Russ­land gehört zu uns

Kremlin.ru [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)]

Die Anne­xion der Krim, die Ein­mi­schung in Wahlen im Westen, die Inter­ven­tion im syri­schen Bür­ger­krieg: Russ­lands destruk­ti­ves Ver­hal­ten ist Aus­druck einer Iden­ti­täts­krise. Europa sollte Moskau eine Lösung für diese Krise anbie­ten und so auf das Land schauen, wie Anhän­ger eines ver­ein­ten Europas während des Kalten Krieges auf das sowje­tisch domi­nierte Ost­eu­ropa schau­ten – als ver­lo­re­nes Schaf, das eines Tages zur Herde zurück­keh­ren wird.

In seinem im März ver­öf­fent­lich­ten Mani­fest hat Frank­reichs Prä­si­dent Emma­nuel Macron dazu auf­ge­ru­fen, das Projekt eines ver­ein­ten Europas zu erneu­ern, eines Europas, das auf den Ideen von Frei­heit, Schutz des Kon­ti­nents und Fort­schritt beruht. In Bezug auf den glo­ba­len Wett­be­werb, in den die EU als poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Welt­macht ver­wi­ckelt ist, griff Macron auf euro­päi­schen Natio­na­lis­mus zurück, als er schrieb, dass „eine Bevor­zu­gung Europas bei stra­te­gi­schen Indus­trien und bei unseren öffent­li­chen Auf­trä­gen vor­ge­nom­men werden [sollte], wie das auch unsere ame­ri­ka­ni­schen und chi­ne­si­schen Kon­kur­ren­ten tun“. 

Portrait von Anton Shekhovtsov

Anton Shek­hovtsov forscht zu den Bezie­hun­gen des Kreml zu rechts­extre­men Par­teien im Westen und ist Dozent an der Uni­ver­si­tät Wien.

Diese Worte sind auch deshalb bezeich­nend, weil die USA und China die ein­zi­gen Nicht­mit­glie­der der EU sind, die in Macrons Mani­fest direkt genannt werden. Dies erlaubt wohl einen umfas­sen­den Ein­blick in seine Vor­stel­lun­gen von einer zukünf­ti­gen Macht­kon­stel­la­tion: Für die EU stellen allein die USA und China eine reale Her­aus­for­de­rung dar, alle anderen inter­na­tio­na­len Pro­bleme sind kaum mehr als lästige Ärgernisse.

Macron schien denn auch die Vor­stel­lung von einem läs­ti­gen Stör­fak­tor zu haben, als er auf Russ­land anspielte mit dem Hinweis, dass Wahlen in Europa vor „Cyber­at­ta­cken und Mani­pu­la­tion“ geschützt werden müssten, und mit dem Vor­schlag, dass „die Finan­zie­rung euro­päi­scher Par­teien durch fremde Mächte“ unter­bun­den werden müsse. Vor dem Hin­ter­grund der aus Russ­land stam­men­den Cyber­an­griffe und Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen während des fran­zö­si­schen Prä­si­dent­schafts­wahl­kamp­fes 2017 waren Macrons Anspie­lun­gen nicht allzu kryp­tisch. Aus seiner Sicht bedeu­tet Russ­land Cyber­at­ta­cken, Mani­pu­la­tion und aus­län­di­sche Unter­stüt­zung für euro­päi­sche Par­teien. Das Land stellt – anders als die USA und China – nicht eine globale Kon­kur­renz dar, sondern ver­ur­sacht Kopf­schmer­zen, die mit einem Schmerz­mit­tel wie der von Macron vor­ge­schla­ge­nen „Euro­päi­schen Agentur zum Schutz der Demo­kra­tie“ zu beheben sind.

Russ­land ist nicht Stör­fak­tor, sondern Katalysator

Dieser Ansatz ist berech­tigt, doch wäre es poli­tisch kurz­sich­tig, Russ­land aus­schließ­lich als Stör­fak­tor zu behan­deln. Der einzige Grund, warum euro­päi­sche Libe­rale wie Macron wegen Cyber­at­ta­cken, Des­in­for­ma­tion und Unter­stüt­zung für rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­teien besorgt sind, besteht darin, dass das Vor­ge­hen Moskaus als etwas betrach­tet wird, das die Geschlos­sen­heit Europas unter­gräbt. Aller­dings ist es nicht so, dass Russ­land diese Spal­tun­gen erzeugt; es zieht ledig­lich Nutzen aus bereits bestehen­den Kon­flik­ten. In dieser Rolle ist Russ­land nicht selbst der Stör­fak­tor, sondern ein Katalysator.

In der Chemie ist ein Kata­ly­sa­tor ein Stoff, der die Stärke einer che­mi­schen Reak­tion erhöht. Als Kata­ly­sa­tor ver­schärft Russ­land soziale Span­nun­gen in Europa, indem poli­ti­sche Anlie­gen unter­stützt werden, die an sich bereits zer­set­zend sind. Und Russ­land ist sich seiner Rolle bei der Desta­bi­li­sie­rung euro­päi­scher Gesell­schaf­ten bewusst: Schließ­lich beschul­digt Moskau den Westen oft, in Russ­land soziale Span­nun­gen zu schüren. Der Kreml weiß genau, was er im Westen betreibt.

Putins Russ­land ledig­lich als Kata­ly­sa­tor zu sehen, bringt uns – ganz wie seine Wahr­neh­mung als Ärger­nis – aller­dings auch nicht weiter, wenn es darum geht, das größere Bild zu ver­ste­hen. Hier sei an den Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler Paul Romer von der Uni­ver­si­tät Stan­ford erin­nert, der davor warnte, eine Krise unge­nutzt zu lassen: Ich denke, dass Russ­land mit seiner Kata­ly­sa­tor­rolle als Stress­test für die poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che und soziale Sta­bi­li­tät Europas gesehen werden sollte. Daher sollte man sich beim Umgang mit der „Russ­land-Frage“ in Europa weniger darauf kon­zen­trie­ren, den Strom der Des­in­for­ma­tio­nen zu ent­lar­ven. Viel­mehr sollte man ver­su­chen, jene Schwä­chen aus­zu­ma­chen, die es Russ­land erlau­ben, euro­päi­sche Gesell­schaf­ten zu spalten. Diese beson­dere Per­spek­tive ist deshalb von zen­tra­ler Bedeu­tung, weil es – um zu Macrons Mani­fest zurück­zu­keh­ren – nicht Russ­land ist, das für Europa eine echte Her­aus­for­de­rung darstellt.

Orwell hätte sich das Ausmaß der Über­wa­chung in China nicht vor­stel­len können

Im Sep­tem­ber 2018 schrieb Edward Lucas, ein füh­ren­der bri­ti­scher Experte für Sicher­heits­po­li­tik, in der „The Times“, dass Putins Russ­land bei all seiner geo­gra­phi­schen Größe und all seinem Atom­arse­nal grund­sätz­lich schwach sei, und dass „die wirk­li­che Her­aus­for­de­rung für Europas wacke­lige Sicher­heit eine Quelle [hat], die ernster zu nehmen [ist], nämlich China“. Der Mäzen und Inves­tor George Soros äußerte am Rande des Welt­wirt­schafts­fo­rums in Davos eine ähn­li­che Ansicht, als er sagte, China sei das wohl­ha­bendste, stärkste und tech­no­lo­gisch fort­schritt­lichste auto­ri­täre Regime der Welt. Er fügte hinzu, dass Chinas Staats­chef Xi Jinping „der gefähr­lichste Gegner all jener [ist], die an die Idee einer offenen Gesell­schaft glauben“. Soros verwies hierbei auf das soge­nannte Sozi­al­kre­dit-System, ein Instru­ment, das von den chi­ne­si­schen Behör­den ein­ge­setzt wird, um kri­ti­sche Ansich­ten in China auszumerzen.

Die tech­no­lo­gi­schen Fort­schritte in China, mit denen Kon­trolle über die Bevöl­ke­rung errich­tet werden soll, sind tat­säch­lich erschre­ckend und gehen über das hinaus, was „Orwell sich je hätte vor­stel­len können“, wie es ein Jour­na­list for­mu­lierte. China kann nicht nur Mil­lio­nen Leute im Live-Modus beob­ach­ten, ein­zelne Men­schen iden­ti­fi­zie­ren, sie auf­spü­ren und Daten der Gesichts­er­ken­nung in Ver­bin­dung zu per­sön­li­chen Details wie Reisen, Gesund­heits­zu­stand oder der Kre­dit­ge­schichte in Ver­bin­dung setzen. Chi­ne­si­sche Tech­no­lo­gie kann darüber hinaus das Ver­hal­ten von Men­schen vor­her­sa­gen. Das führt uns dann schon in die dys­to­pi­sche Welt der Kurz­ge­schichte „Mino­rity Report“ von Philip K. Dick (die 1956 erschien und 2002 durch den gleich­na­mi­gen Film von Steven Spiel­berg mit Tom Cruise bekannt wurde), in der eine Poli­zei­ab­tei­lung für „Prä-Ver­bre­chen“ Men­schen wegen Taten ver­haf­tet, die sie nicht began­gen haben, aber in der Zukunft verüben werden.

Die tota­li­täre Unter­drü­ckung in Xi Jipings China ist nicht nur futu­ris­tisch, sie ist auch von archai­scher Grau­sam­keit. Seit 2014 unter­hält China Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, in denen die Regie­rung ver­sucht, die turk­spra­chige Min­der­heit der Uiguren sowie Muslime aus anderen eth­ni­schen Gruppen „umzu­er­zie­hen“; das Ziel sei die Abwehr von Extre­mis­mus und Terrorismus.

Dass China unge­straft bleibt, legi­ti­miert sein Vorgehen

Mus­li­mi­sche Führer in aller Welt haben es unter­las­sen, die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger gegen­über China anzu­spre­chen, weil sie lieber Wirt­schafts­be­zie­hun­gen zu diesem Land unter­hal­ten. Bezeich­nen­der­weise hat der sau­di­sche Kron­prinz Moham­med bin Salman (der von den Ver­ein­ten Natio­nen mit der Ermor­dung des Jour­na­lis­ten Jamal Kaschoggi in Ver­bin­dung gebracht wird) sogar ver­tei­digt, dass China das „Recht [hat], Maß­nah­men gegen Ter­ro­ris­mus und Extre­mis­mus zu ergrei­fen, um seine natio­nale Sicher­heit zu gewähr­leis­ten“ – so gesche­hen, während er ein mil­lio­nen­schwe­res Han­dels­ab­kom­men mit China unter­zeich­nete. Nachdem Staaten des Westens eine Stel­lung­nahme abge­ge­ben hatten, in der die mas­sen­hafte Inhaf­tie­rung von Uiguren ver­ur­teilt wurde, ver­öf­fent­lich­ten Saudi-Arabien, die Ver­ei­nig­ten Ara­bi­schen Emirate, Ägypten, Katar, Bahrein, Paki­stan, Oman und 30 weitere Staaten ihrer­seits eine Stel­lung­nahme. Dort wurde China für seine „bemer­kens­wer­ten Leis­tun­gen im Bereich der Men­schen­rechte“ gelobt. In der­sel­ben Stel­lung­nahme wurden die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger als „Berufs­bil­dungs­zen­tren“ bezeichnet.

Nicht alle Muslime werden in diesen „Berufs­bil­dungs­zen­tren“ neue Fer­tig­kei­ten erler­nen: Viele von ihnen dürften wohl – wie chi­ne­si­sche poli­ti­sche Gefan­gene – Opfer eine zwangs­wei­sen Ent­nahme von Organen werden. Der inves­ti­ga­tive Jour­na­list Ethan Gutan argu­men­tiert in seinen Arti­keln, dass genau dies das Schick­sal von Zehn­tau­sen­den Anhän­gern der Reli­gi­ons­be­we­gung Falun Gong war. Ihre Organe wurden auf dem lukra­ti­ven chi­ne­si­schen Trans­plan­ta­ti­ons­markt verkauft.

Hierbei han­delst es sich nicht nur um eine interne Abscheu­lich­keit Chinas: Das chi­ne­si­sche Modell der gesell­schaft­li­chen Kon­trolle, der Unter­drü­ckung abwei­chen­der Mei­nun­gen und der abso­lu­ten Miss­ach­tung von Men­schen­rech­ten, um wirt­schaft­li­chen Nutzen zu errin­gen, ist expor­tier­bar. Dass China für seine unge­heu­er­li­che Ver­let­zung von Men­schen- und Per­sön­lich­keits­rech­ten und der Mei­nungs­frei­heit unge­straft bleibt, legi­ti­miert eine solche Miss­ach­tung in den Augen vieler auto­ri­tä­rer Führer dieser Welt. Hier genügt ein Blick auf die Liste der Länder, die China für die „För­de­rung der Men­schen­rechte durch Ent­wick­lung“ gelobt haben.

Russ­land will zu einem Macht­zen­trum der neuen Mul­ti­po­la­ri­tät werden

Zu den fins­te­ren Aspek­ten des China von heute kommt seine wach­sende mili­tä­ri­sche Stärke. John Fried­man, mitt­ler­weile ver­stor­be­ner Pro­fes­sor der Uni­ver­si­tät Kali­for­nien, traf vor zehn Jahren die Vor­her­sage, dass „Chinas wach­sende wirt­schaft­li­che Macht sich unwei­ger­lich auch in poli­ti­sche und mili­tä­ri­sche Macht ver­wan­deln“ werde. Seither sind die Mili­tär­aus­ga­ben des Landes real um 83 Prozent gestie­gen und Xi Jinping hofft, dass die chi­ne­si­sche Armee bis 2050 „Welt­klasse“ sein wird. „Welt­klasse“ impli­ziert eine Qua­li­tät, mit der „Amerika geschla­gen“ werden kann. Tra­di­tio­nelle Bewaff­nung wird gegen Mitte des Jahr­hun­derts ein­deu­tig eine sehr viel gerin­gere Rolle spielen. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass künst­li­che Intel­li­genz, Big Data und maschi­nel­les Lernen voll­stän­dig zu Waffen gemacht werden.

Fried­mann war darüber hinaus zu dem Schluss gekom­men, dass die Welt zukünf­tig von einem chi­ne­sisch-ame­ri­ka­ni­schen Ant­ago­nis­mus bestimmt sein werde, während die Euro­päi­sche Union und Indien poten­ti­ell in der Lage sein würden, in ihrer Kon­kur­renz eine begrenzte Zurück­hal­tung zu üben. Eine solche Situa­tion impli­ziert das Ende der uni­po­la­ren Welt, wie sie seit dem Unter­gang der Sowjet­union und dem Kollaps des sozia­lis­ti­schen Blocks in Ost­eu­ropa bestan­den hat. Das Ent­ste­hen von Mul­ti­po­la­ri­tät scheint unum­kehr­bar, und die einzige Frage besteht nun darin, wo die Zentren glo­ba­ler Macht und ein zukünf­ti­ges Macht­gleich­ge­wicht zwi­schen diesen liegen werden. Auch Michael O’Sullivan schreibt in seinem jüngst erschie­ne­nen Buch „The Level­ling: What’s Next After Glo­ba­liza­tion“ von vier Polen, die die mul­ti­po­lare Zukunft bestim­men werden: den USA, China, Europa und poten­ti­ell Indien. Auch wenn Russ­land bei bestimm­ten Aspek­ten der Mul­ti­po­la­ri­tät punkten könnte (etwa mili­tä­risch), dürfte es „in seinem gegen­wär­ti­gen Zustand […] kaum zu einem echten Pol werden“, schreibt O’Sullivan.

Die Erwar­tun­gen der rus­si­schen Führung – daran erin­nern Anton Bar­ba­schin und Alex­an­der Graefin in ihrem bald erschei­nen­den Bericht zur rus­si­schen Außen­po­li­tik – haben sich seit Mitte der Neun­zi­ger­jahre stets von derlei Vor­stel­lun­gen unter­schie­den: „Sämt­li­che Vari­an­ten von Mul­ti­po­la­ri­tät, die in Russ­land dis­ku­tiert wurden und werden, gingen und gehen davon aus, dass Russ­land einer dieser Pole sein und somit seinen Groß­macht­sta­tus behal­ten werde.“ Nun aber, da sich schließ­lich eine Mul­ti­po­la­ri­tät ent­wi­ckelt, muss die geo­po­li­ti­sche Land­schaft, so, wie sie Gestalt annimmt, für Russ­land beun­ru­hi­gend und schmerz­haft sein. O’Sullivan schreibt, dass Mul­ti­po­la­ri­tät bei Ländern wie Japan oder Aus­tra­lien, die „sich nicht gänz­lich inner­halb des Feldes eines der Pole befin­den“ eine Iden­ti­täts­krise aus­lö­sen werde, während das Ende der uni­po­la­ren Welt für Länder wie Russ­land eine Krise der Ambi­tio­nen erzeuge: Russ­land wolle zu einem der Pole werden, sei dazu aber nicht in der Lage.

Das Land ähnelt einem Blinden, der wild um sich schlägt

Diese Krise der Ambi­tio­nen führt aller­dings not­wen­di­ger­weise auch zu einer Iden­ti­täts­krise. Das erklärt zum Teil Russ­lands Ver­hal­ten auf der inter­na­tio­na­len Bühne in den letzten Jahren – die Anne­xion der Krim und der Krieg gegen die Ukraine, die Ein­mi­schung in Wahlen im Westen, die Inter­ven­tion im syri­schen Bür­ger­krieg unter dem Deck­man­tel der Ter­ro­ris­mus­be­kämp­fung und die mili­tä­ri­schen Aben­teuer in Afrika. All diese Vor­ge­hen können als etwas inter­pre­tiert werden, mit dem Russ­land das nach­zu­ah­men sucht, was die USA – in Moskaus Wahr­neh­mung – als Welt­macht unter­neh­men. Russ­land ver­sucht, seine Iden­ti­täts­krise zu über­win­den, indem es mit drauf­gän­ge­ri­schem Ver­hal­ten und den inter­na­tio­na­len Reak­tio­nen darauf expe­ri­men­tiert. Das Land ähnelt einer blinden Person, die des eigenen Körpers nicht durch ein behut­sa­mes Ertas­ten gewahr wird, sondern dadurch, dass chao­tisch getre­ten, geboxt und rundum alles zer­schla­gen wird.

Da Moskau seinen Platz in der ent­ste­hen­den mul­ti­po­la­ren Welt sucht, in der es wohl kaum zu einem der Pole werden wird, gerät es in eine Falle, und die heißt Peking. Im Zuge seines Kon­flik­tes mit dem Westen, der sich nach der Anne­xion der Krim ver­schärft hat, ist Russ­land näher an China gerückt. Peking betrach­tet Moskau nicht nur als Han­dels­part­ner, sondern auch als poten­ti­el­len Ver­bün­de­ten im Kampf gegen den Westen. Aller­dings bleibt Moskau gegen­über Peking arg­wöh­nisch. In Russ­land hegen einige immer noch die Hoff­nung, dass das Land einer der Pole werden könne und sind voll Unbe­ha­gen, dass Russ­land eine „kleine Schwes­ter“ des „großen Bruders“ aus China werden könne. Bruno Maçães, Por­tu­gals ehe­ma­li­ger Staats­se­kre­tär für Euro­pa­fra­gen, schrieb in einem auf­schluss­rei­chen Artikel über die rus­sisch-chi­ne­si­schen Bezie­hun­gen: „Russ­land will ein unab­hän­gi­ger Pol in der neuen Welt­ord­nung sein. Ein unab­hän­gi­ger Pol in enger Ver­bin­dung mit China zu sein, ist aber ange­sichts der Asym­me­trie der Wirt­schafts­kraft und Größe [der beiden Länder] schlicht­weg unmög­lich. Also wird Russ­land genö­tigt sein, einen gewis­sen Abstand zu seinem öst­li­chen Nach­barn zu wahren.“

Aller­dings wird Russ­land nicht in der Lage sein, Abstand von China zu halten, solange es in einen Kon­flikt mit dem Westen steht. Es besteht eine beträcht­li­che Wahr­schein­lich­keit, dass das von Denis Sokolov, einem Exper­ten der Free Russia Foun­da­tion, vor­ge­legte düstere Sze­na­rio tat­säch­lich rea­lis­tisch ist: „Russ­land könnte nicht nur die poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Kon­trolle über die meisten seiner Gebiete und Res­sour­cen ver­lie­ren, sondern zu einer rie­si­gen, atomar bewaff­ne­ten Stell­ver­tre­ter-Super­macht werden, die im Inter­esse Chinas und chi­ne­si­scher Unter­neh­men agiert.“ Mit anderen Worten: China als wich­ti­ger Pol in der mul­ti­po­la­ren Welt kann durch Russ­land gestärkt werden, während Moskau in einem Bündnis nicht einmal eine „kleine Schwes­ter“ wäre, sondern ledig­lich eine Zweig­stelle von Peking. Während Russ­land sein auto­ri­tä­res Expe­ri­ment fort­setzt, die Zivil­ge­sell­schaft zer­stört und die Men­schen­rechte igno­riert, berei­tet es sich auf seine Rolle als ein Ver­tre­ter Chinas vor.

Wenn Russ­land Europa zurück­weist, beweist es, dass es zu Europa gehört

Liegt es in Europas Inter­esse, dass China, das von der EU als „sys­te­mi­scher Rivale“ bezeich­net wird, zu einer noch grö­ße­ren Her­aus­for­de­rung wird, indem es Russ­land wirt­schaft­lich in sein Macht­zen­trum inte­griert? Mir scheint, nur ein Ver­rück­ter würde hierin einen Nutzen für Europa erken­nen. Es ist somit von ent­schei­den­der Bedeu­tung, dass eine solche Ent­wick­lung ver­hin­dert wird. Europa sollte Russ­land nicht in die Arme Chinas ent­las­sen, sondern über­le­gen, wie es sich dadurch stärkt, dass Russ­land in sein eigenes Zentrum glo­ba­ler Macht inte­griert wird.

Ivan Krastev erklärt die unver­hält­nis­mä­ßige Beschäf­ti­gung des Westens mit Moskaus ver­stö­ren­dem Ver­hal­ten damit, dass der Westen deshalb von Russ­land beses­sen sei, weil er in ihm ein Schreck­bild einer mög­li­chen Ent­wick­lung seiner selbst sehe, also eine Ent­wick­lung, die er selbst fürch­tet. Aller­dings trifft auch das Umge­kehrte zu: Wenn Russ­land ver­sucht, seine Iden­ti­täts­krise mittels äußerer Reak­tio­nen auf sein drauf­gän­ge­ri­sches Vor­ge­hen zu über­win­den, so ist der äußere Adres­sat, von dem Hilfe zur Selbst­be­stim­mung erwar­tet wird, nicht etwa China oder Indien, sondern der Westen. Wenn Russ­land Europa zurück­weist, kämpft es eigent­lich mit der Erkennt­nis, dass es zu Europa gehört.

Europa kann und sollte Russ­land nicht dabei helfen, seine Krise der Ambi­tio­nen in puncto Mul­ti­po­la­ri­tät zu über­win­den. Europa sollte Russ­land eine Lösung für seine Iden­ti­täts­krise anbie­ten. Es sollte so auf Russ­land schauen, wie Anhän­ger eines ver­ein­ten Europas während des Kalten Krieges auf das sowje­tisch domi­nierte Ost­eu­ropa schau­ten – als ver­lo­re­nes Schaf, das eines Tages zur Herde zurück­keh­ren wird, und zwar – das ist wichtig – zu Bedin­gun­gen des Westens. „Ost­eu­ropa gehört zu uns“ ver­kün­de­ten sei­ner­zeit west­eu­ro­päi­sche Idea­lis­ten beharr­lich. Heute sollten wir insis­tie­ren: „Russ­land gehört zu uns“.

Die Bürger Europas müssen direkt mit den Men­schen in Russ­land sprechen

Gewiss ist das rück­schritt­li­che und revan­chis­ti­sche Russ­land von heute kein Freund Europas, und jeder Versuch, mit der der­zei­ti­gen Führung des Landes einen Dialog auf­zu­neh­men, würde als Schwä­che Europas inter­pre­tiert werden. Unter der rus­si­schen Elite gibt es prak­tisch nie­man­den, mit dem Europa ver­nünf­tig reden könnte, nie­man­den, mit dem Europa über die Zukunft spre­chen könnte. Also muss Europa den rich­ti­gen Moment abwar­ten und dann Russ­lands insti­tu­tio­nelle Ein­bin­dung in den Westen ein­lei­ten. Andreas Umland hat in seinem wahr­lich visio­nä­ren Artikel über west­li­che Unter­stüt­zung für eine Demo­kra­ti­sie­rung Russ­lands gefor­dert, dass der Westen über einen umfas­sen­den Akti­ons­plan für jenen Moment ver­fü­gen müsse, wenn Russ­land „für eine neu­er­li­che Annäh­rung mit dem Westen“ bereit sei. Dieser Plan sollte seinem Geiste nach der Haltung des Westens gegen­über dem post­fa­schis­ti­schen West­deutsch­land entsprechen.

Den rich­ti­gen Augen­blick abzu­war­ten bedeu­tet aber nicht, einfach untätig zu bleiben, im Gegen­teil. Neben der Aufgabe, einen Plan zur Inte­gra­tion Russ­lands in das globale Macht­zen­trum Europas zu ent­wi­ckeln und diesen der Gesell­schaft in Russ­land zu ver­mit­teln, gibt es eine Reihe von Ideen, die die euro­päi­sche Führung berück­sich­ti­gen sollte.

Es hat zwar keinen Sinn, mit Russ­lands anma­ßen­den, para­no­iden und mora­lisch kor­rum­pier­ten Eliten zu reden. Sie werden es nicht sein, die Russ­land reprä­sen­tie­ren, wenn der rich­tige Augen­blick für den Beginn der Inte­gra­tion Russ­lands in den Westen gekom­men ist. Doch müssen die Führer und die Bürger Europas direkt mit den Men­schen in Russ­land spre­chen, beson­ders mit den jungen. Dies könnte über akti­vere und aus­ge­wei­tete aka­de­mi­sche Aus­tausch­pro­gramme erfol­gen; über eine Unter­stüt­zung von Stif­tun­gen und Orga­ni­sa­tio­nen in der EU, die Stu­di­en­auf­ent­halte rus­si­scher Bürger in Europa fördern, wie auch von Orga­ni­sa­tio­nen, die gute Ver­bin­dun­gen zur rus­si­schen Dia­spora im Westen haben; über eine Wie­der­be­le­bung der bestehen­den Netz­werke, an denen Russen betei­ligt sind; über eine Aus­rich­tung inter­na­tio­na­ler und vor allem euro­päi­scher Sport‑, Kultur‑, Unter­hal­tungs- und Bil­dungs­ver­an­stal­tun­gen in Russ­land; und über die Schaf­fung und För­de­rung euro­päi­scher rus­sisch­spra­chi­ger Medien.

Europa sollte darüber hinaus behut­sam den Ver­su­chen Chinas ent­ge­gen­tre­ten, in EU-Staaten und in der geo­gra­phi­schen und kul­tu­rel­len Nach­bar­schaft zu Russ­land eine wirt­schaft­li­che Präsenz zu eta­blie­ren. Länder wie Geor­gien, die Ukraine und Moldau, die nach dem Unter­gang der Sowjet­union von einer Aggres­sion Russ­lands betrof­fen waren, mögen Chinas Präsenz als ein Gegen­ge­wicht zu Russ­lands Ein­fluss und als Ersatz für Wirt­schafts­be­zie­hun­gen mit Russ­land betrach­ten. Doch auch hier ist es eher China, und nicht Russ­land, das für Europa die größere Her­aus­for­de­rung bedeu­tet. Die EU muss diesen Ländern deut­lich machen, dass die Inte­gra­tion Russ­lands in den Westen ihre Sicher­heits­pro­bleme löst, während sie die Ein­bin­dung in den chi­ne­si­schen Ein­fluss­be­reich zu poten­ti­el­len Gegnern Europas macht.

Der Aufbau eines großen Europa wird nicht nur das Problem der Grau­zone zwi­schen der EU und Russ­land beheben. Er würde es auch möglich machen, die Sicher­heit des euro­päi­schen Macht­zen­trums zu erhöhen, der Gefahr des Isla­mis­mus besser zu begeg­nen, das Problem des Kli­ma­schut­zes effi­zi­en­ter anzu­ge­hen und schließ­lich die Posi­tion Europas gegen­über den anderen Polen der ent­ste­hen­den mul­ti­po­la­ren Welt zu konsolidieren.

Dieser Artikel erschien unter dem Titel „Russia Is Ours“ auf der Inter­net­seite www.ridl.io

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefal­len? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spen­den­tool. Sie unter­stüt­zen damit die publi­zis­ti­sche Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nüt­zig aner­kannt, ent­spre­chend sind Spenden steu­er­lich absetz­bar. Für eine Spen­den­be­schei­ni­gung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­da­ten bitte an finanzen@libmod.de

 

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Mit dem LibMod-News­let­ter erhal­ten Sie regel­mä­ßig Neu­ig­kei­ten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.