auf die „Zeitenwende“ fällt bisher deutlich mehr transatlantisch als europäisch aus“
Die enorme Hilfe Deutschlands mit Waffen, Munition und militärischer Ausrüstung für die Ukraine stellen dabei die zentrale und paradigmatische Veränderung deutscher Politik dar. Deutsche Waffen verschaffen den Streitkräften der Ukraine auf dem Schlachtfeld Vorteile. Auch durch deutsche Waffenhilfe überlebt die Ukraine und verweigert Putin das Erreichen seiner militärischen Ziele. Dennoch scheint die Bundesregierung insgesamt weiterhin davon auszugehen, dass Deutschland selbst kein bestimmender Akteur zur Entscheidung des Krieges und zur Wiederherstellung des Friedens sein kann. Die Bundesregierung orientiert sich rigoros am Vorgehen des Weißen Hauses. Die deutsche Reaktion auf die „Zeitenwende“ fällt damit bisher deutlich transatlantischer als europäisch aus.
Die Politik der Bundesregierung scheint weiterhin auf der Annahme zu beruhen, dass Russland militärisch nicht bezwingbar ist. In Fortsetzung der US-Strategie setzt Berlin auf ein langsames Abnutzen russischer militärischer Fähigkeiten in der Ukraine. Die strategische Annahme scheint zu sein, dass eine dosierte Hilfe für die Ukraine zu einer Frustration Russlands und zu einer relativ schwachen Position der Ukraine gleichzeitig führen würde, so dass beide Seiten in einer militärischen Pause, einem Festfahren des Krieges und letztlich einem Waffenstillstand entlang einer neuen „Kontaktlinie“, die weiter westlich als die von 2014 liegt, einen vorläufigen Ausweg sehen würden. Wirkliche strategische Veränderungen sind aus diesem Blickwinkel nur erreichbar, wenn die USA ihre Strategie wechseln oder wenn sich innerhalb Russlands signifikante Veränderungen einstellen. Letzteres könnte noch Jahrzehnte auf sich warten lassen.
„In althergebrachter Manier will die deutsche Außenpolitik nicht zu wenig tun, aber auf keinen Fall zu viel“
Trotz der „Zeitenwende“ setzt Deutschland damit abgesehen von den Waffenlieferungen seine traditionelle Außen- und Sicherheitspolitik fort. Die Bundesregierung sieht sich nicht in einer Führungsrolle zur Abwehr der russischen Aggression gegen die Ukraine und zur Wiederherstellung der Ukraine in den völkerrechtlich anerkannten Grenzen von 1991, sondern bleibt reaktiv und macht sich klein. Deutschland versteht sich als ein Partner unter vielen, am besten in einer ausgleichenden Mittellage. In althergebrachter Manier will die deutsche Außenpolitik nicht zu wenig tun, aber auf keinen Fall zu viel. Und lieber möchte sich die Bundesregierung zu Vorschlägen anderer positionieren als selbst womöglich angreifbare Vorschläge zu machen.
Die sich abzeichnende Bedrohung Deutschlands und Europas zu erkennen, sich der eigenen Stärke und Pflicht bewusst zu werden, die deutsche Politik den Möglichkeiten der eigenen Größe und Leistungsfähigkeit anzupassen und vom Zögerer und Bremser zum Treiber und Gestalter zu werden – das fällt der Bundesrepublik noch immer schwer. Dabei könnte und sollte Deutschland für gemeinsames europäisches Handeln zur Unterstützung der Ukraine Ideengeber und Treiber sein. Die Intuition der deutschen Außenpolitik in Bezug auf die Ukraine scheint auch nach der „Zeitenwende“ insgesamt zu bleiben: „Wir beobachten das genau, wir prüfen das sorgfältig, da müssen wir erstmal abwarten.“
Implizit zieht die deutsche Ukraine-Politik nach der „Zeitenwende“ wie schon 2014 auch nach der russischen Großinvasion von 2022 die Parallele zur deutschen Teilung. Aus dieser Perspektive müssen sich lediglich ein Festfahren und ein vorläufiger Waffenstillstand erreichen lassen, den man dann in ein ewiges Provisorium umwandelt, damit sich der Grundkonflikt dann möglicherweise nach Jahrzehnten auflösen kann.
Bündnistreue und Sonderweg
Nachdem es durch den Moment der „Zeitenwende“-Rede endlich wieder Anschlussfähigkeit der Positionen der deutschen Ukraine- und Russlandpolitik an den damaligen Konsens der Amerikaner, Briten, Mittelosteuropäer und Skandinavier gab, führte die konsequente Vermeidung einer expliziten Einigung auf strategische Zielsetzungen für die Ukraine-Unterstützung in den letzten Jahren erneut zu einer Entfernung der Positionen. Während für Skandinavier, Mittelosteuropäer und Briten klar ist, dass die Unterstützung der Ukraine der Wiederherstellung der vollen Souveränität des Landes in den Grenzen von 1991 dienen muss und dass dafür Russland militärisch auf dem Boden der Ukraine geschlagen werden muss, scheinen für die USA und für Deutschland ein Management des Krieges mit der Hoffnung auf ein Festfahren der strategische Ansatz zu sein. Deutschland scheint dabei erneut russischen Sichtweisen, Putins Aussagen und befürchtete russische Reaktionen auf deutsches Verhalten höher zu priorisieren als die Positionen der Ukraine, der Mittelosteuropäer und der skandinavischen Partner. Deutschlands komplexhafte und längst widerlegte Angst vor der Eskalation mit Russland führt das Land in die Selbstabschreckung, statt es zu einem Leistungsträger der europäischen Friedensordnung zu machen. Letztlich besteht noch immer die Gefahr, dass Deutschland sich damit zumindest implizit auf die russischen Angebote einer Großmachtpolitik in Europa einlässt, die sich in die Politik eines deutschen Sonderwegs übersetzt.
Seit Beginn der russischen Großinvasion und dem deutschen Kurswechsel durch die Zeitenwende-Rede legt die Bundesregierung im innerdeutschen Diskurs allergrößten Wert auf den Eindruck, jegliches deutsches Vorgehen sei immer eng mit allen Partnern abgestimmt. Das entspricht grundsätzlich zwar dem klassischen und auch historisch richtigen bundesdeutschen Außenpolitikansatz. In den entscheidenden strategischen Fragen scheint die deutsche Abstimmung aber nur für die USA zu gelten und sogar den Grundsatz zu enthalten, dass Deutschland immer nur dann etwas macht, wenn die Amerikaner Vergleichbares bereits getan haben. Die Entscheidung zur Lieferung von Leopard‑2 Kampfpanzern in Abhängigkeit von der Lieferung von M1-Abrams-Kampfpanzern durch die USA war das eindrücklichste Beispiel.
„Deutschland muss den Anschluss wiederfinden, um gemeinsam mit den europäischen Partnern zu agieren.“
Die Bundesregierung empfindet öffentliche und internationale Kritik an der deutschen Ukraine-Hilfe zurecht als ungerecht. Warum wird Deutschland immer wieder kritisiert und andere große Staaten wie Frankreich, Spanien und Italien, die viel weniger für die Ukraine leisten, bleiben weitgehend unbehelligt? Deutschland steht offenbar aufgrund seiner bis 2022 gepflegten Sonderbeziehung mit Moskau weiterhin bei vielen im Verdacht, zum status quo mit Russland zurückkehren zu wollen. Deswegen wird jeder Schritt besonders wahrgenommen und jede Aussage besonders kritisch beurteilt. Vor allem aber wird im Ausland kritisch gesehen, dass Deutschland bei keinem der Schritte für die Ukraine von sich aus Führung übernimmt. Berlin steht zudem einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine entgegen und wirkt auch bei der Heranführung der Ukraine an die EU bisher nicht gänzlich überzeugt. Deutschland braucht mit seiner Ukraine-Politik deshalb jetzt wieder strategische Übereinstimmung mit den Skandinaviern und Mittelosteuropäern. Zuletzt vollzog der französische Präsident Emmanuel Macron hier ab 2023 eine Wende in diese Richtung. Auch Deutschland muss den Anschluss wiederfinden, um gemeinsam mit den europäischen Partnern zu agieren.
Hat Deutschland eine Strategie?
Die Bundesrepublik Deutschland hat nie eine Strategie für die Ukraine formuliert. Seit der Orangenen Revolution von 2004 lässt sich der deutsche Ansatz so zusammenfassen: Eine europäische rechtstaatliche Ukraine liegt in unserem Interesse und wir hoffen, dass diese Entwicklung von allein eintritt. Nach dem NATO-Gipfel von Bukarest 2008 war die deutsche Haltung: Eine EU-Annäherung der Ukraine ist möglich, eine NATO-Annäherung wegen der russischen Gegenposition aber nicht, auch wenn sie als grundsätzliche Perspektive von der NATO beschlossen wurde. Eine langsame EU-Integration der Ukraine möglichst ohne Konflikt mit Russland schien die deutsche strategische Hoffnung zu sein. Nach dem Putin gegen das EU-Assoziierungsabkommen intervenierte und der ukrainische Präsident Janukowytsch daraufhin einen brutalen Rückzieher machte, gab sich Deutschland während der Proteste des Euromaidan als glühender Unterstützer der europäischen Perspektive der Ukraine. Sobald Putin durch Janukowytschs Flucht seinen politischen Einfluss in Kyjiw verlor und sofort auf der Krim zur Anwendung militärischer Gewalt griff, schloss Deutschland militärische Gewalt und militärische Machtdemonstrationen kategorisch aus und ließ die Ukraine damit im Stich. Ab 2014 galt dann der Dreiklang: Einfrieren des Krieges, Investitionen und Engagement in der Ukraine bei gleichzeitiger Fortführung enger Energie- und Wirtschaftsbeziehungen mit Russland. Das Ergebnis ist bekannt. Die Quadratur des Kreises konnte nicht gelingen.
„Ohne Strategie ist ein Erfolg der deutschen Ukraine-Politik unwahrscheinlich.“
Seit der Großinvasion und der Zeitenwende-Rede entwickelte Deutschland sich von anfänglicher Zögerlichkeit zu einem der umfangreichsten militärischen Unterstützer der Ukraine und leistet erhebliche finanzielle und humanitäre Hilfe. Die Impulse dafür kamen aber immer von anderen: Panzerabwehrwaffen, „schwere Waffen“, Ramstein-Format, Kampfpanzer, Flugabwehr, Munitionsinitiative – Deutschland liefert letztlich viel, nachdem andere es öffentlich vorgeschlagen und die Bundesregierung zunächst gezögert und gebremst hatte. Mit welchem Ziel Deutschland diese militärische Hilfe für die Ukraine leistet, bleibt weiterhin ungeklärt und wird mit den Formeln „die Ukraine darf nicht verlieren“ und „wir leisten Unterstützung so lange wie notwendig“ verbrämt. Es ist nach zwei Jahren Krieg überfällig, dass Deutschland eigene Gestaltungsvorstellungen entwickelt und sich strategische Ziele setzt. Möglicherweise fehlt es daran, weil es innerhalb der Koalitionspartner keine Einigkeit gibt. Doch: Ohne Strategie ist ein Erfolg der deutschen Ukraine-Politik unwahrscheinlich.
Das Endspiel aus Sicht der deutschen Politik
Im dritten Kriegsjahr scheint das deutsche Regierungshandeln noch immer von einer ungenauen Vorstellung geleitet, dass die Kampfhandlungen am Ende von allein zum Stehen kommen. Seit Beginn der Großinvasion konnte sich Deutschland aus diesem Gedankengerüst nicht befreien. Nahm man im Februar 2022 an, der Krieg wäre nach wenigen Wochen mit einem russischen Sieg beendet, stellte man sich nach Russlands Rückzug vor Kyjiw vor, dass im Sommer 2022 zu einem Stillstand käme. Nach den ukrainischen Gegenoffensiven im Spätsommer 2022 glaubte man an ein Festfahren innerhalb von Monaten aufgrund des Winters. Später vermutete man, dass nach dem Versanden der großangelegten ukrainischen Gegenoffensive von 2023 der Moment des Stillstands käme. Nie sind diese Erwartungen eingetreten.
Derzeit scheinen die USA und in der Folge Deutschland auf ein Festfahren des Krieges zum Jahresende 2024 zu setzen, wobei wie in allen vorherigen Fällen unklar bleibt, auf welcher analytischen Grundlage dieses Denken beruht. In kleinen Schritten will man mit möglichst geringem Aufwand und möglichst geringen Kosten die Ukraine schrittweise unterstützen und hegt dabei im Hintergrund die Hoffnung, dass die Ukrainer irgendwann „schwierige“ Entscheidungen treffen, während Putin gleichzeitig „eingesehen“ hat, dass er nicht weiterkommt.
Wenn solches Hoffen realistisch sein sollte, dann wird es vermutlich sehr lange dauern, bis diese Vorstellungen von einem Endspiel eintreten. Eine dosierte militärische Unterstützung der Ukraine bei gleichzeitiger Unterlassung des schnellen Aufbaus höherer Industriekapazitäten in Deutschland und Europa für Waffen und Munition eröffnen für Putin zudem immer wieder neue Siegchancen.
Nachkriegseuropa oder Vorkriegseuropa?
Putin entschied sich nach eigener Aussage für den Überfall auf die Ukraine, um die Ordnung in Europa fundamental zu verändern. Im Gegensatz dazu unterstützt Deutschland die Ukraine im Verteidigungskrieg, ohne eine strategische Vorstellung von einem Nachkriegseuropa entwickelt zu haben. Der deutsche Ansatz scheint bisher eher vom Wunsch in eine Rückkehr ins Vorkriegseuropa getrieben zu sein: Waffenstillstand in der Ukraine, auch wenn die Kontaktlinie weiter westlich liegt, keine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, die EU-Mitgliedschaft am besten in weiter Ferne. Das jetzige EU- und NATO-Europa schottet sich nach dieser Vorstellung ab und sichert damit vermeintlich seinen Wohlstand und seine Sicherheit, während die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien in einer Grauzone bleiben müssen. Vielleicht ließen sich mit der Zeit in dieser Konstellation sogar die Beziehungen zu Russland schrittweise normalisieren. Lediglich an der Ostflanke der NATO und damit auch der Ostgrenze der EU verstärkt man das deutsche Engagement durch die permanente Stationierung einer deutschen Brigade und den Aufbau eines „European Sky Shield“. Auf diese Weise kehrt man nach diesem Konzept in ein leicht verändertes Vorkriegseuropa zurück. Dabei bleibt unbeantwortet, wie genau das Ende des russisch-ukrainischen Krieges herbeigeführt und wie ein jahrelanger Krieg vermieden werden soll. Und offen bleibt nach bisheriger deutscher Vorstellung auch die Frage, wie Russland künftig von weiteren militärischen Abenteuern und Aggressionen abgehalten werden soll. Auch Stabilität und Sicherheit in der genannten Grauzone werden nicht bedacht.
Deutschland hat zwar bereits ein mehrjähriges bilaterales Sicherheitsabkommen mit der Ukraine vereinbart, legte darin aber keine strategischen Zielsetzungen fest. Dass Deutschland dem EU-Kandidatenstatus der Ukraine zugestimmt hat, sich einer NATO-Mitgliedschaft Kyjiws jedoch gleichzeitig entgegenstellt, gleicht einem gedanklichen Rückfall in die Zeit nach 2008, als man dachte, eine EU-Annäherung von Staaten in der Grauzone sei ohne die Sicherheitsgarantien der NATO möglich. Diese Hypothese ist empirisch widerlegt.
„Für eine europäische Nachkriegsordnung fehlt es an konkreten konzeptionellen Vorstellungen“
Die deutsche Strategie für die militärische Unterstützung der Ukraine bleibt auch im dritten Kriegsjahr bestenfalls implizit. Für eine europäische Nachkriegsordnung fehlt es an konkreten konzeptionellen Vorstellungen. Frieden für die Ukraine wird sich jedoch nur erreichen lassen, wenn man intellektuell aus dem inkrementellen Vorgehen ausbricht, eine Theorie des Sieges der Ukraine im Verteidigungskrieg gegen Russland entwirft, die militärische Unterstützung daran ausrichtet und gleichzeitig eine Gestaltungsvorstellung für eine europäische Nachkriegsordnung entwickelt. Dafür scheinen Deutschland bisher die konzeptionelle Kraft und der politische Wille zu fehlen.
Wie lässt sich Deutschlands Position verändern?
Die mehr als zwei Jahre des Kriegsverlaufs zeigten jedoch auch, dass die Position der Bundesregierung sich immer wieder verändern lässt. Die realen militärischen Entwicklungen auf dem Schlachtfeld formen politisches Denken und Regierungshandeln stets neu. Denn das Schlachtfeld bestimmt die Politik, nicht die Politik das Schlachtfeld. Die erfolgreiche ukrainische Abwehr der russischen Streitkräfte vor Kyjiw öffnete die Tür für die Lieferung von Flakpanzern und Artillerie, die ukrainische Offensive vom Spätsommer 2022 legte die Grundlage für die Entscheidung zur Lieferung von Schützen- und Kampfpanzern. Aufgrund der russischen Angriffe auf Charkiw entstand der Zugzwang zur Aufhebung der Beschränkungen zum Einsatz deutscher Waffen und Munition auf ukrainisches Staatsgebiet.
Gleichzeitig scheint der wichtigste Schlüssel zur Veränderung der deutschen Ukrainepolitik noch immer in Washington zu liegen. Deutschland vollzieht Veränderungen der amerikanischen Ansätze nach und bewegt sich immer dann weiter, wenn sich auch die Amerikaner weiterbewegen. Womöglich leiten die deutschen Entscheidungsträger diese Vorgehensweise daraus ab, dass Deutschland keine Nuklearmacht ist und auf den Schutz durch die USA angewiesen bleibt. In Bezug auf die innenpolitischen Entwicklungen in den USA wird diese enge Kopplung schon bald Fragen aufwerfen. Ein Strategiewechsel hin von der dosierten inkrementellen Militärhilfe zu einer schnelleren Entscheidung ist in den USA sowohl für eine zweite Amtszeit Bidens als auch Trumps denkbar.
Auch Frankreich kann die deutsche Debatte beeinflussen, allerdings nur, wenn Paris konkret handelt und nicht nur weitreichende rhetorische Bekenntnisse abliefert. Die Bündnisstaaten in Mittelosteuropa und Skandinavien gehören gemeinsam mit Frankreich zu den wichtigsten Befürwortern einer schnelleren ukrainischen NATO-Mitgliedschaft. Ihr großes Engagement und enger Austausch mit Deutschland, Antreiben der Bundesregierung, ihre ständige öffentliche und nichtöffentliche Auseinandersetzung mit den deutschen Positionen kann dabei helfen, Berlin weiterzubewegen und der Bundesregierung beim strategischen Aufholen zu helfen. Wie bei der geschlossenen Reaktion auf den Beginn der russischen Großinvasion wird ein erfolgreiches Handeln Europas nur möglich sein, wenn die strategischen Positionen der Skandinavier, Mittelosteuropäer, Franzosen, Briten und Deutschen wieder enger zueinander finden.
Wie Deutschland eine immer stärkere Linie für die Unterstützung der Ukraine gefunden hat, das ist auch eine Geschichte des Parlamentarismus und der Öffentlichkeit. Der Druck aus dem Parlament, öffentliche Debatten und veröffentlichte Meinung haben einen entscheidenden Anteil daran, dass die Bundesregierung sich immer wieder weiterbewegt hat. Viele der wichtigen Unterstützungsleistungen für die Ukraine, für die die Bundesregierung sich jetzt zurecht lobt, wären ohne den parlamentarischen und öffentlichen Nachdruck nicht möglich gewesen. Es wird notwendig sein, diese Debatten weiter aufrecht zu erhalten und gleichzeitig immer wieder neue Ideen einzubringen, auch um die strukturelle Enge der deutschen Regierungsbürokratie in der Außen- und Sicherheitspolitik immer wieder zu erweitern.
Muss es wirklich 28 Jahre dauern, bis die Ukrainerinnen und Ukrainer eine Chance auf ein Leben in Freiheit und Einheit bekommt? Wird Deutschland dazu beitragen, dass es anders und schneller geht? Müssen wir tatsächlich auf einen neuen Mauerfall warten oder können wir selbst stärker darauf hinwirken, ein Ende des Krieges durch die militärische Durchsetzungsfähigkeit der Ukraine zu erzwingen? Findet Deutschland die Kraft, aus dem status quo auszubrechen und ein Bild für ein Nachkriegseuropa zu entwerfen, dass Grauzonen beseitigt und die Zone des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands ausbaut? Diese Fragen lassen sich nur schrittweise beantworten. Es wäre dafür hilfreich, wenn Deutschland in einem ersten Schritt endlich klärt, auf welches Ziel die militärische Unterstützung der Ukraine ausgerichtet ist und welche Ressourcen in welcher Zeit zum Erreichen dieses Ziels notwendig sind.
Nico Lange ist Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz und Senior Fellow for Transatlantic Security and Defense beim Center for European Policy Analysis (CEPA). Er war von 2019–2022 Leiter des Leitungsstabes des Verteidigungsministeriums. Lange lebte und arbeite lange in den USA, in der Ukraine und in Russland. Er spricht fließend Ukrainisch und Russisch.
Dieses Paper ist im Rahmen des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „Russland und der Westen“: Europäische Nachkriegsordnung und die Zukunft der Beziehungen zu Russland“ erschienen. Sein Inhalt gibt die persönliche Meinung des Autors wider.
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