Experten: Landesverrats-Verfahren kann in Russland jeden treffen
Die herrschende Atmosphäre aus wachsender Geheimhaltung macht die Arbeit der Medien und zivilgesellschaftlicher Strukturen in Russland noch schwerer; zu diesem Schluss kamen die Teilnehmer einer Online-Diskussion des Zentrums Liberale Moderne und des Moskauer Sacharow-Zentrums.
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Mehr InformationenFür die russische Version unserer online-Diskussion vom 19. November aus dem YouTube-Kanal des Sacharow-Zentrums klicken Sie auf den Link rechts.
Von Marina Baranowskaja, Deutsche Welle
Zentrales Thema der Diskussion „Geheimnisstaat: Einschränkungen der Informationsfreiheit und „Spionomanie“ in Russland“ waren stärkere Beschränkungen des Zugangs zu gesellschaftlich relevanten Informationen und erschwerte Arbeits- und Lebensbedingungen für diejenigen, die beruflich mit solchen Informationen zu tun haben.
Behörden fehlt Verständnis für gesellschaftlich relevante Informationen
Zu Bginn der vom Deutsche-Welle-Journalisten Mikhail Bushuev moderierten Diskussion erläuterte der Leiter des Sacharow-Zentrums Sergej Lukaschewski eine Besonderheit, die Russland von funktionierenden Demokratien unterscheidet: Zwar gebe es das Konzept des Staatsgeheimnisses auch in anderen Ländern, doch hätten die russischen Behörden „keinerlei Vorstellung davon, dass gesellschaftlich relevante Informationen für die Gesellschaft zugänglich sein müssen, auch wenn sie zu einer bestimmten Zeit Verschlusssache gewesen waren“.
Die Regierung versuche, die Verbreitung aller Informationen zu verhindern, die sie für sensibel hält, wobei die Grenzen des „Sensiblen“ maximal ausgedehnt würden, meinte Lukaschewski. Dies erkläre auch die Zunahme von Strafverfahren wegen Spionage und Landesverrat.
Anwalt: Iwan Safronows Fall ist einmalig
Eines der markantesten Beispiele hierfür ist das Verfahren gegen Iwan Safronow. Der ehemalige Journalist der Zeitungen „Kommersant“ und „Wedomosti“ wurde im Juli 2020 wegen Landesverrats angeklagt und sitzt seither im Moskauer Untersuchungsgefängnis Lefortowo.
Russische Ermittler werfen Safronow vor, Informationen über Russlands militärische Zusammenarbeit mit afrikanischen Staaten und über russische Operationen im Nahen Osten an den tschechischen Geheimdienst übergeben zu haben.
Safronows Anwalt Iwan Pawlow bezeichnet das Verfahren gegen seinen Mandanten als einmalig: Die Ermittler hätten dem Gericht keinerlei Indizien oder Beweise vorgelegt, die eine Schuld Safranows bestätigten. Eigentlich müsse der Beschuldigte also wegen Mangels an Beweisen freigelassen werden – das Gericht gab jedoch dem Haftantrag der Ermittler statt.
Am 30. November verlängerte ein Moskauer Gericht Safronows Untersuchungshaft bis 7. März.
Pawlow zufolge hat der Fall Safronow gezeigt, dass die russischen Behörden mittlerweile nicht mehr vor der Verfolgung von Journalisten zurückschrecken – immerhin eine der stärksten Berufsstände Russlands.
Angesichts der Atmosphäre verstärkter Geheimhaltung und dem Bestreben der russischen Regierung, dies in der Gesellschaft zu verankern, seien Medienvertreter aber nicht die einzige Risikogruppe, erklärte der Anwalt.
Die Gefahr, einem Strafverfahren wegen Landesverrats ausgesetzt zu sein, bestehe für alle, die beruflich oder aus anderen Gründen mit Informationsquellen und Datenbanken arbeiten, warnte Pawlow. Derartige Beschuldigungen könnten mit großer Wahrscheinlichkeit auch Menschen treffen, die Kontakt mit Ausländern haben. Der jüngste Gesetzentwurf, mit dem auch Enzelpersonen zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden können, dürfte diese Gefahr erhöhen.
Risiko schon beim Umgang mit öffentlich zugänglichen Informationen
Nicht nur Personen, die beruflich mit sensiblen Informationen zu tun haben, sondern jeder Einwohner der Russischen Föderation, der offen zugängliche Daten nutzt, könne in eine schwierige rechtliche Lage geraten, sagte die Gründerin der russischen Sektion von Transparency International, Jelena Panfilowa. Als Beispiel nannte sie die Situation, in die ihre Organisation im Zusammenhang mit dem Projekt declarator.org geriet.
„Declarator“ sammelt und archiviert die Einkommenerklärungen aller russischenr Amtsträger. Ende September verlangte die Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor, dass Informationen über Einkommensverhältnisse von Mitarbeitern der Firma Dom.rf, die vergünstigte staatliche Hypotheken gewährt, aus dem Portal entfernt werden.
Obwohl die Daten aus offenen Quellen stammen, verhängte ein Gericht eine Geldstrafe gegen das Projektteam, weil es sich geweigert hatte, die Angaben zu entfernen. „Wir sind jetzt in einer Phase angekommen, in der jeder für die Veröffentlichung von offen zugänglichen und nicht geheimen Informationen mit Bußgeldern bestraft oder verfolgt werden kann. Das ist eine sehr beunruhigende Entwicklung“, konstatierte Panfilowa.
Internationale Unterstützung wichtig
Angesichts der Bedingungen, die jetzt im russischen Rechtssystem herrschen, ist für die Zivilgesellschaft die Unterstützung internationaler Institutionen wie der Europarat und der Europäische Menschenrechtsgerichtshof sehr wichtig, wie sämtliche Diskussionsteilnehmer betonten. Pawlow, der auch Leiter der Menschenrechtsorganisation Komanda 29 ist, bezeichnete sie als „bremsende Elemente und Barrieren, die die russischen Behörden daran hindern, in einen Zustand völliger Willkür und einer schweren Form von paranoider Spionomanie abzugleiten“, und als „eine Chance, dass Gerechtigkeit obsiegt“. Der Menschenrechtsexperte Lukaschewskij verwies auf die Bedeutung von Russlands Mitgliedschaft im Europarat – sie erlaube den russischen Aktivisten, sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention zu stützen. Das bedeute „für die gesamte russische Zivilgesellschaft eine sehr wichtige moralische Berufungsmöglichkeit“, erklärte er. Die Transparency-Expertin Panfilowa ergänzte, dass die europäischen Rechtsinstitutionen und Monitoring-Mechanismen „die russische Gesetzgebung vernünftiger und richtiger machen – auch wenn das sehr langsam geschieht“.
Dieser Artikel ist zuerst bei der Deutschen Welle auf Russisch erschienen. Übersetzung ins Deutsche von Hartmut Schröder.
Die Veranstaltung fand im Rahmen des Projekts „Deutsch-Russische-Gespräche zur digitalen Zivilgesellschaft“ statt.
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