Ent­span­nung und Con­tain­ment: Eine Ost­po­li­tik 2.0?

© Scapler [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], from Wiki­me­dia Commons

Einige Thesen für die Podi­ums­dis­kus­sion „Russ­land und der Westen: Brau­chen wir eine neue Ost­po­li­tik?“ am 17. Januar 2019.

Die Ent­wick­lung einer Ost­po­li­tik 2.0, die als zukünf­ti­ger Rahmen für Europas Umgang mit Russ­land dienen könnte, ist in ihrer Bedeu­tung und äußers­ten Dring­lich­keit kaum zu über­schät­zen. Das größte Problem besteht dabei jedoch in dem Umstand, dass das heutige Russ­land zwar nicht mehr die Sowjet­union der Sieb­zi­ger­jahre ist, aber oft in glei­cher Weise zu handeln ver­sucht, wie sei­ner­zeit die UdSSR. Daher sind sogar his­to­ri­sche Stra­te­gien wie Ent­span­nungs­po­li­tik oder Con­tain­ment nicht mehr in vollem Umfang rele­vant; einige Lehren aus der Zeit des Kalten Krieges sollten aller­dings unbe­dingt gezogen und ange­wandt werden. Bevor man sich diesen zuwen­det, sollte man sich auf drei Aspekte kon­zen­trie­ren, durch die sich die Situa­tion heute von der damals unter­schei­det, als Ver­fech­ter der Ent­span­nungs­po­li­tik jenen gegen­über­stan­den, die beharr­li­chen und harten Wider­stand gegen sowje­ti­sches Vor­ge­hen favorisierten. 

Portrait von Vladislav Inozemtsev

Vla­dis­lav Ino­zemt­sev ist Ökonom und Gründer des „Zen­trums für post­in­dus­tri­elle Studien“ in Moskau.

Erstens war die klas­si­sche Ost­po­li­tik darauf aus­ge­rich­tet, eine gesamt­eu­ro­päi­sche Ordnung zu schaf­fen, wobei fest davon aus­ge­gan­gen wurde, dass die UdSSR und ihre Ver­bün­de­ten ein Teil Europas sind (was nicht nur deshalb zutraf, weil der Ort, an dem wir uns hier zusam­men­ge­fun­den haben, in der Mitte Europas liegt und sich sei­ner­zeit unter fester sowje­ti­scher Kon­trolle befand, sondern auch, weil die UdSSR von euro­päi­scher kom­mu­nis­ti­scher Ideo­lo­gie ange­trie­ben wurde). Heute kann Putins Russ­land kaum als ein euro­päi­scher Staat betrach­tet werden, zum einen, weil der Kreml selbst offen behaup­tet, dass Russ­land eine unikale Zivi­li­sa­tion dar­stelle, die auf anderen, abwei­chen­den Prin­zi­pien beruhe als die euro­päi­schen Kul­tu­ren. Dann, weil Russ­lands Grenzen nun über andert­halb­tau­send Kilo­me­ter weiter östlich liegen als noch vor 40 Jahren. Und über­haupt erin­nert das Putin­land von heute im Ver­gleich zu Europa an das Mos­ko­wien des 17. Jahr­hun­derts, und zwar in fast jeder mög­li­chen Hin­sicht, weit mehr, als man sich bei einem Gespräch über Russ­land denken mag. Daher würde ich sagen, dass heute schon die Idee vom Aufbau einer gesamt­eu­ro­päi­schen Ordnung absurd anmutet und nicht ernst­haft in Betracht gezogen werden sollte.

Die Fähig­kei­ten der rus­si­schen Wirt­schaft und der Streit­kräfte sind gering

Zwei­tens stellt Russ­land heut­zu­tage aus einer Viel­zahl von Gründen keine exis­ten­zi­elle Bedro­hung für Europa dar. Die Ideo­lo­gie des Landes, die auf impe­ria­lem „Rus­sisch­sein“ fußt, ist in keiner Weise uni­ver­sa­lis­tisch und kann die euro­päi­schen Werte nicht gefähr­den. (Natür­lich erscheint Moskau derzeit wie das Zentrum einer „natio­na­lis­ti­schen Inter­na­tio­nale“, doch würde ich ein­wen­den, dass ein solches Kon­strukt schlicht­weg irra­tio­nal anmutet: Man kann zwar in ver­schie­de­nen Ländern regio­nale Natio­na­lis­men ent­fa­chen, doch diese zu einer ein­zi­gen Bewe­gung zu kon­so­li­die­ren, ginge weit über jeman­des Mög­lich­kei­ten hinaus.) Die Fähig­kei­ten der rus­si­schen Wirt­schaft und der kon­ven­tio­nel­len Streit­kräfte des Landes sind sehr viel gerin­ger als es die der Sowjet­union einst waren. Zudem ver­fü­gen gleich­zei­tig viel mehr Russen über geson­derte Inter­es­sen in Europa (Bank­kon­ten, Immo­bi­lien, Auf­ent­halts­ti­tel etc.), was ihr Land im Ver­gleich zur Sowjet­union vor Jahr­zehn­ten für den Westen weniger gefähr­lich macht. Der Unter­schied zwi­schen heute und damals besteht darin, dass die Euro­päer jetzt den rus­si­schen Ein­fluss, den der Kreml in ihren Ländern aus­wei­tet, einfach nicht beschnei­den wollen, während sie damals nicht in der Lage waren, die reale Bedro­hung zu besei­ti­gen, die die Sowjet­union für die west­li­che Welt darstellte.

Drit­tens hat sich die Geo­po­li­tik der euro­pä­isch-rus­si­schen Kon­fron­ta­tion gegen­über dem Bild in den Sieb­zi­ger­jah­ren dra­ma­tisch gewan­delt. Und das liegt nicht nur – oder gar eher weniger – an der „Front­ver­schie­bung“ Rich­tung Osten, sondern viel­mehr an der Exis­tenz völlig neuer poli­ti­scher Gebilde, die nun als Cordon Sani­taire zwi­schen Russ­land und Europa fun­gie­ren könnten. Diese neuen unab­hän­gi­gen Staaten sind nicht gewillt, von Russ­land als Ein­fluss­sphäre behan­delt zu werden – selbst Belarus nicht, wie man jetzt beob­ach­ten kann. Und sie sollten in dieser Hin­sicht ernst­ge­nom­men werden. Als die Sowjet­union zusam­men­brach, hat Russ­land nicht nur Ver­bün­dete ver­lo­ren, sondern auch einen Teil von sich selbst, wie Herr Putin glaubt. Und daher sollten Russ­lands Über­griffe auf die Ukraine, oder auf Geor­gien, oder auf Moldau, die sich bis in die Neun­zi­ger­jahre zurück­ver­fol­gen lassen, nicht als ein ver­such­ter Angriff auf die euro­päi­sche Ordnung betrach­tet werden, sondern viel­mehr als Folge eines ver­schlepp­ten Schmer­zes, der seit den ersten post­so­wje­ti­schen Jahren besteht. Die Euro­päer müssen diese Vor­stöße ernst nehmen, aller­dings kei­nes­wegs so ernst wie das sowje­ti­sche Vor­ge­hen in der Zeit des Kalten Krieges.

Auf Grund des oben Gesag­ten bin ich der Ansicht, dass eine Ost­po­li­tik 2.0 wie ein „Kalter Krieg light“ aus­se­hen sollte und Prak­ti­ken ent­hal­ten sollte, wie sie in der Ent­span­nungs- und Con­tain­ment-Politik der Sieb­zi­ger­jahre üblich waren. Aller­dings sollten sie in beiden Berei­chen weniger grob aus­fal­len; ich würde sogar behaup­ten, dass sie heute weniger unver­ein­bar sind als damals und daher sogar gleich­zei­tig ein­ge­setzt werden könnten.

Eine gelenkte Wirt­schaft kann sich nicht weiterentwickeln

Betrach­ten wir nun zunächst die Ideo­lo­gie der Ent­span­nungs­po­li­tik. Ich würde behaup­ten, dass der Kern dieses Ansat­zes ist, den Status Quo zu bewah­ren – hin­sicht­lich einer Fort­füh­rung der Wirt­schafts­be­zie­hun­gen mit Russ­land und einer Ent­wick­lung der Bezie­hun­gen zwi­schen Men­schen und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen aus Russ­land und Europa. Der Kreml will heute die Sicher­heit haben, dass der Westen kein Ölem­bargo gegen Russ­land ver­hängt, keine Ver­mö­gens­werte rus­si­scher Firmen in west­li­chen Banken sperrt, seine Zusam­men­ar­beit mit Russ­land bei der Öl- und Gas­för­de­rung fort­setzt sowie wei­ter­hin High­tech-Erzeug­nisse liefert, die Russ­land nicht her­zu­stel­len vermag. Die wich­tigste Erkennt­nis, die die Euro­päer aus der wirt­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit zwi­schen dem Westen und der UdSSR während des Kalten Krieges gewin­nen sollten, ist die, dass sich eine büro­kra­tisch gelenkte Wirt­schaft nicht wei­ter­ent­wi­ckeln kann, selbst dann nicht, wenn eine Zusam­men­ar­beit mit der Außen­welt besteht.

Der jüngste wirt­schaft­li­che Abschwung in Russ­land begann nicht 2014 oder 2015, sondern bereits 2013, als der Ölpreis bei über 100 US-Dollar pro Barrel lag und kei­ner­lei Sank­tio­nen in Sicht waren. Putins Wirt­schafts­po­li­tik wird Russ­land zugrunde richten, ganz gleich, wie inten­siv die Wirt­schafts­be­zie­hun­gen zwi­schen der EU und Russ­land sich gestal­ten. Europa kann nicht – und sollte nicht – Russ­lands Pfad ändern, der zu dem glei­chen Punkt führt, an dem die Sowjet­union vor dreißig Jahren anlangte. Wenn die Russen bei­spiels­weise die Gas­pipe­line Nord Stream 2 bauen wollen, und wenn die Deut­schen glauben, das wäre ein guter Deal für die deut­sche Wirt­schaft, dann sollte das Projekt geneh­migt werden, ganz einfach, weil es der rus­si­schen Wirt­schaft nicht helfen wird, länger zu über­le­ben. Und auch, weil Europa nicht ver­pflich­tet ist, sich um die Ukrai­ner zu kümmern, die jah­re­lang nicht darauf geach­tet haben, dass sich ihre Wirt­schaft auf eine Weise ent­wi­ckelt, sodass sich die Steu­er­ein­nah­men erhöhen (das könnte nämlich die Gelder erset­zen, die Russ­land für den Gas­tran­sit zahlt). Ich sehe keinen Grund, als Teil einer Ost­po­li­tik 2.0‑Strategie die wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit mit Russ­land zurück­zu­fah­ren, doch finde ich nicht, dass sich Europa von dem Gedan­ken blenden lassen sollte, dass eine solche Zusam­men­ar­beit Russ­land näher an Europa rückt, ganz zu schwei­gen von der Schaf­fung einer gesamteuropäischenOrdnung.

Ein anderer Teil der Stra­te­gie sollte sich um Tak­ti­ken der Abschre­ckung grup­pie­ren. Die kreml­freund­li­chen Exper­ten argu­men­tie­ren, dass es in unserer Welt nicht um Ordnung gehe, und einige glauben, dass sie Recht haben. Ein heu­ti­ges Con­tain­ment in Bezug auf Russ­land sollte nicht auf die Bewah­rung irgend­ei­ner Ordnung abzie­len – es sollte viel­mehr die Sou­ve­rä­ni­tät der euro­päi­schen Staaten gewähr­leis­ten, jene Sou­ve­rä­ni­tät, von der die Führer Russ­lands selbst so viel spre­chen. Zwei Punkte sind hier zentral: Erstens sollte der Westen auf Grund­lage von Gegen­sei­tig­keit handeln, etwa in Bezug auf die Ver­brei­tung von Infor­ma­tio­nen, die Akti­vi­tät von aus­län­di­schen Agenten in euro­päi­schen Staaten usw. Die rus­si­sche Regie­rung übt für gewöhn­lich starken Druck auf jene aus, die in Russ­land für euro­päi­sche Werte ein­tre­ten und der Westen sollte darauf ant­wor­ten, indem rus­si­sche Pro­pa­gan­da­or­gane ver­bo­ten, rus­si­sche Gelder zur Finan­zie­rung poli­ti­scher Kam­pa­gnen auf­ge­spürt und Auf­ent­halts­ti­tel von Russen, die Putins Regime ver­herr­li­chen, ent­zo­gen werden. Es geht dabei nicht um eine Sank­tio­nie­rung Russ­lands oder rus­si­scher Firmen, die in Russ­land tätig sind – es geht um die Nicht­ein­mi­schung von Außen­ste­hen­den in euro­päi­sche Politik.

Zwei­tens sollte sich der Westen auch um die Sou­ve­rä­ni­tät der Ukraine (und Geor­gi­ens und auch von Belarus) kümmern. Falls Russ­land die Sou­ve­rä­ni­tät eines Nach­bar­staats ver­letzt, sollte dies eher als ein Angriff auf einen Staat und nicht als Angriff auf eine Ordnung behan­delt werden. Die Antwort sollte daher nicht in Sank­tio­nen gegen den Kreml liegen, sondern in mas­si­ver wirt­schaft­li­cher und mili­tä­ri­scher Hilfe für die jeweils betrof­fene Nation. Wenn man sich die großen Kon­flikte aus der Zeit des Kalten Krieges in Erin­ne­rung ruft, war das der übliche Fall – ange­fan­gen von Vietnam in den Sech­zi­ger- und Sieb­zi­ger­jah­ren bis hin zu Afgha­ni­stan in den Acht­zi­ger­jah­ren. Wenn die Euro­päer Russ­land gegen­über Abschre­ckung betrei­ben wollen, sollten sie nicht jene Russen mit Sank­tio­nen bestra­fen, die nichts Schlim­mes getan haben, während ihre Regie­rung die Ukraine angriff. Sie sollten aber ihr Mög­lichs­tes tun, um der Ukraine dabei zu helfen, jene Russen aus­zu­schal­ten, die auf ukrai­ni­schem Boden ein­fa­che ukrai­ni­sche Sol­da­tin­nen und Sol­da­ten töten. Stell­ver­tre­ter­kriege werden stets von denen ver­lo­ren, die sie begon­nen haben. Das ist eine der deut­lichs­ten Lehren des gesam­ten Kalten Krieges und es lohnt sich, dass man sich heute ihrer erinnert.

Zusam­men­fas­send möchte ich fest­stel­len, dass eine Ost­po­li­tik 2.0 keine Ost­po­li­tik sein sollte, da es keinen geein­ten, inte­grier­ten Osten mehr gibt. Es sollte sich viel­mehr um eine neue Russ­land­po­li­tik handeln, die nicht nur auf die Errich­tung eines erwei­ter­ten Europa abzielt, sondern auch auf eine Gewähr­leis­tung der Sicher­heit und eine För­de­rung der wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lung des engeren Europa. All jene, die wollen, dass eine solche Politik kohä­rent und wir­kungs­voll ist, sollten sich die Geschichte des Kalten Krieges anschauen, eine Geschichte, die uns von recht inten­si­ver wirt­schaft­li­cher Zusam­men­ar­beit zwi­schen großen geo­po­li­ti­schen Rivalen erzählt, von wirk­sa­men Maß­nah­men gegen feind­li­che Pro­pa­ganda und Nach­rich­ten­dienste sowie von Stell­ver­tre­ter­krie­gen als effek­tivs­tem Mittel der Abschre­ckung. Alle drei Ansätze sollten über­dacht, in einem zukünf­ti­gen Vor­ge­hen Russ­land gegen­über ver­folgt und jeder­zeit in spe­zi­el­ler Kom­bi­na­tion ein­ge­setzt werden können. Wenn Europa dies gelingt, kann es zeigen, dass es in der Lage ist, eine schwie­rige Lehre aus seiner jün­ge­ren Geschichte zu ziehen.

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