Frankreichs spätes Erwachen
Es ist schon für französische Experten schwer, die Positionen der eigenen Regierung zu verstehen. Für Ausländer ist es erst recht rätselhaft. Wegen der Unwägbarkeiten des Jahres 2020 hat es aber Revidierungen und Änderungen der Zielsetzung gegeben, schreibt die Pariser Professorin und Russland-Expertin Marie Mendras.
Nach seinem ambitionierten Start 2017 ist Emmanuel Macron schnell auf einen traditionellen Kurs französischer Präsidenten zurückgeschwenkt: eine Nationalmacht-Strategie mit ein bisschen “Souverainisme” und “Européanisme”. Ich verwende hier die französischen Begriffe, weil sie die politischen Assoziationen im „historisch korrekten“ Denken meines Landes besonders gut wiedergeben. Komischerweise dominiert ja Geschichte die Geopolitik, die ja oft nur ein romantisches Narrativ im Dienst der Realpolitik ist. Und in diesem Schema spielt Russland eine zentrale Rolle.
Frankreichs Ambivalenz gegenüber Moskau
Die französischen Eliten hatten schon immer eine Schwäche für imperial Geschichte, große Staaten, starke Führer militärische Stärke und nationales “rayonnement”, d.h. die Ausstrahlung der französischen Sprache, Kultur, mode de vie und etatistische Traditionen. Diese aristokratischen Züge können manchmal den Blick auf die banalen Realitäten und Empfindlichkeiten trüben. Auch existiert weiterhin ein unterschwelliges Misstrauen gegenüber den Absichten der Vereinigten Staaten und des liberalen amerikanisch-britischen Konzepts „der Westen“.
Seit dem Zweiten Weltkrieg haben französische Präsidenten ihr Land in einer Mittellage zwischen Ost und West gesehen, als eine ausgleichende Kraft zwischen zwei Supermächten. Die europäische Gemeinschaft war mehr akzeptiert als die NATO. In den 1960ern und 1970ern hat Moskau dieses Spiel mitgespielt, weil es einen Keil zwischen die transatlantischen Alliierten trieb.
Es hat ein wenig gedauert bis französische Politiker eingesehen haben, dass Frankreich eine Mittelmacht geworden ist, die eng mit den anderen europäischen Staaten zusammenarbeiten muss. Die russischen Interventionen auf der Krim und im Donbas haben Frankreich dazu gebracht, Moskaus toxische Rolle in den ehemaligen Sowjetrepubliken anzuerkennen. In Paris hat man nun endlich verstanden, dass die Sicherheit in Osteuropa nicht dem Kreml anvertraut werden darf und dass die EU und die NATO Verantwortung übernehmen müssen, um Demokratie und staatliche Souveränität in der Ukraine, Belarus, Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan zu stützen.
Seit dem Machtwechsel in Armenien 2018 und dem möglicherweise unmittelbar bevorstehenden Sturz Lukaschenkas in Belarus gibt es in diesen Ländern für den Kreml nur noch einen – noch dazu schwierigen – Autokraten in Aserbaidschan. Das EU-Programm der Östlichen Partnerschaft hat sich hier als sehr nützlich erwiesen. Trotzdem gibt es in Frankreich nach wie vor viele Kommentatoren, welche die Existenz einer ukrainischen oder belarusischen Nation anzweifeln. Schuld daran sind nicht nur überkommene Klischees, sondern auch russische Propaganda, die in französischsprachigen Medien und sozialen Netzwerken aktiv verbreitet wird.
Macrons Reset mit Russland: Gemischte Bilanz
Anfang 2019 hat der französische Präsident erstmals Putin die Hand ausgestreckt. Nach den monatelangen Protesten der Gelbwesten-Bewegung und wachsender Unzufriedenheit im Inland hatte man im Elysee beschlossen, sich auf europäische Wahlen und internationale Beziehungen zu konzentrieren. Der G7-Gipfel in Biarritz im August bot dazu eine geeignete Platform. Vor dem Gipfel, der wegen Moskaus G8-Ausschluss ohne Russland stattfand, lud Macron Putin in seine Sommerresidenz nach Bregancon ein, um Fortschritte bei den Friedensbemühungen für die Ostukraine zu erreichen. Macron erwähnte unangenehme Themen wie die Unterdrückung von Opposition und Zivilgesellschaft vor den anstehenden Regionalwahlen, aber Putin behielt die Oberhand. Der Gipfel des Normandie-Formats am 9. Dezember 2019 brachte außer eines zweiten Gefangenenaustauschs keine greifbaren Ergebnisse.
Natürlich ist es gut, einen Dialog mit Moskau aufrecht zu erhalten, gerade wenn sich die Beziehungen verschlechtern und es um Krieg und Frieden geht. Seit der Krim-Annexion, der russischen Militär-Intervention im Donbas und den EU-Sanktionen geht es um viel. Das Normandie-Format aus Frankreich, Deutschland Russland und der Ukraine, das im EU-Auftrag von Macrons Vorgänger Francois Hollande und Angela Merkel initiiert wurde, ist nach wie vor der wichtigste Verhandlungsplatz.
Die Schwäche von Macrons „Reset“ liegt in seiner Methode und in seiner Aussichtslosigkeit. Solange Putin jeglichen Kompromiss in der Ostukraine verweigert und einen friedlichen Regierungswechsel in Belarus verhindert, sind die französischen Bemühungen zum Scheitern verurteilt. Seit 2015 versuchte Paris zudem, Putin für eine Verhandlungslösung mit dem Westen in Syrien zu gewinnen, nachdem von dort stammende islamistische Terroristen in Frankreich Anschläge verübt hatten. Das Ergebnis ist hinlänglich bekannt.
2020. Belarus als Herausforderung
Im Sommer 2020 haben die Coronavirus-Pandemie, die weltweite Wirtschaftskrise, Putins „Plebiszit“ um ewig an der Macht zu bleiben sowie die historischen Ereignisse in Belarus Macrons Taktik schwer beeinträchtigt. Derzeit wird sie im Hintergrund neu justiert. Emmanuel Macron ist pragmatisch und weiß, dass seine Wiederwahl mehr von einer schnellen Erholung und stabilen Verhältnissen innerhalb Europas als von riskanten geopolitischen Manövern abhängt
Es war eine glückliche Fügung, dass Merkel und Macron am 20. August gerade zusammen in Bregancon waren, als sie von der Vergiftung Alexei Nawalnys hörten. So konnten die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident mit einer Stimme den Anschlag auf den russischen Oppositionsführer verurteilen und eine umfassende Aufklärung verlangen. Beide machten sich auch für eine Neuwahl in Belarus stark forderten den Abtritt von Lukaschenka. Macron berichtete auf der Pressekonferenz in Bregancon, dass Putin sich ihm gegenüber aufgeschlossen für eine OSZE-Vermittlung gezeigt habe, dass aber Lukaschenka davon nicht begeistert sei.
Wenige Tage später erklärte der russische Präsident öffentlich, dass seine Sicherheitskräfte bereitstünden, um das belarusische Regime zu stützen. Für Macron ein klares Signal, dass ihm sein Vertrauensvorschuss für Putin nichts gebracht hat. Sein geplanter Besuch in Moskau wird wohl verschoben, der „Moskauer Reset“ ist auf Eis gelegt.
Seit dem Krieg in Georgien 2008 glaubten französische Regierungen, dass Moskau eine konstruktive Rolle bei der Schaffung von gemeinsamer Sicherheit in Europa spielen könne. Nun muss Paris einsehen, dass Russland Probleme schafft statt Lösungen anzubieten. Macrons beste Option ist es jetzt, europäische Potentiale zu stärken, das Tandem mit Berlin zu neu zu beleben und mehr auf die EU sowie NATO zu setzen, vor allem angesichts der Aussichten auf einen demokratischen US-Präsident.
Die russische Führung befindet sich angesichts der andauernden demokratischen Proteste sowohl im eigenen Land (Chabarowsk) als auch in Belarus klar in der Defensive. Sollte die russische Opposition bei den Regionalwahlen am 13. September Zugewinne verzeichnen und das Regime in Belarus zusammenbrechen, könnte das für Moskau einen empfindlichen Autoritätsverlust bedeuten.
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