Entspannung und Containment: Eine Ostpolitik 2.0?
Einige Thesen für die Podiumsdiskussion „Russland und der Westen: Brauchen wir eine neue Ostpolitik?“ am 17. Januar 2019.
Die Entwicklung einer Ostpolitik 2.0, die als zukünftiger Rahmen für Europas Umgang mit Russland dienen könnte, ist in ihrer Bedeutung und äußersten Dringlichkeit kaum zu überschätzen. Das größte Problem besteht dabei jedoch in dem Umstand, dass das heutige Russland zwar nicht mehr die Sowjetunion der Siebzigerjahre ist, aber oft in gleicher Weise zu handeln versucht, wie seinerzeit die UdSSR. Daher sind sogar historische Strategien wie Entspannungspolitik oder Containment nicht mehr in vollem Umfang relevant; einige Lehren aus der Zeit des Kalten Krieges sollten allerdings unbedingt gezogen und angewandt werden. Bevor man sich diesen zuwendet, sollte man sich auf drei Aspekte konzentrieren, durch die sich die Situation heute von der damals unterscheidet, als Verfechter der Entspannungspolitik jenen gegenüberstanden, die beharrlichen und harten Widerstand gegen sowjetisches Vorgehen favorisierten.
Erstens war die klassische Ostpolitik darauf ausgerichtet, eine gesamteuropäische Ordnung zu schaffen, wobei fest davon ausgegangen wurde, dass die UdSSR und ihre Verbündeten ein Teil Europas sind (was nicht nur deshalb zutraf, weil der Ort, an dem wir uns hier zusammengefunden haben, in der Mitte Europas liegt und sich seinerzeit unter fester sowjetischer Kontrolle befand, sondern auch, weil die UdSSR von europäischer kommunistischer Ideologie angetrieben wurde). Heute kann Putins Russland kaum als ein europäischer Staat betrachtet werden, zum einen, weil der Kreml selbst offen behauptet, dass Russland eine unikale Zivilisation darstelle, die auf anderen, abweichenden Prinzipien beruhe als die europäischen Kulturen. Dann, weil Russlands Grenzen nun über anderthalbtausend Kilometer weiter östlich liegen als noch vor 40 Jahren. Und überhaupt erinnert das Putinland von heute im Vergleich zu Europa an das Moskowien des 17. Jahrhunderts, und zwar in fast jeder möglichen Hinsicht, weit mehr, als man sich bei einem Gespräch über Russland denken mag. Daher würde ich sagen, dass heute schon die Idee vom Aufbau einer gesamteuropäischen Ordnung absurd anmutet und nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden sollte.
Die Fähigkeiten der russischen Wirtschaft und der Streitkräfte sind gering
Zweitens stellt Russland heutzutage aus einer Vielzahl von Gründen keine existenzielle Bedrohung für Europa dar. Die Ideologie des Landes, die auf imperialem „Russischsein“ fußt, ist in keiner Weise universalistisch und kann die europäischen Werte nicht gefährden. (Natürlich erscheint Moskau derzeit wie das Zentrum einer „nationalistischen Internationale“, doch würde ich einwenden, dass ein solches Konstrukt schlichtweg irrational anmutet: Man kann zwar in verschiedenen Ländern regionale Nationalismen entfachen, doch diese zu einer einzigen Bewegung zu konsolidieren, ginge weit über jemandes Möglichkeiten hinaus.) Die Fähigkeiten der russischen Wirtschaft und der konventionellen Streitkräfte des Landes sind sehr viel geringer als es die der Sowjetunion einst waren. Zudem verfügen gleichzeitig viel mehr Russen über gesonderte Interessen in Europa (Bankkonten, Immobilien, Aufenthaltstitel etc.), was ihr Land im Vergleich zur Sowjetunion vor Jahrzehnten für den Westen weniger gefährlich macht. Der Unterschied zwischen heute und damals besteht darin, dass die Europäer jetzt den russischen Einfluss, den der Kreml in ihren Ländern ausweitet, einfach nicht beschneiden wollen, während sie damals nicht in der Lage waren, die reale Bedrohung zu beseitigen, die die Sowjetunion für die westliche Welt darstellte.
Drittens hat sich die Geopolitik der europäisch-russischen Konfrontation gegenüber dem Bild in den Siebzigerjahren dramatisch gewandelt. Und das liegt nicht nur – oder gar eher weniger – an der „Frontverschiebung“ Richtung Osten, sondern vielmehr an der Existenz völlig neuer politischer Gebilde, die nun als Cordon Sanitaire zwischen Russland und Europa fungieren könnten. Diese neuen unabhängigen Staaten sind nicht gewillt, von Russland als Einflusssphäre behandelt zu werden – selbst Belarus nicht, wie man jetzt beobachten kann. Und sie sollten in dieser Hinsicht ernstgenommen werden. Als die Sowjetunion zusammenbrach, hat Russland nicht nur Verbündete verloren, sondern auch einen Teil von sich selbst, wie Herr Putin glaubt. Und daher sollten Russlands Übergriffe auf die Ukraine, oder auf Georgien, oder auf Moldau, die sich bis in die Neunzigerjahre zurückverfolgen lassen, nicht als ein versuchter Angriff auf die europäische Ordnung betrachtet werden, sondern vielmehr als Folge eines verschleppten Schmerzes, der seit den ersten postsowjetischen Jahren besteht. Die Europäer müssen diese Vorstöße ernst nehmen, allerdings keineswegs so ernst wie das sowjetische Vorgehen in der Zeit des Kalten Krieges.
Auf Grund des oben Gesagten bin ich der Ansicht, dass eine Ostpolitik 2.0 wie ein „Kalter Krieg light“ aussehen sollte und Praktiken enthalten sollte, wie sie in der Entspannungs- und Containment-Politik der Siebzigerjahre üblich waren. Allerdings sollten sie in beiden Bereichen weniger grob ausfallen; ich würde sogar behaupten, dass sie heute weniger unvereinbar sind als damals und daher sogar gleichzeitig eingesetzt werden könnten.
Eine gelenkte Wirtschaft kann sich nicht weiterentwickeln
Betrachten wir nun zunächst die Ideologie der Entspannungspolitik. Ich würde behaupten, dass der Kern dieses Ansatzes ist, den Status Quo zu bewahren – hinsichtlich einer Fortführung der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland und einer Entwicklung der Beziehungen zwischen Menschen und zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Russland und Europa. Der Kreml will heute die Sicherheit haben, dass der Westen kein Ölembargo gegen Russland verhängt, keine Vermögenswerte russischer Firmen in westlichen Banken sperrt, seine Zusammenarbeit mit Russland bei der Öl- und Gasförderung fortsetzt sowie weiterhin Hightech-Erzeugnisse liefert, die Russland nicht herzustellen vermag. Die wichtigste Erkenntnis, die die Europäer aus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen dem Westen und der UdSSR während des Kalten Krieges gewinnen sollten, ist die, dass sich eine bürokratisch gelenkte Wirtschaft nicht weiterentwickeln kann, selbst dann nicht, wenn eine Zusammenarbeit mit der Außenwelt besteht.
Der jüngste wirtschaftliche Abschwung in Russland begann nicht 2014 oder 2015, sondern bereits 2013, als der Ölpreis bei über 100 US-Dollar pro Barrel lag und keinerlei Sanktionen in Sicht waren. Putins Wirtschaftspolitik wird Russland zugrunde richten, ganz gleich, wie intensiv die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und Russland sich gestalten. Europa kann nicht – und sollte nicht – Russlands Pfad ändern, der zu dem gleichen Punkt führt, an dem die Sowjetunion vor dreißig Jahren anlangte. Wenn die Russen beispielsweise die Gaspipeline Nord Stream 2 bauen wollen, und wenn die Deutschen glauben, das wäre ein guter Deal für die deutsche Wirtschaft, dann sollte das Projekt genehmigt werden, ganz einfach, weil es der russischen Wirtschaft nicht helfen wird, länger zu überleben. Und auch, weil Europa nicht verpflichtet ist, sich um die Ukrainer zu kümmern, die jahrelang nicht darauf geachtet haben, dass sich ihre Wirtschaft auf eine Weise entwickelt, sodass sich die Steuereinnahmen erhöhen (das könnte nämlich die Gelder ersetzen, die Russland für den Gastransit zahlt). Ich sehe keinen Grund, als Teil einer Ostpolitik 2.0‑Strategie die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland zurückzufahren, doch finde ich nicht, dass sich Europa von dem Gedanken blenden lassen sollte, dass eine solche Zusammenarbeit Russland näher an Europa rückt, ganz zu schweigen von der Schaffung einer gesamteuropäischenOrdnung.
Ein anderer Teil der Strategie sollte sich um Taktiken der Abschreckung gruppieren. Die kremlfreundlichen Experten argumentieren, dass es in unserer Welt nicht um Ordnung gehe, und einige glauben, dass sie Recht haben. Ein heutiges Containment in Bezug auf Russland sollte nicht auf die Bewahrung irgendeiner Ordnung abzielen – es sollte vielmehr die Souveränität der europäischen Staaten gewährleisten, jene Souveränität, von der die Führer Russlands selbst so viel sprechen. Zwei Punkte sind hier zentral: Erstens sollte der Westen auf Grundlage von Gegenseitigkeit handeln, etwa in Bezug auf die Verbreitung von Informationen, die Aktivität von ausländischen Agenten in europäischen Staaten usw. Die russische Regierung übt für gewöhnlich starken Druck auf jene aus, die in Russland für europäische Werte eintreten und der Westen sollte darauf antworten, indem russische Propagandaorgane verboten, russische Gelder zur Finanzierung politischer Kampagnen aufgespürt und Aufenthaltstitel von Russen, die Putins Regime verherrlichen, entzogen werden. Es geht dabei nicht um eine Sanktionierung Russlands oder russischer Firmen, die in Russland tätig sind – es geht um die Nichteinmischung von Außenstehenden in europäische Politik.
Zweitens sollte sich der Westen auch um die Souveränität der Ukraine (und Georgiens und auch von Belarus) kümmern. Falls Russland die Souveränität eines Nachbarstaats verletzt, sollte dies eher als ein Angriff auf einen Staat und nicht als Angriff auf eine Ordnung behandelt werden. Die Antwort sollte daher nicht in Sanktionen gegen den Kreml liegen, sondern in massiver wirtschaftlicher und militärischer Hilfe für die jeweils betroffene Nation. Wenn man sich die großen Konflikte aus der Zeit des Kalten Krieges in Erinnerung ruft, war das der übliche Fall – angefangen von Vietnam in den Sechziger- und Siebzigerjahren bis hin zu Afghanistan in den Achtzigerjahren. Wenn die Europäer Russland gegenüber Abschreckung betreiben wollen, sollten sie nicht jene Russen mit Sanktionen bestrafen, die nichts Schlimmes getan haben, während ihre Regierung die Ukraine angriff. Sie sollten aber ihr Möglichstes tun, um der Ukraine dabei zu helfen, jene Russen auszuschalten, die auf ukrainischem Boden einfache ukrainische Soldatinnen und Soldaten töten. Stellvertreterkriege werden stets von denen verloren, die sie begonnen haben. Das ist eine der deutlichsten Lehren des gesamten Kalten Krieges und es lohnt sich, dass man sich heute ihrer erinnert.
Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass eine Ostpolitik 2.0 keine Ostpolitik sein sollte, da es keinen geeinten, integrierten Osten mehr gibt. Es sollte sich vielmehr um eine neue Russlandpolitik handeln, die nicht nur auf die Errichtung eines erweiterten Europa abzielt, sondern auch auf eine Gewährleistung der Sicherheit und eine Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung des engeren Europa. All jene, die wollen, dass eine solche Politik kohärent und wirkungsvoll ist, sollten sich die Geschichte des Kalten Krieges anschauen, eine Geschichte, die uns von recht intensiver wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen großen geopolitischen Rivalen erzählt, von wirksamen Maßnahmen gegen feindliche Propaganda und Nachrichtendienste sowie von Stellvertreterkriegen als effektivstem Mittel der Abschreckung. Alle drei Ansätze sollten überdacht, in einem zukünftigen Vorgehen Russland gegenüber verfolgt und jederzeit in spezieller Kombination eingesetzt werden können. Wenn Europa dies gelingt, kann es zeigen, dass es in der Lage ist, eine schwierige Lehre aus seiner jüngeren Geschichte zu ziehen.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.