Wenn die Vergangenheit kein Vorwort ist
Wenn wir verstehen wollen, wohin sich Russland bewegt, müssen wir uns fragen, warum wir mit unseren früheren Voraussagen immer wieder falsch lagen.
Die Coronakrise hat genug Chaos, Leid und Schwierigkeiten gebracht, sie bietet uns aber auch etwas Wertvolles, nämlich die goldene Gelegenheit nachzudenken. Das Drama, welches sich vor unseren Augen entfaltet, sollte uns Anlass sein, die bequemen Klischees, die aus intellektueller Unbeweglichkeit und Selbstgefälligkeit entstanden sind, in Frage zu stellen. Unsere Wahrnehmung von Russland ist einer der Bereiche, die einen frischen Blick benötigen.
Russlands Anpassungsspiel
Das Schicksal einer Zivilisation wird – folgt man Arnold Toynbees Challange and Response-Hypothese – dadurch bestimmt, wie sie auf aktuelle Herausforderungen reagiert: Entweder organisiert sie sich neu und erfährt neue Energie, oder sie verkümmert. Man kann feststellen, dass das sowjetische System personalisierter Macht an der Bewältigung neuer Herausforderungen scheiterte, was dann zu seiner Auflösung führte. Das sowjetische System hatte in der Tat Schwierigkeiten, sich an neue Realitäten anzupassen, allerdings hätte es noch jahrzehntelang dahinhumpeln können, und wir hätten dieses Konstrukt auch jetzt noch beobachten und kommentieren können, wenn es nicht Gorbatschows Wunsch nach Erneuerung gegeben hätte. Das System erwies sich offensichtlich als nicht reformierbar. Folglich hätte jeder Versuch die Fenster zu öffnen, seinen Zusammenbruch provoziert.
Die Auflösung der Sowjetunion 1991 markierte das Ende einer globalen Mission der russischen Zivilisation. Deren Existenz war in der Sowjetzeit lediglich über ihr Verfallsdatum hinaus verlängert worden, durch die bolschewistische, marxistische Inversion. Der Zusammenbruch des Sowjetregimes war ein betörendes Ereignis; es schuf falsche Hoffnungen, Illusionen und Fehlwahrnehmungen, die sich nicht in den bekannten Konzepten der Transformationforschung unterbringen ließen. Diese nukleare Weltmacht, immerhin einer der Architekten der internationalen Ordnung, ist – als wollte sie Toynbees Voraussage erfüllen, der zufolge „selbstmörderische Staatskunst“ den Schlusspunkt für Zivilisationen bedeutet, die nicht bereit sind sich neu zu erfinden – zu Friedenszeiten und ohne größere innere oder äußere Bedrohungen kollabiert.
Nun ist die postsowjetische Version des russischen Systems unerwartet der Asche entstiegen und stellt Toynbess Theorie auf die Probe. Bis jetzt haben die Herausforderungen, denen dieses System die vergangenen Jahrzehnte gegenüberstand, weder Impulse zur Transformation geliefert, noch es vernichtet. Das postsowjetische System hat eine phänomenale Fähigkeit bewiesen, sich neu zu erfinden, indem der Sowjetstaat fallen gelassen und seine Rolle als Alternative zum Westen verworfen wurde.
Das russische System hat sich in Wirklichkeit besser an die Realitäten nach dem Kalten Krieg angepasst als die liberale Zivilisation. Es war die Existenz der Sowjetunion, die zur Mobilisierung des Westens, zur Stärkung seiner liberalen Identität und seinem globalen Ausgreifen geführt hatte, um den ideologischen Widersacher in Schach zu halten. Nachdem die Sowjetunion die Bühne verlassen hatte, hat es keine Herausforderung gegeben, die einen derart machtvollen Anreiz zu Reformen geschaffen hätte, wie jene durch die UdSSR, selbst die Bedrohung durch den Terrorismus nicht. Das Fehlen eines ernsthaften Herausforderers erlaubte es der Führungsmacht des Westens, den Vereinigten Staaten, in eine Rückzugspolitik abzugleiten. Zurück blieb ein geopolitisches Vakuum.
Gleichzeitig führte das System in Russland jene, die glaubten, es habe die Phase eines finalen Komas erreicht, in die Irre, indem es durch Imitation, mit Fakes, mit alten und ein paar neuen Tricks eine neue „Überlebensmaschine“ schuf. Dieses Konstrukt erweckt zwar mitunter den Eindruck eines chaotisschen „Zombie“-Staats, hat sich aber als recht widerstandsfähig erwiesen. Und es zwingt uns, einige Vorstellungen über politischen Niedergang und Zerfall einer Zivilisation zu überdenken.
Es ist schon frappierend, wie dieses System, das der liberalen Demokratie weiter feindlich gegenübersteht, nichtsdestotrotz westliche finanzielle und technologische Potenziale nutzte, um sich aufzurichten. Andererseits ist dies seit Peter dem Großen über Jahrhunderte hinweg russische Praxis gewesen. Die verstörendste Episode war der westliche Beitrag zum Aufbau der Wirtschaft und des Militärs der UdSSR in den 1930er Jahren.
Heute enthält die russische Taktik des „sowohl mit dem wie auch gegen den Westen“ eine historische Neuerung, nämlich die persönliche Integration der russischen Elite in den Westen. Ist das nicht irrwitzig? Einerseits soll diese Taktik liberale Zivilisation auf Abstand halten, andererseits nutzt sie westliche Ressourcen und dringt in die Gesellschaften des Westens ein um diese von innen zu untergraben.
Allerdings hat die Fragilität des russischen System in den letzten Jahren zugenommen, weil es in selbstgebaute Fallen tappt. Die stärkste Bedrohung besteht darin, dass die jüngsten Maßnahmen zur Reproduktion des Systems jetzt eine seiner zentralen Säulen erodieren lassen: die personalisierte Macht. Das System kann sich nicht, wie noch das kommunistische Regime, auf ideologische Mittel oder massenhafte Repressionen stützen. Das postsowjetische System hat sich durch Wahlen mit garantierten Ergebnissen legitimiert. Mit der Zeit jedoch haben die manipulierten Wahlen die Stabilität des Systems untergraben. Die Bemühungen des Kreml, eine „ewige“ Präsidentschaft Putins zu rechtfertigen, gepaart mit Putins Gesetzesinitiative, die Volksabstimmungen und Wahlen auch per Post oder Internet möglich macht, haben das Prinzip der elektoralen Legitimierung auf den Müll wandern lassen. Allein, es fehlt jetzt ein Ersatz hierfür.
Unter dieser Last bekommt das Rückgrat des personalistischen Systems – Russland Rolle als Großmacht – jetzt Risse. Schwindende Ressourcen und der Widerstand externer Mächte, die nicht gewillt sind, Russlands Einflussbereiche anzuerkennen, haben der Großmachtmission Russlands Grenzen aufgezeigt. Noch wichtiger ist hier, dass die Bevölkerungsmehrheit in Russland begonnen hat, Russlands Rolle als Großmacht eher mit wirtschaftlichem Wohlstand zu verbinden, denn mit militärischer Stärke.
Es gibt eine weitere Falle: Einerseits muss Russland – das nahezu angeboren antimodern ist – die finanziellen und technologischen Ressourcen des Westens in Anspruch nehmen und die Rolle eines Energielieferanten spielen. Andererseits bezeichnet Russland den „kollektiven Westen“ als Feind und versucht ihn zurückzudrängen. Die Krise um die Ukraine hat es für den Kreml schwer gemacht, diese sich widersprechenden Pfade auszubalancieren.
Die systemtragenden Pfeiler dieser russischen Konstruktion personalisierter Macht sind spröde und haben zu Dysfunktionen geführt. Auf jeden Fall sollte jeder, der hofft, das System werde rasch zugrundegehen, sich auf Enttäuschungen einstellen. Es gibt nämlich keine erkennbaren Anzeichen, dass das System das Selbstbegräbnis der Sowjetunion wiederholt. Wahrscheinlicher ist ein anderes Szenario: Ein langes und schmerzhaftes Verrotten, das der Gesellschaft die Energie für eine Revolte nimmt.
Dies bedeutet nicht, dass Russland einen Zerfall des Regimes oder gar des Systems vermeiden kann. Wir können nur vermuten, welche Folgen diese Unterströmungen, die bereits jetzt allmählich die Oberfläche erreichen, letztlich haben werden. Die Krise könnte weltweit Wellen schlagen, und zwar so, dass selbst Russland Widersacher dies vermeiden wollen. Ganz so, wie die Führer des Westens den Zusammenbruch des Sowjetunion zu verhindern versuchten.
Allerdings gibt es einen externen Faktor, der das System auf besondere Weise stützt, nämlich der politische Zerfall der Demokratie und die Krise des eurpäischen normativen Projekts (der EU). Das Fehlen einer robusten Alternative ist für das russische System wie eine Ladung Adrenalin, die dabei hilft, mit der eigenen Verkümmerung zurechtzukommen.
Aus früheren Trugschlüssen lernen
Die Coronakrise zwingt uns zu einem Prognosenspiel. Zukunftsszenarien zu entwickeln ist die natürliche Lieblingsbeschäftigung jener, die – zumindest virtuell – der Isolierung und Ungewissheit des Moments entfliehen wollen. Wenn wir uns aber früherer Trugschlüsse bewusst werden, mit denen wir auf herkömmliche Weise die Vergangenheit und die Gegenwart betrachtet haben, könnten unsere Prognosen sogar realistisch sein.
Ich habe in einem früheren Essay für The American Interest einige der Klischees über Russland diskutiert, die über den Haufen geworfen werden müssen. Es ist frappierend, mit welch sturer Ergebenheit mache an diese Mythen glauben! Etwa die allgegenwärtige Putiniana, also die Versuche, Russland mit Putin gleichzusetzen, Putins Hirn zu durchdringen und seine heimlichsten Gedanken zu erfahren… Wie soll uns das weiterhelfen, die Politik des Kreml oder gesellschaftliche Stimmungen in Russland zu verstehen? Erstens haben wir keinen Zugang zu Quellen, die uns einen Schlüssel zu Putins innersten Gedanken erlaubten. Und zweitens hat sich Putins Führung bereits zu einer Art impotenter Omnipotenz gewandelt, und zwar in einem Maße, dass wir jetzt nach anderen Faktoren als nach Putin suchen müssen, um Russlands Puls zu fühlen. Wir müssen wohl vermuten, dass die Konzentration auf Putin eine mangelnde Expertise über Russland verdeckt, oder dass Analysen dieser Art das populäre Bedürfnis nach Tratsch über Putin bedienen sollen.
Russland wird als ein autoritärer Staat wahrgenommen, der sich in Richtung einer strengeren Herrschaft und einer Diktatur bewegt. Die Reaktionen des Kreml auf die Pandemie haben jedoch gezeigt, dass die Einpersonenherrschaft nicht in der Lage ist, autoritäre Mittel wirksam einzusetzen. Versuche, auf traditionelle Weise auf neue Herausforderungen zu reagieren, bringen eine Dysfunktion des Systems mit sich. Die potenziellen Auswirkungen des autoritären Zerfalls müssen untersucht werden.
Ein weiteres Axiom: „Russlands Status als Großmacht ist der Kern russischer Identität“. In der Tat wäre es ungewöhnlich, wenn Russen ihr Land als normalen Staat betrachten würden. Allerdings müssen wir berücksichtigen, wie sich die Haltungen der Russen zu dem entwickeln, was eine „Großmacht“ ausmacht. Auch verfügt Russland wegen seiner begrenzten Ressourcen nicht über die Kapazitäten, seine Satellitenstaaten ewig im gewünschten Orbit zu halten, selbst wenn es versuchen würde, deren Unterordnung zu erkaufen. Russland hat Jahr für Jahr über 100 Millionen Dollar für die Loylität von Belarus ausgegeben, die anscheinend immer noch nur bedingt ist.
Manchmal erfährt dieses Konstrukt Hilfe von außen. Während Russland nach Wegen sucht, sein Großmacht-„Rückgrat“ zu rechtfertigen, haben prominente US-amerikanische Experten damit begonnen, die Rückkehr zum Format eines Konzerts der Großmächte mit ihren Einflusssphären anzuregen, mit dem sich globale Stabilität herstellen ließe. Eine solche Initiative könnte bedeuten, dass eher externe als interne Impulse dem Kreml helfen, seine Großmachtsidee (zumindest vorübergehend) mit Leben zu füllen.
Gleichzeitig sucht die die russische Elite, die technologisch clever ist, jetzt nach anderen Interpretationen der Großmachtrolle. Darunter ist das Verlangen, dass andere Russlands Recht anerkennen, globale Regeln und internationale Normen zu interpretieren. Dieser Kurs erscheint sehr viel kostensparender, als sich die Loyalität von Satelliten zu kaufen. Der Westen ist um eine Antwort verlegen.
Eine weitere Überlegung wäre, Russland als Garant von Frieden und Souveränität vorzuschlagen, und als Kämpfer gegen „Hegemonie“. Was für eine ironische Wendung für einen Staat, der sich sich in die Spielchen in der Ukraine und in Syrien verstrickt hat, wie auch in andere Versuche, Nachbarstaaten unter dem Daumen zu halten. Auf jeden Fall sind neue Interpretetionen der Großmachtrolle Russlands zu erwarten!
Russland sehnt sich nach der Konfrontation mit dem Westen, meinen die Experten. In Wirklichkeit aber wollen zwei Drittel der Russen eine Partnerschaft mit dem Westen. Das bedeutet, dass die Bevölkerung es müde ist, in einem Kriegs-Paradigma zu leben. Auch ein großer Teil der Elite ist nicht zu einer Konfrontation bereit. Es stimmt, dass der Kreml seine Kriegsrhetorik und eskalativen Erpressungen fortsetzt, weil er keine anderen Mittel zur Konsolidierung zur Verfügung hat. Allerdings ist das eine Politik des Bellens, und nicht des Beißens, eine des jovialen Zwinkerns und Rippenstoßens, die härtere Antworten seiner Widersacher abwenden soll.
Das russische System braucht Militarisierung, um die Bevölkerung zu mobilisieren. Das haben viele von uns bis vor kurzem noch gedacht. In der Tat ist Militarismus nicht nur zu einem nationalen Handwerk geworden (wie einst in Preußen), sondern zu einer Lebensweise: Friedenszeiten sind lediglich eine Ruhephase, um sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten. In moderner Zeit hat es außer Russland (und Nordkorea) kein Land gegeben, das sich als „Kasernenstaat“ organisiert hätte, der die Menschen und deren Alltag streng dem Souverän, dem Oberkommenadierenden unterwirft.
Das Verhalten des Kreml während der Corona-Pandemie demonstriert allerdings, dass die herrschende Klasse nicht weiß, wie sie militaristische Mechanismen einsetzen soll, um mit der aktuellen Herausforderung fertig zu werden. Russland ist in eine Situation geraten, in der es sich vom Militarismus (der Teil seines Gencodes ist) nicht lösen, ihn aber auch nicht weiter verstärken kann, ohne sein ökonomisches Überleben zu gefährden.
Es gibt ein weiteres populäres Narrativ, nämlich über den Triumph der Desinformationskampagne Russlands und seiner Einmischungsversuche im Westen, um diesen dadurch zu schwächen. Gewiss fördert der Kreml im Ausland tätige Propaganda-Agenturen (wie auch Troll-Armeen) und versucht eine Einmischung, wo immer es geht. Doch haben diese Bemühungen wirklich etwas erreicht? War es denn die „Desinformations“-Kampagne und die Einmischung des Kreml, die zur Krise der liberalen Demokratie geführt hat? Wann und wie genau haben die Anstrengungen des Kreml westliche Politik beeinflusst? Wenn die Einmischung Russlands erfolgreich gewesen sein soll, warum hat Moskau den Westen dann nicht dazu bringen können, die Sanktionen aufzuheben? Wenn es begrenzte oder nur örtliche Bereiche gab, in denen die Desinformation erfolgreich war, dann lässt sich dies leicht durch westliche Naivität und Ignoranz erklären, und nicht durch Schläue und Gerissenheit des Kreml.
In Wirklichkeit hat die russische Einmischung das Misstrauen des Westens gegenüber Russland nur verstärkt. In 16 von 33 Ländern, die vom Pew Research Center untersucht wurden, sieht eine Mehrheit Russland negativ. Weltweit sagen nur wenige, dass sie Putin vertrauen. In 22 der untersuchten 33 Länder gab es mehr Menschen, die Putin nicht trauen, als jene, die ihm trauen. In diesen Ländern sagen im Schnitt 60 Prozent der Befragten, sie hätten kein Vertrauen in Putin, wenn es um Weltpolitik geht.
Auch ein anderes Klischee – die Behauptungen von geopolitischen Erfolgen des Kreml – ist für westliche Medien ein beliebtes Thema. Dabei ist es doch so, dass sich Russlands taktische Erfolge zu strategischen Desastern wandeln. Russland hat zwar die Stabilität der Ukraine und deren prowestlichen Kurs untegraben, aber auch die Nation der Ukraine verloren. Russlands Spiel in Syrien half zwar, Assad zu retten und sorgte für eine Rückkehr Russlands in den Nahen und Mittleren Osten. Doch seine Rolle dort beizubehalten, ist eine schwierige Angelegenheit, da die Bevölkerung in Russland dies nicht unterstützt. Ebenso hat Russland Venezuela dazu benutzt, Öl zu bekommen und Washington zu ärgern, versucht jetzt aber, aus der Situation wieder herauszukommen und die USA davon abzuhalten, gegen Rosneft Sanktionen zu verhängen, weil es Deals mit dem Maduro-Regime eingegangen ist. Russlands Engagement in der chaotischen Lage in Libyen, wird keinerlei Dividende bringen. Russlands Galaxie europäischer Satelliten ist ebenfalls in Bewegung, und Belarus ist keck genug, die Pläne des Kreml zur Integration mit Russland abzulehnen. Russland hat Albträume, anstelle einer Allianz auf Augenhöhe Chinas Juniorpartner zu werden. Schließlich wäre da noch die schmachvolle Niderlage des Kreml in seinem „Ölpreiskrieg“ mit Saudi-Arabien, eine Warnung, dass Russlands Rolle als Energie-Weltmacht schwindet. Auf die Weltbühne als Spielverderber zurückzukehren, dürfte Russland kaum den Respekt und das Vertrauen anderer einbringen, nach dem es sich sehnt.
Die Experten werden ihre alten Narrative über die russisch-chinesische Ehe überdenken müssen. Wachsendes Misstrauen gegenüber China und der „kalte Krieg“ der USA mit Peking haben den Kreml zum Nachdenken gezwungen, ob er zu einer weiteren freundlichen Umarmung Chinas bereit ist. Das bedeutet nicht, dass der Kreml sich zusammen mit den Vereinigten Staaten dem Drachen entgegenstellen wird, doch wird eine russische Elite, die intensiv ihr Verhältnis zum Westen normalisieren will, einen Weg finden müssen, Russland nicht zum Juniorpartner Chinas werden zu lassen.
Und nicht zuletzt haben russische wie westliche Experten Russland und die russische Außenpolitik durch das Prisma der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten betrachtet. Dieser Ansatz steht für eine weitere Fantasie. Es stimmt, dass die USA für Russland einen idealen Feind abgeben, gegen den sich Hass schüren lässt. Und sie sind ein idealer Widersacher bei geopolitischen Spielen. Haben aber die USA – lässt man jedoch all den angeblichen Groll beiseite – jemals in der Vergangenheit oder der Gegenwart Russlands eine beträchtliche Rolle gespielt? Sind sie für Russland ein ernstzunehmender Faktor? Nicht wirklich, oder zumindest nicht so sehr wie ein anderer Staat: Deutschland hat nämlich über Jahrhunderte hinweg einen riesigen Einfluss auf Russland gehabt, auch wenn weder Russen noch Deutsche das gern zugeben.
Der „deutsche Faktor“ hat Russland an verschiedenen Punkten seiner Geschichte beeinflusst. Eine der Wegscheiden der russischen Geschichte ist das „Gas-für Röhren“-Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion. Dieses „Jahrhundertabkommen“ wurde 1970 abgeschlossen und hat Russlands Schicksal auf Jahzehnte hinaus besiegelt, indem es der Sowjetunion ermöglichte, sich zu einer Energiemacht zu wandeln. Gleichzeitig machte es Europa von deren Energielieferungen abhängig. Dadurch wurde das Leben eines dysfunktionalen Modells verlängert, von dem sich Russland immer noch nicht befreien kann. Deutschland bleibt der ausschlaggebende Faktor, der entweder mit solchen Energieabkommen dem traditionellen russischen Modell nützen, oder aber dessen Widerstansfähigkeit untergraben kann.
Intellektuelle und Liberale sind dem System dienlich
Es gibt eine Reihe weiterer populärer Wahrnehmungen, die jetzt zum Kernbestand der Mythensammlung über Russland gehören. Eine von ihnen ist der Grund für die Schwärmerei über dieses Land, nämlich der Mythos über Russlands Kultur und die Intelligenzija, die als Beweis für Russlands „europäischen Charakter“ dienen. Die Wahrheit ist hier heimtückisch. Aus einer bitteren Ironie heraus hat es das System geschafft, die Kultur und die Intelligenzija in Russlands für seine Interessen einzuspannen. Die Intelligenzija hat sich ausschließlich auf ethische und moralische Werte konzentriert, aber nie das Thema Rechtsstaatlichkeit unf Transformation angesprochen. Sie hoffte stattdessen, es werde ein gütiger Erlöser kommen, der seinen Untertanen Glück zuteil werden lässt. Der Umstand, dass die Intelligenzija existierte, hat das System nicht untergraben. Im Gegenteil: Sie ließ das System zivilisierter, polierter erscheinen. Das Russlands Tolstois und Dostojewskis konnte unmöglich ein raubtierhafter, archaischer Staat sein, das war einfach undenkbar!
Die Intelligenzija (die es eigentlich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als soziale Gruppe nicht mehr gibt) hat zwischen Regime und Gesellschaft vermittelt und dabei –absichtlich oder nicht – die rebellischen Impulse der letzteren gemildert und sie zu jener ständigen „Ergründung der Seele“ kanalisiert, die zur traditionellen Beschäftigung der Russen wurde (eine weitere „Mystifizierung“ der Russen). Die russischen Experten Lew Gudkow und Boris Dubin schreiben, dass die Intelligenzija „die Bürokratie [war], die zur Reproduktion der totalitären Gesellschaft beigetragen hat […] Es war oft ihr Interesse, ‚die Extreme‘ in dem Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung zu mildern.“ Was für ein hartes – aber zutreffendes – Urteil! Bedeuerlicherweise haben es die intellektuellen Gruppen heute nicht vermocht, Architekten einer politischen Alternative für Russland zu werden.
Was die russische Kultur betrifft, so haben deren „geistige“ Wegweiser stets Richtung Anti-Moderne gezeigt. Sie hat Individualismus und das Private unterdrückt und sie transzendenten und hehren Zielen untergeordnet – mögen diese nun Land und Staat, dem Himmelreich oder dem Kommunismus dienen – und sich zu einer entmodernisierenden Kraft gewandelt, die eine archaische Lebensweise legitimiert. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die russischen Charakteristika, die über Jahrhunderte hinweg die Welt angezogen haben und zu den intellektuellen und künstlerischen Schätzen der Menschheit zählen, lediglich das feine Gewand sind, in das sich einer der despotischsten Staaten der Welt hüllt.
Auch die russischen Liberalen, die von Reformen reden und sich selbst zu Fürsprechern des Westens erklären, während sie gleichzeitig für den Kreml arbeiten, sind den Bedürfnissen des Systems dienlich gewesen. Sie fungieren gleichsam als Ärzte, die die zunehmend schwierige Aufgabe erfüllen, das Leben des Konstrukts durch makroökonomische Stabilität und ein zivilisiertes Image zu verlängern. Diese Funktion macht die russischen „Systemliberalen“ in Wirklichkeit zu einer antiliberalen und antieuropäischen Kraft (man muss gestehen, dass die russischen Liberalen in der Regel „liberale Imperialisten“ waren, die die Vorstellung von einem russischen Nationalstaat ablehnen; sie fürchten den russischen Nationalismus mehr als den russischen Imperialismus).
Auf jeden Fall haben die russischen Liberalen in einem entscheidenden Moment der Geschichte Russlands (nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion) die Transformation des Landes nicht erleichtert. Sie verkörperten die Hoffnung des Landes auf Veränderung, verstanden dies aber eher als Regime- oder Führungswechsel, denn als eine Änderung der Regeln oder der Institutionen. Das half dem Führer, seine Einpersonenherrschaft zu reproduzieren (Selbst wenn sie dies unwissentlich taten, so tragen sie doch die Verantwortung für den Ausgang). Russland kehrte somit zu einem System personifizierter Macht zurück, diesmal in marktfreundlicher Form. Russlands „Systemliberale“ wurden Teil der herrschenden Gruppe, legitimierten die neue Inkarnation des Systems und diskreditierten somit den Liberalismus in Russland.
Sergei Kirijenko, der als Liberaler galt und später stellvertretender Leiter der Präsidialadministration wurde, meinte, dass der alte Liberalismus überholt sei und der neue Liberalismus den Anforderungen der „Generation der Statisten Großmachtverfechter“ folgen müsse. Liberale haben Putin aufgefordert, ein „russischer Pinochet“ zu werden. Anatoli Tschubais verkündete öffentlich die Idee von Russland als einem „liberalen Imperium“.
Pjotr Awen, einst ein führendes Mitglied des Reformer-Teams von Jegor Gaidar (und heute ein Oligarch) hat später eingeräumt: „Die Mission, liberale Reformen umzusetzen, ist sowjetischen Intellektuellen übertragen worden, die persönlich kaum dem Liberalismus nahe standen; sie waren egozentrisch, ohne Respekt für andere Meinungen […] [D]as markanteste Merkmal unserer Reformer [war eine] ganz beträchtliche Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten.“ Ein vernichtendes Geständnis, nicht wahr?
Heute sind die Liberalen in der Regierung und jene Liberalen außerhalb, die sich zur Zusammenarbeit mit dem Kreml bereiterklären, Elemente eines Systems, dass seine Feindschaft gegenüber den zentralen Werten der liberalen Demokratie demonstriert hat. Die Systemliberalen verschaffen dem System zusätzlich Luft und imitieren Entwicklung. Indem sie die personalistische Herrschaft stabilisieren, untergraben sie liberale Prinzipien und führen die liberale Wählerschaft in die Irre. Wenn sie Russland davor bewahren, in eine tiefe Krise zu rutschen, stabilisieren sie damit einen korrupten Ölstaat. Die bittere Ironie ist, dass sie oft mehr zum Überleben des Systems beitragen als die Silowiki, die für die Zwangsmaßnahmen zuständig sind.
Der Umstand, dass Librale im Wirtschafts- und Finanzbereich in der Regierung vertreten sind, wie auch, dass führende Kremlvertreter weiterhin liberale Wirtschaftsparolen verwenden, verhindert, dass ein echter Liberalismus in Russland Fuß fasst. Die Kreml-Liberalen haben geholfen, den russischen Liberalismus zu begraben, wenigsten bis jetzt.
Wir sollten darauf vorbereitet sein, dass inmitten der derzeitigen Corona-Krise neue Trugschlüsse aufkommen können. Um das zu verhindern, müssen wir verstehen, wie wir die Vergangenheit missverstanden haben. Die Zeit für eine Wiedergutmachung ist gekommen. Wir alle müssen uns ein wenig Asche aufs Haupt streuen und zu den Illusionen stehen, die wir geschaffen haben.
Dieser Artikel ist am 8. Juni 2020 bei The National Interest erschienen. Übersetzung aus dem Englischen von Hartmut Schröder
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